Das November-Pogrom von 1938: Der Fall Selma Zwienicki

In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in der Region Bremen fünf Juden ermordet. Unter ihnen eine Fahrradhändlerin aus der Neustadt, die damals 56-jährige Selma Zwienicki. Von „einigen unliebsamen Exzessen“ in Bremen sprach Propagandaminister Goebbels. Doch dem vermeintlichen Erfolg der Gesamtaktion konnte das in seinen Augen nichts anhaben.      

Von der tödlichen Verletzung seiner Mutter hat Benno Zwienicki nichts geahnt. Als die SA-Männer sein Elternhaus in der Neustadt verlassen hatten, fand er sie noch lebend im Schlafzimmer vor. Nur mit einem Morgenkittel bekleidet, lag sie neben dem Bett. Blutspuren waren nirgends zu sehen, nichts deutete auf ihr bevorstehendes Ende hin. Sie war sogar noch bei Bewusstsein, auch wenn sie sich nicht mehr verständlich artikulieren konnte. „Ich habe nur das Wort ‚Arzt’ verstanden“, gab Benno Zwienicki bei seiner Vernehmung zu Protokoll.

Erst als er seine Mutter ins Bett hob, bemerkte er auf ihrem Nachthemd einen Blutflecken. Doch selbst das deutete er nicht als lebensbedrohlich. Vielmehr vermutete der 20-Jährige, sie sei geschlagen worden und habe deshalb Nasenbluten gehabt. Zu diesem Zeitpunkt war seine Mutter noch in der Lage, sich zu bewegen. Offenbar würgte sie, weshalb er ihr einen Nachttopf unter den Mund hielt. Noch etwa zehn Minuten blieb Benno bei seiner Mutter, ihr Kopf ruhte in seinem linken Arm. „Jetzt schlief sie meines Erachtens ein.“

In Wahrheit war seine Mutter nicht zu retten, sie starb an einem Herzschuss. Doch davon erfuhr Benno Zwienicki erst in den Morgenstunden des 10. November 1938 bei seinem Transport zum Polizeihaus, wo er von der Kriminalpolizei zu den nächtlichen Vorgängen vernommen wurde und sogar eine Täterbeschreibung ablieferte. Die fiel ziemlich exakt aus, zahlreiche Details waren in seiner Erinnerung haften geblieben. „Von dem SA-Jackett konnte man die grünen Spiegel sehen.“ Den Mörder seiner Mutter werde er wiedererkennen, versicherte der junge Mann – offenbar im Vertrauen auf die polizeiliche Ermittlungsarbeit.

Der Stolperstein zum Gedenken an Selma Zwienicki an der Ecke Große Sortilienstraße/Hohentorstraße, Blickrichtung stadteinwärts. Links ist der Zaun des Beck's-Lagers zu sehen. Foto: Frank Hethey

Der Stolperstein zum Gedenken an Selma Zwienicki an der Ecke Große Sortilienstraße/Hohentorstraße, Blickrichtung stadteinwärts. Links ist der Zaun des Beck’s-Lagers zu sehen.
Foto: Frank Hethey

Goebbels war zufrieden 

Im Großen und Ganzen war Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels zufrieden mit der „Judenaktion“. Die sei „tadellos verlaufen“, notierte er in seinem Tagebuch. Allerdings nicht überall im Reich. „Nur in Bremen ist es zu einigen unliebsamen Exzessen gekommen“, hielt er zähneknirschend fest. „Aber die tauchen gänzlich unter in der Großaktion.“

Zu den „unliebsamen Exzessen“ gehörten selbstverständlich nicht die Synagogenbrände und Verwüstungen jüdischer Geschäfte. Die waren gewollt und einkalkuliert – als  Ausdruck des „Volkszorns“ über die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch einen jungen Juden in Paris. Doch als Initiator der Ausschreitungen wollte Goebbels unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, ein entfesselter Mob habe sich unter dem Deckmantel „gerechter Empörung“ an jüdischem Eigentum zu schaffen gemacht oder angetroffene Juden wahllos niedergemetzelt.

Der Zwienicki-Stolperstein, Blickrichtung Woltmershausen. Rechts der Zaun des Beck's-Lagers. Foto: Frank Hethey

Der Zwienicki-Stolperstein, Blickrichtung Woltmershausen. Rechts der Zaun des Beck’s-Lagers.
Foto: Frank Hethey

Die Entscheidung, den Tod des Diplomaten zum Anlass für eine „Judenaktion“ zu nehmen, war am späten Abend des 9. November 1938 in München gefallen, wo sich die NS-Parteiführung zur alljährlichen Feier des Hitler-Putsches von 1923 aufhielt. Zwar hatte Hitler eigentlich nur angeordnet, antisemitischen Ausschreitungen keinen Einhalt zu gebieten. Und sogar ein Stillhalten der Partei verfügt.

Doch Goebbels war das nicht genug, er wollte dem „Volkszorn“ eigenmächtig auf die Sprünge helfen. Wohl auch, weil er damals beim Kampf um die Gunst des „Führers“ nicht gerade gute Karten hatte. Eine gelungene Aktion – und alles sähe wieder anders aus. Als sich Hitler schon zurückgezogen hatte, stachelte der Propagandachef mit einer Hetztirade die anwesenden SA-Führer an, in ihrem jeweiligen Machtbereich für Taten zu sorgen. Ein geschickter Schachzug, denn auch die SA stand unter Zugzwang, seit dem Röhm-Putsch von 1934 hatte sie merklich an Prestige verloren. Goebbels’ Worte fielen auf fruchtbaren Boden. „Alles saust gleich an die Telephone“, frohlockte er.

Gab aus München die fatalen Anweisungen: der Regierende Bürgermeister Heinrich Böhmcker. Quelle: Jörn Brinkhus, Die Novemberpogrome 1938 im Land Bremen, Bremen 2013

Gab aus München die fatalen Anweisungen: der Regierende Bürgermeister Heinrich Böhmcker.
Quelle: Jörn Brinkhus, Die Novemberpogrome 1938 im Land Bremen, Bremen 2013

So auch der Regierende Bürgermeister von Bremen, Heinrich Böhmcker, zugleich Führer der SA-Gruppe Nordsee, zu der auch die Bremer SA gehörte. Kurz vor Mitternacht erreichte sein Anruf den Stabsführer der Gruppe im Hauptquartier an der Hollerallee 75, Werner Römpagel. Der genaue Wortlaut von Böhmckers Anweisungen ist nicht erhalten. Doch das spielt keine Rolle, denn es war Römpagels schriftliche Ausarbeitung für die untergeordneten SA-Trupps, die jetzt relevant wurde. Und in der hieß es, sämtliche Juden seien zu entwaffnen. „Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.“

Bei Widerstand sollte geschossen werden

Doch was sollte die merkwürdige Formel vom Widerstand bedeuten? Rechnete man wirklich damit, deutsche Juden würden sich nach Vorbild des jugendlichen Rath-Mörders Herschel Grünspan eine Pistole zulegen? Bei aller Paranoia war kaum anzunehmen, dass man auf eine Vielzahl bewaffneter Juden treffen würde. Und auch nicht, dass mit ernsthaftem Widerstand zu rechnen sei. Tatsächlich erinnert die Formel vom Widerstand an die Wendung, jemand sei „auf der Flucht erschossen“ worden. War davon die Rede, bedeutete das nichts anderes als kaltblütiger Mord. Fabulierten die SA-Führer jetzt von scharfen Reaktionen auf möglichen Widerstand, konnte das von ihren Gefolgsleuten kaum anders aufgefasst werden denn als Aufforderung, mit den Juden kurzen Prozess zu machen.

Damit setzte sich eine fatale Spirale in Gang. Der Mörder von Selma Zwienicki, Obersturmführer Joseph Heike, bekam von seinem Vorgesetzten, Sturmbannführer Horst de Boer, zu hören: „Es ist anzunehmen, daß Widerstand geleistet wird. Der Widerstand ist mit der Waffe zu brechen.“ Als ein SA-Mann ungläubig nachhakte, erhielt er die zynische Antwort, die Juden leisteten auf jeden Fall Widerstand. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt!“

Freifahrtschein für Lynchjustiz

Das war sie, die Formel vom Widerstand als Freifahrtschein für ungezügelte Lynchjustiz. Zwar ging noch in der Nacht der Befehl ein, die festgenommenen Juden in Konzentrationslager zu überweisen, also keinesfalls willkürliche Erschießungen vorzunehmen. Goebbels’ Alleingang fand keineswegs den ungeteilten Beifall der Parteifürsten. Schon gar nicht den von SS-Führer Heinrich Himmler, dem jede Form schlecht organisierter Gewalt zuwider war. Noch in der Nacht wetterte er über die „Hohlköpfigkeit“ des Propagandaministers. Dessen Profilierungseifer gieße Öl ins Feuer so kurz nach der gerade erst beigelegten Sudetenkrise. Doch zu diesem Zeitpunkt war die einmal in Gang gesetzte Maschinerie bereits nicht mehr zu stoppen.

Als rätselhaft gilt bis heute die Auswahl der Opfer. Denn in der Neustadt wohnten zahlreiche Juden. Von „niederträchtigen Motiven persönlicher Art“ ist in der Forschung die Rede. Sicher dürfte immerhin sein, dass Selma Zwienicki eigentlich nicht auf der Todesliste stand. Vielmehr hatten die SA-Schergen ihren Ehemann im Visier, den Fahrradhändler Joseph Zwienicki. Doch der hatte die lärmenden SA-Männer vor seinem Haus an der Ecke Große Sortilienstraße/Hohentorstraße gehört und war geflohen. Seine Familie ließ er zurück: nicht nur seine Frau, sondern auch die beiden Söhne Benno (20) und Alfred (13).

Es war etwa 4.10 Uhr, als drei SA-Männer klingelten und sofortigen Einlass begehrten. Benno öffnete ihnen. „Sie sagten zu mir, dass sie das Haus nach Waffen durchsuchen wollten.“ Unter Bewachung eines SA-Mannes musste er an der Haustür ausharren, während die beiden anderen nach oben zu den Schlafräumen gingen. „Als ich bei der Tür stand, hörte ich meine Mutter schreien.“ Kurz darauf vernahm er abermals ihre Schreie „und gleichzeitig ein Geräusch, als wenn jemand auf den Fußboden fiel“. Einen Schuss hörte er merkwürdigerweise nicht, jedenfalls steht nichts davon im Polizeiprotokoll.

Verärgerte SA-Männer schießen

Offenbar waren die SA-Männer verärgert, nicht den Herrn des Hauses anzutreffen. Als Selma Zwienicki die Frage nach seinem Verbleib nicht beantworten konnte oder wollte, feuerte SA-Mann Heike den tödlichen Schuss ab. Kurz darauf wurde Benno ins Haus geschickt, um seinen Vater zu suchen. Im Schlafzimmer fand er dann seine Mutter mehr oder weniger besinnungslos vor dem Bett. Eigentlich wollte er selbst einen Arzt verständigen, schickte aber auf Bitte seiner Mutter den kleinen Bruder, der die Ereignisse bis dahin verschlafen hatte. „Ich habe meinen Bruder aber nicht wieder gesehen, ein Arzt ist aber ebenfalls nicht erschienen.“

Neben der 56-jährigen Selma Zwienicki wurde in der Neustadt auch Heinrich Rosenblum hinterrücks erschossen, ein Weltkriegsveteran, der sich im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten engagiert hatte. Im Kreis Osterholz fanden drei weitere Juden den Tod, das Ehepaar Dr. Adolph und Martha Goldberg sowie Leopold Sinasohn.

Von insgesamt 17 getöteten Juden im ganzen Reich ging Goebbels aus. Da fiel die Region Bremen mit fünf Todesopfern als Beispiel „unliebsamer Exzesse“ besonders negativ ins Gewicht. Im Nachgang kam es deshalb sogar zu Verfahren gegen einzelne SA-Männer vor dem Obersten Parteigericht der NSDAP, unter anderem gegen den Zwienicki-Mörder Joseph Heike. Doch natürlich ging es nicht um Gerechtigkeit. Der wahre Gegenstand der Untersuchungen war vielmehr die „chaotische Befehlsgebung“ (Herbert Schwarzwälder) auf unterer Ebene, zumal weit mehr Juden ums Leben gekommen waren als Goebbels anfangs angenommen hatte. Heute spricht die Forschung von fast 100 Todesopfern.

Bestraft wurde ein anderer

Das Ergebnis der parteiinternen Ermittlungen: Gerade die „alten Kämpfer“ unter den Zuhörern der Goebbels-Rede in München hätten die Weisung, dass die Partei die antisemitischen Demonstrationen nicht organisieren solle, nur als verklausulierten Befehl aufgefasst, sich nicht erwischen zu lassen. Eine bewährte Strategie aus alten Kampfzeiten: das eine sagen, das andere meinen.

Darum legten die SA-Randalierer vielerorts auch Räuberzivil an. Anders in Bremen, wo sie zumeist völlig ungeniert in Uniform auftraten. Nicht gerade ein Intelligenzbeweis, da sie doch den „gerechten Volkszorn“ verkörpern sollten. Freilich sah das Parteigericht über solchen Übereifer gnädig hinweg. Das Untersuchungsergebnis fiel nachsichtig aus, die Ermittlungen  wurden eingestellt. Das Verdikt: Einzelne SA-Leute hätten die Befehle zwar missverstanden, aber aus echter nationalsozialistischer Überzeugung gehandelt.

Bestraft wurde dafür ein anderer: Benno Zwienicki. Nach seinem Verhör übergab die Kriminalpolizei den jungen Mann der Gestapo. Er wurde in „Schutzhaft“ genommen und sechs Wochen lang im KZ Sachsenhausen festgehalten.

von Frank Hethey

 

Am früheren Wohnort erinnert ein Stolperstein an Selma Zwienicki. Die 56-Jährige wurde in der Pogromnacht des 10. November 1938 von einem SA-Mann ermordet. Foto: Frank Hethey

Am früheren Wohnort erinnert ein Stolperstein an Selma Zwienicki. Die 56-Jährige wurde in der Pogromnacht des 10. November 1938 von einem SA-Mann ermordet.
Foto: Frank Hethey

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

„Erst der Hafen, dann ist die Stadt“

Im Magazin „Erst der Hafen, dann ist die Stadt“ über Bremen und seine Häfen gehen wir in vielen historischen Bildern auf Zeitreise durch die maritime Vergangenheit unserer Hansestadt. Wie entwickelten sich die Häfen in Bremen vom Mittelalter bis heute? Wie sah die Arbeit zwischen Ladeluke, Kaje und Schuppen aus? Was hatte es mit den Anbiethallen auf sich? Und wie veränderte die Containerschifffahrt die Häfen? Wir blicken auf die Gründung der Freihäfen um 1900 und den Strukturwandel rund 100 Jahre später. Wir erzählen von Schmugglern und Zöllnern, von Bremens großen Werften sowie Abenteuern, Sex und Alkohol an der Küste – dem Rotlichtviertel am Hafen.

Jetzt bestellen