Die verfolgte Bremer Jüdin in Else Hennig entkam am 1. Mai 1945 über Dänemark nach Schweden

Der Bremer Historiker Diether Koch (1929-2018) wusste es: Es reicht nicht, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in Geschichtsbüchern und Archiven zu verwahren. Die Aussagen von Zeitzeugen sind eine weitere unverzichtbare, individuelle Säule der Geschichtsschreibung. Diether Koch befragte etliche zu seiner Zeit noch lebende Zeugen und hielt deren Aussagen fest – eine weitsichtige Arbeit, die bald nicht mehr möglich sein wird. Menschen, die damals noch Kinder oder Jugendliche waren, stehen heute in den achtziger und neunziger Lebensjahren – in absehbarer Zeit wird niemand mehr da sein, der in der Schule als erste Lektion den Hitlergruß lernte. Umso wertvoller sind die Aufzeichnungen, die Menschen wie Diether Koch von Zeitzeugengesprächen hinterlassen haben.

Koch war Studienrat am Gymnasium am Barkhof, später Studiendirektor im Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis und zeitlebens historisch, politisch und – als aktives Mitglied der evangelischen St. Stephani-Gemeinde – theologisch interessiert. Er war einer der Hauptautoren eines Werkes über Bremer Christen jüdischer Abstammung – schließlich gehörten etliche getaufte Juden zu St. Stephani.

Weiße Busse im Frühjahr 1945 in Pattburg/­Dänemark. 
Quelle: Lokalarchiv Bov/Dänemark

Gespaltene Gemeinde

Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus hatte sich die Gemeinde allerdings in zwei Bezirke gespalten: Stephani-Süd war der Bekennenden Kirche verbunden, Stephani–Nord arrangierte sich mit den NS-freundlichen Deutschen Christen. Der damalige Süd-Pastor Gustav Greiffenhagen (1902-1968) und die Gemeinde seines Bezirks konnten im Herbst 1941 nicht verhindern, dass die getauften Juden der Gemeinde nach Minsk deportiert wurden, zeigten sich aber deutlich solidarisch mit ihnen und versorgten sie noch in letzter Minute mit Nahrung und warmer Kleidung. Das brachte dem widerständigen Süd-Teil viel Ärger ein. Greiffenhagen war bereits im August 1939 zur Wehrmacht abkommandiert worden.

Bei seinen Recherchen zu Christen jüdischer Abstammung war Diether Koch auch auf das Bremer Ehepaar Else (1890-1959) und Rudolf Hennig (1890-1966) gestoßen. Else Hennig war im Rahmen einer schwedischen Rettungsaktion wie durch ein Wunder dem Naziterror entkommen. Es klingt unglaublich: Dem schwedischen Grafen Folke Bernadotte und seinem wichtigsten und überaus geschickten Helfer Norbert Masur aus Friedrichstadt war es gelungen, von SS- und Polizeichef Heinrich Himmler noch in den letzten Kriegstagen die Genehmigung zur Befreiung einer größeren Zahl von KZ-Häftlingen aus dem Lager Hassee zu erhalten.

Nach Dänemark entkommen: Else Hennig, hier mit ihrem Mann Rudolf.
Quelle: Diether Koch

Und so rollten am 1. Mai 1945 eine Reihe weißer Busse mit dem Emblem des Roten Kreuzes durch das Tor des „Arbeitserzie­hungs­lagers“ Nordmark in Hassee bei Kiel. 153 Frauen und Männer durften einsteigen und mit ihnen in die Freiheit fahren, unter ihnen Else Hennig. Das Ehepaar war im Herbst 1944 verhaftet worden. Rudolf Hennig, der sich standhaft geweigert hatte, sich von seiner „jüdisch versippten“ Frau scheiden zu lassen, war zuerst im Lager Farge, später ebenfalls in Hassee eingesperrt worden. Er kehrte nach Kriegsende zu Fuß nach Bremen zurück, wo er zuvor am Realgymnasium Deutsch, Latein, Griechisch, Geschichte, Religion und Philosophie unterrichtet hatte.

Gesundheitlich angeschlagen

Rudolf Hennig brauchte Monate, um sich gesundheitlich zu erholen. Sohn und Tochter des Ehepaars lebten in den USA und die Eltern überlegten, ob sie nicht auch nach Amerika auswandern sollten. Der Versuch schlug fehl: Ohne Altersversorgung, mit Gelegenheitsjobs und mit Schwierigkeiten, sich einzuleben, sah der 56-Jährige in den USA keine Zukunft für sich. Freunde und Nachbarn in Bremen versuchten deshalb, ihn zur Rückkehr an die Weser zu bewegen, wollten ihm helfen. Im März 1949 bat er schließlich um die Wiederaufnahme in den bremischen Schuldienst, was ihm auch zugesagt wurde. Doch dann erlitt seine Frau einen Schlaganfall, der sie für den Rest ihres Lebens hilfebedürftig machte. Trotzdem wagten beide im Oktober 1950 die Rückkehr nach Bremen.

Inzwischen war allerdings eine neue Schülergeneration herangewachsen und der mittlerweile 60-jährige Altphilologe, der so viele schlimme Erinnerungen mit sich schleppte, kam bei den Jugendlichen nicht mehr an. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, mit 62 Jahren ließ er sich pensionieren. Er hatte auch im Ruhestand reichlich zu tun: Er sorgte für seine Frau, kämpfte um eine Wiedergutmachung und mit den Formalitäten beim Umgang mit Ämtern.

Weiße Busse in Wartestellung: Beim Rettungseinsatz kam es immer wieder zu Verzögerungen.
Quelle: Lokalarchiv Bov/Dänemark

 

Zum neuen Buch „Wir sollten leben“

Fred Zimmak ist der Sohn von Leonhard Zimmak, der mit den weißen Bussen nach Schweden entkommen konnte. Das Schicksal seines Vaters hat ihn nicht losgelassen. Von Beruf Programmierer, beschäftigt er sich seit 25 Jahren mit Familienforschung. Bernd Philipsen war bis 2002 leitender Redakteur beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag und arbeitet seitdem als freier Journalist. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte Schleswig-Holsteins, speziell auch die der Juden in dem Bundesland.

Beide sind in jahrelanger Forschungsarbeit den Schicksalen der Geretteten nachgegangen und haben ihre Lebensgeschichten vorgelegt. Neben dem Bremer Diether Koch sind noch acht weitere Autorinnen und Autoren an dem jetzt erschienenen Buch „Wir sollten leben“ beteiligt, die jeweils ein besonderes Interesse am Schicksal jüdischer Verfolgter haben oder hatten – unter ihnen auch die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Karin Prien. Sie schreibt im Vorwort: „Der Rettungsaktion, den Opfern und den Überlebenden, ihrem Leben danach, dem Überleben ist dieses Buch gewidmet.“

Bernd Philipsen/Fred Zimmak: Wir sollten leben. Am 1. Mai 1945 von Kiel mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit, 2021, Novalis Verlag, Steinbergkirche-Neukirchen. 282 Seiten, 19,80 €.

Strahlende Gesichter im Frühjahr 1945: Gerettete jüdische Frauen nach ihrer Ankunft in Dänemark. 
Quelle: Dansk Sygeplejehistorisk Museum Kolding

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