Niemand ahnte im August 1988, was aus der Gesellschaft werden sollte, als sich soziale Netzwerke ihrer bemächtigten und die Welt umspannten. Es war nicht selbstverständlich, dass so gut wie alles in die Öffentlichkeit gepustet wurde, was in einer brenzligen und, wie sich zeigen sollte, todbringenden Situation geschieht. „Ich bin von Haus aus ein Verbrecher, also innerlich. Für mich gibt’s kein Arbeiten und auch keine Moral und so ne Scherze“, sagte Hans-Jürgen Rösner in eine Kamera, als wäre eine solche Offenbarung in einer solchen Situation üblich.

Dieser Ausnahmezustand und seine Begleitumstände beschäftigten Politik und Gesellschaft lange. Bis heute sind manche Bilder nicht aus dem deutschen Gedächtnis gelöscht: Rösner, der sich eine Pistole in den Mund schiebt; Dieter Degowski, der Silke Bischoff eine Waffe ans Kinn hält, während sie mit Journalisten spricht.

Der „Spiegel“ berichtete wenige Tage nach der Tat: Zwei Bankräuber aus dem Ruhrgebiet „setzten in der letzten Woche das öffentlichste Verbrechen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte in Szene. Auf einer Irrfahrt durch drei Bundesländer und die Niederlande schlugen sie die ganze Fernsehnation in Bann. Millionen von Wohnzimmern wurden 54 Stunden lang zur Einsatzzentrale unerschrockener Hilfssheriffs.“

Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche hat es später viele gegeben. Fragen blieben und bleiben: Warum trat die Angst um die eigene Haut so weit hinter die Sensationsgier zurück? Und welche Hölle bräche heute los, wo sogenannte Smartphone-Gaffer täglich Grenzen übertreten und ihre Mobilgeräte zücken, um in Bild und Ton festzuhalten und an Freunde, Verwandte, Fans und Follower zu schicken, welche Dramen vor ihren Augen geschehen?

Sensationsgier, womöglich auch Übereifer, und Wichtigtuerei formen ein Seht her! Ich! bin! dabei! Gier nach Aufmerksamkeit trieb neben Kaltschnäuzigkeit, Unbesonnenheit, Aufputschmitteln und Alkohol auch Degowski und Rösner an. Kriminelle Nobodys, die bis dahin nur von Jugendämtern, Polizei und Justiz mit Aufmerksamkeit bedacht worden waren, wurden zu Berühmtheiten. Sie bestimmten die Schlagzeilen, sie dominierten das Fernsehprogramm, sie führten zu einer Debatte über deutsche Polizeistrukturen und journalistischen Ethos sowie zum Rücktritt von Bremens Innensenator Bernd Meyer (SPD).

Der Entführer Hans-Jürgen Rösner beantwortet am 17. August 1988 in Bremen mit einer Pistole in der Hand Fragen von Journalisten. (Thomas Wattenberg/dpa)

Eine einmalige Entgleisung

„Das große Kommunikationsbedürfnis, das offenbar die beiden Gladbecker trieb und ihre makabren Auftritte vor der versammelten Presse bestimmte, konnte für erfahrene Kriminalisten nicht überraschend sein“, so der „Spiegel“ damals weiter. Das Magazin ließ den Münchener Experten Wolfgang Salewski zu Wort kommen. „Der Tätertyp wird von Gewaltforscher Salewski als typischer Geiselnehmer beschrieben. Diese ,Art von Bankräuber‘ lege es darauf an, sagt der Psychologe, ,durch Geiselnahmen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen‘.“

In der Aufarbeitung des Geschehens wird das Verhalten von Tätern und Journalisten als eine einmalige Entgleisung angesehen, als das unselige Ergebnis außergewöhnlicher Täterprofile auf der einen Seite, eines menschlichen Ausnahmezustands auf der anderen, der sich im gemeinschaftlichen Verlust von angemessener Zurückhaltung, Takt, Vernunft und Anteilnahme zeigt.

Inzwischen hat sich die Geschwindigkeit von der Verbreitung von Nachrichten, von Bildern und Tönen vervielfacht. Es ist gang und gäbe, live dabei und oft auch ganz nah dran zu sein. Kein Unglück ist zu schwer, kein Unfall zu blutig, keine Geiselnahme zu kritisch; wenn nicht direkt übertragen oder an den Ort des Geschehens geschaltet wird, informieren Liveticker im Sekundentakt.

Nichts ist mehr heilig, nicht die Hilflosigkeit der Opfer, nicht das Recht am eigenen Bild, nicht das Privatleben, ob das eigene oder das anderer. Die Scham- und Schmerzgrenzen haben sich deutlich verschoben, die Wege an die Öffentlichkeit haben sich durch soziale Netzwerke vervielfältigt.

Die „Süddeutsche Zeitung“ stellt fest: „Die widerlichen Reporter von Gladbeck 1988 – das sind heute die Smartphone-Jedermann-Reporter.“ Während eines Verbrechens würden heute vermutlich keine Interviews mehr geführt, nicht von Journalisten. Selfies sind dagegen denkbar: 2017 ist auf Facebook für rund zwei Stunden ein Video zu sehen, das zeigt, wie ein Mann in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio einen Passanten erschießt.

Der Täter hatte es verbreitet. Im März dieses Jahres fallen acht Jugendliche in Nordrhein-Westfalen über eine 13-Jährige her und filmen den Missbrauch mit einem Handy. Was mit dem Film geschehen sollte, ist ungewiss. Im Januar 2017 streamt eine zwölfjährige US-Amerikanerin live ihre Selbsttötung.

Gezielt zum Tatort gelockt

Medien bleiben jedoch auch dicht dran: Beim Amoklauf im Münchener Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), bei dem 2016 ein Schüler neun Menschen tötete, bemühten sich TV-Sender so schnell wie möglich um Liveübertragungen, obwohl es lange wenig zu sehen gab. Dafür hatten Zeugen mit ihren Mobilgeräten verwackelte Aufnahmen des Täters gemacht, statt sich in Sicherheit zu bringen.

Das Material wurde ausgestrahlt. Der Hunger nach Bildern ist unstillbar. Der „Bildblog – Kritisches über Medien seit 2004“ wies auf einen Tweet hin: „Am vergangenen Freitag um 18:24 Uhr, also noch elf Minuten, bevor die Polizei München bei Twitter zum ersten Mal vor der Situation am Olympia-Einkaufszentrum warnte und darum bat, den Bereich ums OEZ zu meiden, twitterte ,BR 24‘, das Online- und App-Team des ,Bayerischen Rundfunks‘: ,Jemand mit #periscope direct etc. zufällig am #oez unterwegs?‘“

Bei Periscope direct handelt es sich um eine App, mit der in Echtzeit Filmaufnahmen übertragen werden können. Der Täter in München hatte zuvor über Facebook und unter falschem Namen eine Art Einladung verbreitet, die junge Menschen gezielt zum Tatort locken sollte.

Der „Deutschlandfunk“ zog den Psychologen Jens Hoffmann vom Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement zurate: „Ich denke, dass die Zuschauer, die ja gleichzeitig auch mitberichten, von jüngeren Tätern auch antizipiert werden. Also diese mediale Spiegelung, die inzwischen Teil vieler Inszenierungen ist, ich denke, das beeinflusst die Tat-Dynamik und das gibt auch mir eine Möglichkeit, dass ich sage, ich mache etwas, und das wird weltweit wahrgenommen.“

Weltweit wahrgenommen werden zu wollen – das ist eine verbreitete Sehnsucht, die nicht nur für Täter sowie Augenzeugen gilt, sondern auch für Teilnehmer anderer extremer und gefährlicher Selbstinszenierungen wie U-Bahn-Surfen oder illegale Autorennen. Was ist das Risiko schon wert, wenn kein Schwein guckt? Der Drang nach Scheinwerferlicht hat die Gesellschaft durchzogen, der Mitteilungsdrang ist enorm, Menschen buhlen mit Takt- und Geschmacklosigkeiten um Anerkennung. Es scheint, als müsste die eigene Existenz immer wieder überprüft werden, durch Selfies und Videoschnipsel.

Jeder Klick wird zu barer Münze

Auch Banalitäten werden zu Ereignissen umgedeutet: Auf der Videoplattform Youtube, im Netzwerk Facebook oder dem Onlinedienst Instagram lassen sich Familien ins Wohn- und Schlafzimmer schauen, Mädchen filmen sich beim Schminken, Jungs beim Luftgitarre-Spielen. Private Momente wie Liebeserklärungen oder Schwangerschaftstests werden für Tausende Wildfremde zur Schau gestellt und bleiben unvergessen, weil das Netz sie nicht mehr hergibt.

Die „Rheinische Post“ fragt, „warum Menschen ihr Leben inszenieren wie eine Peepshow?“ Und wer sind ihre Kunden? Eine Form von Alltagsvoyeurismus ist entstanden, ein eigenartiges Interesse an Alltag und Privatleben von jedem Hans und Franz. Für einige wenige rentiert es sich, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Für sogenannte Youtube-Stars verwandelt sich jeder Klick in bare Münze, für andere ist jeder Zugriff ein Sonnenstrahl, unter dem sie aufblühen.

Der „Spiegel“ bezeichnet das unter dem Stichwort „Ichbooster Internet“ als individuelle „Öffentlichkeitsarbeit“, die sich nach „den Gesetzen der sozialen Aufmerksamkeit“ ausrichte.  Das könne in Stress ausarten, wenn im Wettbewerb mit anderen „etwas Aufregendes aus dem eigenen Leben in die digitale Welt hinausposaunt“ werden müsse.

Das Magazin lässt die Psychologin Heike Kaiser-Kehl zu Wort kommen: „Man betrachtet das eigene Leben zunehmend durch die Augen anderer, weil die Außenwirkung das Allerwichtigste wird.“ Ein grauer Alltag bekommt Farbe, und sei sie auch blutrot, wenn man von einem Drama berichten kann, das man mit eigenen Augen gesehen, dass man mit dem eigenen Mobilgerät aufgenommen hat.

Vor wenigen Wochen wurde minutiös und weltweit übertragen, wie eine Fußballmannschaft unter dramatischen Umständen aus einer Höhle in Thailand gerettet wird. Der „Deutschlandfunk“: „Die Gegend um die Höhle herum, erzählen Kolleginnen und Kollegen vor Ort, sehe aus wie ein Drehort in Hollywood. Entsprechende Drehbücher werden auch mit Sicherheit schon geschrieben.“ Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner wurde bereits ein Denkmal gesetzt: mit einem zweiteiligen Spielfilm in der ARD. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt: „Zwei Loser in der Rolle ihres Lebens“.

Degowski ist aus der Haft entlassen. Er soll einen neuen Namen angenommen haben. Seit 1988 hat er sich öffentlich nicht mehr geäußert, obgleich es Angebote gegeben haben wird. Ein Foto ist aufgetaucht, das jünger ist als 30 Jahre, die Zeitung mit den großen Buchstaben hat es geschossen; wie es aussieht, wohl ohne sein Wissen. Degowski versucht, seine Identität zu schützen. Ansonsten könnte ihn die öffentliche Aufmerksamkeit dieser Zeit mit ihrer vollen Wucht treffen: Ein Selfie mit einem „Gladbecker Geiselgangster“ wäre ein Klick-Garant sondergleichen.

von Silke Hellwig

Journalisten umringen am 18. August 1988 in der Innenstadt von Köln den Fluchtwagen, in dem die beiden Bankräuber mit den Geiseln sitzen und Auskünfte geben. (Fanda W. Holobovsky/DDP)

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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