Es ist alles noch so wie früher, als sei die Familie nur mal eben außer Haus. Ein schmaler Flur führt in die Küche, wo an der Wand die Mühle für die Kaffeebohnen hängt. Der kleine weiße Geschirrschrank verblüfft noch heute manch einen Besucher. Wer ihn öffnet, sieht, dass sich die Topfdeckel platzsparend hinter die Türen klemmen lassen. Wenige Schritte davon entfernt stehen Esstisch und Stühle. Hier hat sie einst gesessen, die Bürgermeisterfamilie Kaisen.

Ein Besuch in der Straße Rethfeldsfleet 9 in Borgfeld ist eine Reise in die Vergangenheit. In eine Zeit, als Bremens Bürgermeister Wilhelm Kaisen hier zu Hause war. Seit zehn Jahren steht das Haus leer, doch in den kleinen Räumen ruht noch der bescheidene Alltag. Neun Leute haben hier zeitweise gewohnt.

Neun Leute und drei Kühe unter einem Dach. Bis zum Jahr 2005 war Kaisens Tochter Ilse die Letzte aus der Familie, die noch hier lebte. Dann zog Ilse Kaisen ins Seniorenheim. Kurz nach ihrem 90. Geburtstag im Herbst 2013 starb sie. Die Erinnerung an das Leben der Bremer Bürgermeisterfamilie in Borgfeld hält seit Jahren die Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung wach. Sie hat neben dem Wohnhaus in der ehemaligen Scheune eine Dokumentationsstätte eingerichtet, die jeden zweiten Sonntag im Monat von 11 bis 16 Uhr ihre Türen öffnet. Bald soll aber auch das bescheidene Siedlungshaus für Besucher offen stehen. Manchmal schauen bereits jetzt Schulklassen vorbei und laufen staunend durch die gedrungenen Räume, berichtet Hartmut Müller, der zusammen mit Volker Kröning und Horst Brüning zum Stiftungsvorstand gehört. Dass ein Bremer Bürgermeister auf so engem Raum leben konnte, ist für die Schüler unvorstellbar. Keine Spur von Prunk und Protz. Das Landesvaterhaus am Ende der Straße, wo der Blick weit über die Wiesen geht, ist angenehmer Ausdruck eines ganz normalen Lebens.

Das begann hier im Jahr 1933. Damals siedelten Wilhelm und Helene Kaisen mit den vier Kindern Niels, Ilse, Franz und Inge von Findorff nach Borgfeld um. Die Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehhaltung sicherte der Familie die Existenz.

Bürgermeister Wilhelm Kaisen in Borgfeld auf einem Trecker. (Otto Lohrisch-Achilles)

Abseits von aller Zivilisation

Jahre zuvor, 1920, war der Sozialdemokrat in die Bürgerschaft eingezogen. 1928 wurde Wilhelm Kaisen in den Senat gewählt und übernahm das Wohlfahrtsressort. Dann kam die nationalsozialistische Diktatur. Kaisen wurde verhaftet. „Nachdem unser Vater aus der Haft entlassen war, entschlossen sich unsere Eltern, die Stadt zu verlassen“, schrieb Ilse Kaisen in ihrem Buch „Unser Leben in Borgfeld“. „Unser Vater hatte die Idee, weit draußen auf dem Lande, abseits von aller Zivilisation, zu siedeln.“ In Katrepel gab es ein – bereits in der Weimarer Zeit geplantes – Siedlungsvorhaben. Weit hinten in den Wiesen lag noch ein Grundstück, das keiner haben wollte. Die Kaisens nahmen es. Und blieben. Auch als die Nazis besiegt, der Zweite Weltkrieg zu Ende war und Wilhelm Kaisen ins Rathaus zurückging.

Er sei jemand gewesen, der die Dinge anpackte, sagt Hartmut Müller. Das gilt für beide Felder: für die Politik und für das landwirtschaftliche Wirken in Borgfeld. In der Dokumentationsstätte ist beides eng miteinander verknüpft. Neben seinem Schreibtisch aus dem Bremer Rathaus stehen Kaisens alte Rübensämaschine, die selbst geflochtenen Körbe und die von Hand gebundenen Besen. Nach seinem Arbeitstag in der Stadt zog sich der Bürgermeister in Borgfeld die Arbeitsjacke an, ging in den Stall, um die Kühe zu melken und den Mist herauszutragen.

In Borgfeld hat Wilhelm Kaisen auch Politiker und Staatsgäste empfangen. Es sind nur wenige Schritte von der Küche zur kleinen Stube, wo der Bürgermeister dann mit seinen Gästen politische Gespräche führte. 1952 kam Bundespräsident Theodor Heuss ins Haus am Rethfeldsfleet.

Eine fürsorgliche und offene Ansprechpartnerin

Die Stiftung hat das Leben und Schaffen des Menschen und Politikers auf behutsame Weise zum Ausdruck gebracht. Die Wände der Dokumentationsstätte sind zurückhaltend bebildert und mit Texten versehen. Die Klarheit und Einfachheit der Ausstellungsräume sprechen für sich und entsprechen dem Wesen der beiden. Wohlgemerkt der beiden, denn Helene Kaisen soll nicht vergessen werden, obwohl sie als Landesmutter eher im Hintergrund wirkte. Sie war die fürsorgliche und stets offene Ansprechpartnerin für all die Menschen, die mit ihren Alltagssorgen und Bitten nach Borgfeld kamen, um bei Kaisen anzuklopfen, erfährt man. Die Bremerin, die der Hamburger Wilhelm Kaisen 1913 auf der Parteischule der SPD in Berlin kennenlernte und die er 1916 heiratete, war „eine hochpolitische Frau und eine absolut radikale Pazifistin“, erläutert Müller.

In der Dokumentationsstätte erinnert ein eigenes Zimmer an sie. Ihrem Mann war sie auch eine kritische Zuhörerin und Ratgeberin. Wenn er sich nach seinem Arbeitstag in der kleinen Küche am Fenster in den Sessel setzte, dann habe sie beim ersten Blick gewusst, ob er sprechen oder schweigen wollte. „Manchmal geht es gleich los mit dem Diskutieren“, erzählte seine Ehefrau 1964 anlässlich ihres 75. Geburtstages, „aber manchmal hake ich ihn erst mal ein, und dann gehen wir beide ein Stück spazieren. Schweigen ist oft eine gute Sache.“ Helene Kaisen starb am 5. September 1973, ihr Mann folgte ihr am 19. Dezember 1979. Er wurde 92 Jahre alt.

Für den 13. September plant die Stiftung einen Tag der offenen Tür. Dann soll auch das Wohnhaus der Familie Kaisen vorgestellt werden, für dessen künftige Besichtigungen die Historikerin Eva Determann und die Grafikerin Hilke Packmohr ein Konzept erarbeitet haben.

von Ulrike Schumacher

Theodor Heuss war einer der zahlreichen Gäste, die sich bei Familie Kaisen wohlfühlten. (Georg Schmidt)

75 Jahre Kriegsende

Neuanfang nach der Diktatur

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