Bereits kurz nach dem Krieg schienen die Tage der Langemarckstraße gezählt – nun ein neuer Anlauf
Sonderlich viel Zeit gab Wilhelm Brandt der Langemarckstraße im Februar 1946 nicht mehr. „Nachdem die bisherige Ludendorff-Straße in ‚Bürgermeister-Smidt-Straße‘ umbenannt worden ist, wird demnächst wohl auch die jetzige Langemarckstraße einen anderen Namen erhalten“, lautete seine Prognose in einem Brief an Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD). Sein Vorschlag für die Neubenennung: Bürgermeister-Meier-Straße in Erinnerung an Hermann Henrich Meier, den Mitbegründer des Norddeutschen Lloyd.
Wie man sich täuschen kann – bekanntlich heißt die Langemarckstraße noch immer so. Eigentlich erstaunlich, gehört die 1,4 Kilometer lange Straße in der Neustadt doch zu den wenigen Straßen in Bremen, die ihren Namen in der NS-Zeit bekommen und bis heute behalten haben. Doch nun scheinen die Tage der Langemarckstraße endgültig gezählt zu sein. Nach mehreren gescheiterten Umbenennungsversuchen hat die Georg-Elser-Initiative einen neuen Anlauf unternommen. Der favorisierte Name: Georg-Elser-Allee nach dem Hitler-Attentäter von 1939.
Mit Langemarck ist ein Ort im belgischen Flandern gemeint, korrekt Langemark geschrieben. Sechs Kilometer entfernt starben im Ersten Weltkrieg am 10. November 1914 rund 2000 deutsche Soldaten bei dem vergeblichen Versuch, die festgefahrene Offensive im Westen wieder in Gang zu bringen. Der vielbeschworene Langemarck-Mythos wurde einen Tag später durch ein Kommuniqué der Obersten Heeresleitung geboren. Der Wortlaut: „Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.“
Die Kriegspropagandisten leisteten damit ganze Arbeit. Ähnlich wie im Fall der Schlacht bei Tannenberg im August 1914 diente nicht die tatsächliche Kampfstätte zur Bezeichnung des Geschehens. Statt das Gefecht wahrheitsgemäß bei Bixschote zu verorten, wählte man Langemark und schrieb den Namen mit c. Womöglich, um eine Analogie zu Bismarck herzustellen, den „Eisernen Kanzler“. Als dubios können auch die weiteren Angaben gelten. Denn ob die Soldaten wirklich mit dem Deutschland-Lied auf den Lippen in den Tod zogen, wird schon lange angezweifelt. Es waren auch keineswegs nur junge Regimenter beteiligt.
Doch die Saat ging auf, bereits am ersten Jahrestag war in der Presse von einem „Ehrentag der deutschen Jugend“ die Rede. Langemarck stand seither für jugendlichen Opfersinn, für selbstlose Hingabe bis zum Heldentod. An den kriegsfreiwilligen Studenten und Abiturienten, die damals gefallen waren, sollten sich die nachwachsenden Generationen ein Beispiel nehmen. Seit 1921 gab es alljährliche Langemarck-Feiern am 11. November. Als Sachwalter des Langemarck-Mythos verstanden sich vor allem die bürgerliche Jugendbewegung und nationalistische Studentengruppen, sie machten den jugendlichen Opfertod zu ihrem Thema.
Wenig verwunderlich daher, dass der NS-Studentenbund am 11. November 1937 die Langemarck-Gedenkstunde am Ehrenmal auf der Altmannshöhe veranstaltete. Einen studentischen Bezugspunkt hatte auch die Straßenumbenennung am selben Tag – an Langemarck sollte jene Straße erinnern, an der das damalige Technikum lag, die heutige Hochschule Bremen. Die Umbenennung ging nach Angabe des Projekts „Spurensuche“ auf eine Initiative des Reichsstudentenführers zurück. Eine naheliegende Entscheidung auch deshalb, weil bereits 1934 das inzwischen umgestürzte Ehrenmal vor den Toren des Technikums errichtet worden war. Der „Geist von Langemarck“ materialisierte sich also keineswegs zufällig in der Neustadt.
Umso spannender ist die Frage, warum eine Straße mit einem derart kompromittierenden, auch noch im Dritten Reich vergebenen Namen nicht schon längst umbenannt wurde. Dass eine Umbenennung bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Luft lag, zeigt das Brandt-Schreiben von 1946. Zu diesem Zeitpunkt hatten etliche Straßen ihren Namen bereits gewechselt. Das galt natürlich vor allem für Straßen, die NS-Parteigrößen oder „Märtyrer der Bewegung“ glorifiziert hatten. Eine Hermann-Göring-Straße war ebenso undenkbar wie die Adolf-Hitler-Straßen in Aumund und Lesum.
Noch weiter wollte die US-Militärregierung gehen. Im Zuge ihrer „Reeducation“-Politik hielten die Amerikaner es für geboten, dem preußisch-deutschen Militarismus zu Leibe zu rücken. Diese Bestrebungen schlugen sich nicht zuletzt in diversen Straßenumbenennungen nieder. Die Kaiser-Friedrich-Straße büßte ihren Namen ein, nicht anders erging es der Kronprinzen- oder Hohenzollernstraße. Freilich erlahmte der Umbenennungseifer relativ bald. Bürgermeister Kaisen sah sich daher genötigt, die zuständigen Senatoren an den ausdrücklichen Wunsch der Besatzungsmacht zu erinnern.
Auf fruchtbaren Boden fielen seine mahnenden Worte nicht mehr. Der beginnende Kalte Krieg verschob die Prioritäten endgültig. Das kuriose Ergebnis: Der sächsische König Albert musste als Namensgeber einer Straße in Schwachhausen das Feld räumen (mehr dazu hier), während die Langemarckstraße ungeschoren blieb. Erst zu Beginn der 1980er-Jahre wurde der Straßenname wieder in Frage gestellt. Doch alle Bemühungen verliefen im Sande, die Hochschule behilft sich darum mit dem Neustadtswall als Postadresse. Am umgestürzten Ehrenmal informiert seit Januar 2021 eine Stele über den Langemarck-Mythos.
An alternativen Namensideen für die Langemarckstraße mangelt es nicht, darunter „Friedensallee“. Dem Briefeschreiber Brandt schwebte die Bürgermeister-Meier-Straße als kongeniale Fortsetzung der Bürgermeister-Smidt-Straße vor – wobei ihm der Schönheitsfehler unterlief, dass Meier niemals Bürgermeister war. Ob er jemals eine Antwort auf seine Anregung erhalten hat, lässt sich nicht mehr einwandfrei feststellen. Dringenden Handlungsbedarf sah der Senat jedenfalls nicht. „Zu den Akten“ und „vorläufig keine Änderung erforderlich“ war von unbekannter Hand unter dem Schreiben notiert.