Ein Blick in die Geschichte (194): Ansichtskarte zeigt Gartenstadt Vahr um 1956
Im August 1959 freute sich Tante Clärchen in Dessau – damals noch eine DDR-Stadt hinter dem Eisernen Vorhang – über Geburtstagsgrüße aus dem Westen. Der Inhalt:
Liebe Tante Clärchen!
Sehr, sehr herzlich gratuliere ich Dir zu Deinem Geburtstag und wünsche Dir viele schöne Jahre bei guter Gesundheit im Kreise der Deinen. Wir denken oft an Euch und wären so gern an Deinem Geburtstag dabei. Viele Liebe Grüße Lotte
Alle guten Wünsche, Gesundheit und viel Freude und liebe Grüße Hans
Ganz nebenbei erhielt Tante Clärchen auch einen Eindruck davon, wie eifrig in Bremen die Gartenstadt Vahr aus dem Boden gestampft wurde. Das Luftbild zeigt einen Zustand, der etwa dem zur Jahresmitte 1956 entsprechen könnte: Das Gloria-Kino ist nämlich schon vorhanden. Die Julius-Brecht-Allee wurde erst 1966 gebaut, die Straßenbahn kam erst 1967 in die Neue Vahr und die Schule an der Julius-Brecht-Allee wurde erst 1972 eröffnet.
Im Jahre 1956 standen die neuen Gebäude noch etwas verloren in der Landschaft herum. Heute, im Jahre 2018, ist das Grün herangewachsen und macht daraus eine Gartenstadt.
Doch wie war es zum Bau der Gartenstadt Vahr gekommen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Bremen 59 Prozent der städtebaulichen Substanz zerstört. Anfang der 1950er Jahre herrschte in der Stadt eine große Wohnungsnot. Nicht nur die „alten“ Bremer, sondern auch die vielen Flüchtlinge suchten nach Wohnraum. Es reichte nicht mehr, die Häuser an den bestehenden Straßen wieder aufzubauen. Sondern es mussten neue Wohngebiete erschlossen werden.
Erste Gartenstadt-Pläne vorgestellt
Im Juli 1954 wurde das Projekt Gartenstadt Vahr von Richard Boljahn, dem Vorsitzendem des Aufsichtsrates der Gewoba, der Öffentlichkeit vorgestellt. In Bremen gab es eine enge Zusammenarbeit von Politik, Gewerkschaft und Gewoba. Richard Boljahn war bis 1969 zugleich Fraktionsvorsitzender der SPD-Bürgerschaftsfraktion, DGB-Vorsitzender in Bremen und Aufsichtsratsvorsitzender der Gewoba. Erst 1977 schied Boljahn als Mitglied des Aufsichtsrates aus. Andere Kommunalpolitiker und Senatoren unterstützten das Gewerkschaftsunternehmen, das große Beiträge zu Linderung der Wohnungsnot geleistet hatte.
Bereits seit Anfang der 1900er Jahre war das Gelände als Bauland eingeplant. Bisher nutzten hauptsachlich Kohlbauern das Gelände und nur wenige Kleingärtner.
Grundsteinlegung für die Gartenstadt Vahr war am 20. Dezember 1954 für einen ersten Bauabschnitt mit 1800 Wohnungen. Die Straßen wurden nicht schachbrettartig angelegt, sondern sie winden sich kurvenreich durch die Gartenstadt Vahr. Unter anderem wurden vier 13-stöckige Hochhäuser und drei siebengeschossige Reihenblocks mit insgesamt 700 Zwei-Zimmer-Wohnungen gebaut.
Die Gewoba baute auch ein Zentrum mit Kultureinrichtungen, Einzelhandelsgeschäften, Filialen von Sparkasse, Bank und Post sowie ein Polizeirevier. Außerdem kamen dazu: Jugendheim, Kindergarten, Kino („Gloria“ mit 625 Sitzplätzen an der Wilseder-Berg-Straße 19a, eröffnet am 5. April 1956, geschlossen 24. Januar 1964) und eine Mütterberatungsstelle. Die Katholiken erhielten im Jahre 1963 das Gemeindezentrum St. Laurentius. Das wurde 1999 abgerissen und das Caritas-Haus St. Laurentius als Pflegehaus errichtet.
von Peter Strotmann