Zum Beginn der Eissaison: Die Bremer Eisdynastie Chiamulera / Marco Ferrari setzt die Familientradition im Steintor fort
Fast wie eine Werbeikone wirkt der junge Mann auf dem alten Schwarzweiß-Foto. Mit einem Arm lässig auf das schmiedeeiserne Geländer gestützt, blickt er verträumt in die Ferne. Seine weiße Schürze und der weiße Kittel weisen ihn unverkennbar als Eisverkäufer aus. Freilich einer mit Stil, damals trug man noch Krawatte beim Eislöffeln, die Haare sind exakt gegelt. Der fesche Jüngling ist Bruno Chiamulera, der erst vor drei Jahren hochbetagt verstorbene zweitälteste Sohn des aus Italien stammenden Eisproduzenten Giovanni Chiamulera. In großen Lettern steht der Name über dem Eingang der Verkaufsstelle am Markt und beiderseits davon, was für ein köstliches Gut hier zu haben ist: nämlich Eis.
Die Bremer Eishändlerfamilie Chiamulera ist schon längst Geschichte. Noch in den 1950er Jahren gab es mehrere Filialen in der Innenstadt und dazu noch welche im Steintor, in Gröpelingen und der Neustadt. Doch schon ab den späten 1960er Jahren wurde das Filialnetz ausgedünnt, als letztes schloss der Eissalon an der Ecke Obernstraße/Pieperstraße 1989 seine Pforten.
Nur Marco Ferrari, ein Urenkel des Firmengründers, setzt die Eismachertradition seiner Familie bis heute fort. Allerdings ohne sein Herkommen an die große Glocke zu hängen. Zwar schmückt ein Foto seines Vorfahren die Wand in seinem Eiscafé im Steintor, gibt es in der Speisekarte ein paar Miniaturmotive aus vergangenen Zeiten. Doch das ist auch schon alles. „Viele meiner Gäste kennen noch den Namen Chiamulera“, sagt Ferrari. „Aber sie wissen nichts von der familiären Verbindung.“
Der exotische Name hat in Bremen einen guten Klang
Eigentlich erstaunlich, dass Ferrari so wenig mit diesem Pfund wuchert. Denn der exotische Name hat in Bremen bis heute einen guten Klang. Auch wenn er stets falsch ausgesprochen wurde: als „Tschiamulera“ statt „Kiamulera“. Freilich ging die Familie damit sehr pragmatisch um. Um Missverständnissen vorzubeugen, machte sie sich kurzerhand die norddeutsche Aussprache zu Eigen und meldete sich auch so am Telefon.
Ursprünglich stammen die Chiamuleras aus einem Dorf in den Dolomiten. Noch heute ist das alte Stammhaus in Familienbesitz. Ferraris Eltern verbringen dort viel Zeit, auch er selbst steuert jedes Jahr die alte Heimat an.
„Im Winter sieht man dort lauter deutsche Kennzeichen“, sagt der 45-Jährige. „Und dann weißt du: Das sind alles Leute, die im Eisgeschäft tätig sind.“
Die Dolomiten als Heimat der meisten italienischen Eishersteller in Deutschland. Ein kurioses Phänomen, für das Ferrari keine einleuchtende Erklärung hat. „So ist das eben.“
So war das auch bei seinem Urgroßvater. Der verließ sein ärmliches Heimatdorf gegen Ende des 19. Jahrhunderts, um Arbeit im Ausland zu finden. Anfangs gar nicht einmal als Eisverkäufer, darauf kam Giovanni Chiamulera erst, als er 1902 auf verschlungenen Wegen nach Bremen gelangte. Mit einem Handwagen klapperte er die Straßen ab und pries seine Leckereien an. Gern auch vor den Auswandererhallen in Findorff.
Aus dem Ein-Mann-Unternehmen entwickelte sich schnell ein florierendes Geschäft. Bereits nach wenigen Jahren holte Chiamulera seinen Bruder Amadeo nach, handelten die beiden zusätzlich mit Gemüse, Südfrüchten und Wein. Erstes Personal konnte eingestellt werden, man mietete feste Geschäftsräume an. Darunter als Stammsitz ab 1908 das Souterrain im Gebäude der Raths-Apotheke am Markt. Ganz gewiss keine schlechte Adresse im Herzen Bremens.
Ein erster Dämpfer kam mit dem Ersten Weltkrieg
Ein erster Dämpfer kam mit dem Ersten Weltkrieg. Bereits vor dem Kriegseintritt Italiens 1915 verließen die Brüder Chiamulera die Hansestadt und eröffneten eine Eisdiele in Mailand. Amadeo blieb bis 1925 und machte sich später mit einer Eissalon in Magdeburg selbstständig. Giovanni dagegen zog es bereits 1921 zurück nach Bremen an die Stätte seines früheren geschäftlichen Erfolgs.
Für ihn keine einfache Situation. Nicht nur, weil er zwischenzeitlich seine Frau verloren hatte. Sondern auch, weil sich Chiamulera in den Krisenjahren der Inflation gegen geschäftliche Neider zur Wehr setzen musste. Polizeiliche Schikanen hatte er schon in seinen ersten Jahren erlebt, doch diesmal hatten die Repressalien eine andere Qualität.
Der Italiener sei „geradezu kriminalisiert“ worden, empört sich Daniela Dethmann in ihrer lesenswerten Magisterarbeit über die Familie Chiamulera.
Die einheimische Konkurrenz forderte lautstark seine Ausweisung, beinahe wäre es auch dazu gekommen. Als besonderes Ärgernis galt, dass Chiamulera seine fünf Kinder aus Italien nachholen wollte. „Dem Bremer Staat kann aber nicht zugemutet werden, zu dem unerwünschten Vater auch noch die unerwünschten Kinder hier zu dulden“, hieß es in einer Denkschrift.
Doch Chiamulera setzte alle Hebel in Bewegung, um sein Aufenthaltsrecht zu erstreiten. Neben der italienischen Botschaft schaltete sich sogar das Auswärtige Amt ein, weil es unliebsame Rückwirkungen auf die Behandlung deutscher Staatsbürger in Italien fürchtete. Chiamuleras Hartnäckigkeit zahlte sich aus, der Senat machte 1923 einen Rückzieher und gestattete ihm widerwillig den Aufenthalt in Bremen.
Die Filiale an der Obernstraße als Meilenstein
In den Folgejahren expandierte das Geschäft, ein besonderer Meilenstein war 1935 die Eröffnung der „Eisfabrik“ an der Obernstraße. Zusammen mit seinen drei Söhnen Arrigo, Bruno und Marcello „schmiss“ der damals 57-Jährige den Laden, er stand im Zenit seines Schaffens. So richtig angekommen war er nach heutigen Maßstäben aber nicht, denn trotz seiner Ehe mit einer deutschen Frau kam ihm die Sprache seiner Wahlheimat nur schwer über die Lippen.
Ganz anders bei seinen Söhnen Arrigo und Bruno, die nicht nur die deutsche Sprache perfekt beherrschten, sondern wie der Vater deutsche Frauen heirateten. Gleichwohl bewahrten sie sich zeitlebens eine enge Bindung zur alten Heimat. Auch Marco Ferrari entschied sich für die italienische statt die deutsche Staatsbürgerschaft, als er seine Wahl treffen musste. Als besondere Bevorzugung der Heimat seiner Väter will er das aber nicht verstanden wissen. „Ich bin in Bremen und Italien zu Hause“, sagt er.
Einen eigenen Kopf hatte auch schon sein Urgroßvater. Als die deutschen Juden schon längst diskriminiert wurden, beschäftigte er 1938 noch einen jüdischen Lehrling. Dass er ganz offenbar mit Mussolini sympathisierte, war da kein Widerspruch. Nur zögerlich ahmte Italien die deutsche Rassengesetzgebung nach, in der Bevölkerung fand der Antisemitismus keinen Rückhalt. „Ich bin Faschist, aber kein Nazi“, entgegnete er den deutschen Behörden, „ich bin Italiener, kein Deutscher.“
Der Zweite Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt: die Verkaufsstellen in der Raths-Apotheke und der Obernstraße wurden schwer beschädigt. Da kam es dem Geschäft zugute, dass die Amerikaner die Filiale am Sielwall als „Ice Cream Factory No. 2“ gleichsam zum Hoflieferanten der US-Army machten und alles bereitstellten, was für die Eisproduktion benötigt wurde. Eine Überlebensgarantie in den frühen Nachkriegsjahren, als es praktisch an allem fehlte. Möglich war das nur, weil die Chiamuleras ihre Eismaschinen vergraben hatten. „Sonst wären die mit Sicherheit konfisziert worden“, sagt Ferrari.
Ein eigener Borgward-Lieferwagen kurvte durch Bremen
Als Blütezeit für das Eisgeschäft erwiesen sich die Jahre des „Wirtschaftswunders“. Der Firmengründer erlebte das zwar nicht mehr, er war 1946 in seinem Heimatdorf gestorben. Doch seine Söhne führten den Familienbetrieb erfolgreich fort. Sogar ein eigener Lieferwagen kurvte jetzt durch die Straßen Bremens: ein hellgrauer Borgward Hansa 1500 mit dem Namenszug der Firma in roter Schrift.
Dabei kam den Chiamuleras sicherlich entgegen, dass Italien in den 1950er Jahren als Sehnsuchtsland der Deutschen hoch im Kurs stand: die ersten Vespas knatterten durch die Straßen, als Urlaubsland war Italien erste Wahl. Die Eisdielen wurden modernisiert, Chiamulera-Eis war in aller Munde.
Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich ein Ende des Eisdielenbooms ab. Industriell gefertigtes Eis erschwerte das Geschäft, der Tod des ältesten Chiamulera-Sohns Arrigo 1972 wirkte wie ein düsteres Fanal. Noch im gleichen Jahr übernahm Pietro Ferrari, der Schwiegersohn von Bruno Chiamulera, die Filiale im Steintor und führte sie zusammen mit seiner Frau Esther in Eigenregie fort. Nach und nach schlossen die einzelnen Filialen, zuletzt blieb nur noch der Eissalon an der Obernstraße übrig. Bis die beiden Betreiber Bruno und Marcello Chiamulera den Betrieb im März 1989 aus Altersgründen einstellten.
Fast hätte auch der Eisdiele im Steintor dieses Schicksal gedroht. Denn Marco Ferrari studierte zunächst Jura und erklärte sich zur Übernahme des elterlichen Geschäfts erst bereit, als die Frage der Nachfolge konkret wurde. „Ich bin ein Traditionsmensch“, sagt er. Ein paar Jahre leiteten Vater und Sohn den Betrieb noch gemeinsam, seit 2006 hat Marco Ferrari das alleinige Sagen.
Kann er sich eigentlich vorstellen, zu expandieren und auch auf diese Weise an die Familientradition anzuknüpfen? Anfragen aus der Innenstadt habe er schon gehabt, sagt Ferrari. Doch eine neuerliche Ausweitung kommt für ihn nicht in Frage. „Sie müssen bedenken, nach dem Krieg waren die Chiamuleras zu dritt. Wäre meine Schwester eingestiegen, hätte ich es sofort gemacht.“ Doch weil die sich anders orientierte, wird es wohl bei dem Geschäft im Steintor bleiben.
Ein paar Spuren hat die einstige Eismacherdynastie Chiamulera dennoch hinterlassen. Noch immer glitzert die Messingaufschrift „Eis“ am Eingang des früheren Stammsitzes am Markt. Für den heutigen Betreiber, die Konditorei Stecker, gibt es auch keinen triftigen Grund, sich von den Buchstaben zu trennen. „Der Eisverkauf gehört zum Kerngeschäft des Konditors“, sagt Geschäftsführer Bernard Timphus. „Und weil wir keine Auslagen zeigen können, kommt uns der Hinweis sehr entgegen.“ Einmal ganz abgesehen davon, dass die Aufschrift für ihn auch eine Art Hommage an die Vorgänger bedeutet. „Eine solche Tradition“, sagt Timphus, „muss man sich bewahren.“
von Frank Hethey