Aufmüpfig: die Schülerzeitschrift Hermes, Altes Gymnasium, erste Nummer, Mai 1966.
Quelle: Privatbesitz

„Trau keinem über 30!“ Eine neue Ausstellung des Schulmuseums Bremen zur Jugendkultur von 1960 bis 1975

„Trau keinem über 30!“ Diese einstige, wohl politisch gemeinte Parole aus den 1960er Jahren, wurde zur griffigen Chiffre für eine von Jugendlichkeit, Aufruhr, Aufbegehren und Aufbruch gekennzeichneten Zeit – und nun zum Titel einer neuen Ausstellung des Schulmuseums in der Unteren Rathaushalle.

Wem oder was wollte man eigentlich nicht trauen, als junger Mensch in den Swinging Sixties? Wer ist „keiner“? Zunächst einmal, laut Parole, alle die über Dreißig sind. Und dann hat Freddy Quinn 1966 im „Chor der Anständigen“ eine Antwort gegeben:

„Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir! Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? Wir! Ihr lungert herum in Parks und in Gassen, wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? Wir! Wir! Wir!/…/ Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? Wir! Und dankt noch denen, die uns geboren? Wir! Doch wer will weiter nur protestieren, bis nichts mehr da ist zum Protestieren? Ihr! Ihr! Ihr!“

Freddy Quinn: Eine Handvoll Reis/ Wir. Polydor 1966.

Da ist es also, das kollektive „Wir“, von dem sich die kritischen Geister der Jugendlichen abgrenzen, in Quinns Worten „Ihr“, die Gammler. Peter Zadek unterlegt diese heute eher skurril klingenden Worte in dem legendären Film „Ich bin ein Elefant, Madame“ mit historischen Bildern u.a. vom Hamburger Kriegerdenkmal („Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen“), von Ku-Klux-Klan-Aktivitäten, pro-Nixon-Demonstrationen und Anti-Vietnam-Protesten in den USA, von in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg in sibirischer Kälte, von Soldatenfriedhöfen, der Bundeswehr, der NVA und der Berliner Mauer, von Luftangriffen und Bombenabwürfen in Vietnam (plus amerikanischer Flagge) und in Bremen.

Das Alte Gymnasium an vorderster Front

In Zadeks Film spielt die Schule, das Alte Gymnasium, eine äußerst prominente Rolle. Und in der Tat waren die Schulen, vor allem in den Städten ohne Universitäten, Kristallisationspunkte jugendlichen Protestes. Von offizieller Seite war die „Bildungskatastrophe“ diagnostiziert worden, die jungen Leute wollten eine andere Schule, eine ohne autoritäre Nazi-Lehrer, die auf ihre Fragen, Wünsche und Ausbildungsinteressen einging, die Strafregister, Demütigungen und hinterlistiges Abprüfen abschaffte, stattdessen neue, auf Selbständigkeit angelegte Arbeitsformen anbot, Frontalunterricht und Auswendiglernen abbaute, stattdessen Mitbestimmungsmöglichkeiten bot und sich kontroversen Themen wie Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg, dem Krieg in Vietnam, Aufklärung und Sexualität, moderner, zeitgenössischer Literatur usw. usf. zuwandte.

Bevor die Jugend auf die Straße ging: Liegewiese auf dem Stadtwerder 1963. In der Mitte ein Schallplattenspieler.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Viele Jugendliche waren nicht mehr zufrieden mit sattem Wohlstand und Konformismus, stellten unbequeme Fragen, wollten ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben ohne Tabus. Man war neugierig, kritisch, wollte Antworten. Die Frage „Was habt ihr gemacht zwischen 1933 und 45“ wurde zu einer der wichtigsten für diese Generation und bot immensen Sprengstoff in vielen Familien.

Für die meisten jungen Leute war das Beschweigen der „dunklen Zeit“ keine Option. „Sie“ – die Erwachsenen, die Eltern, Lehrer, Arbeitgeber sahen diese Entwicklung mit Sorge und Unverständnis. Frei nach dem Motto: Uns geht es doch gut und wir sind wieder wer. Doch das reichte den meisten jungen Menschen nicht mehr, sie wollten andere, aufregende Lebensentwürfe, sich selbst verwirklichen, sich abgrenzen, sie wollen keine Tabus und Verbote, keine Heuchelei, Bigotterie oder Prüderie, sie wollen das Risiko, Erotik und Sex und keine Vorschriften. Lebenslust verträgt sich nicht mit Gehorsam.

Die Vorstellungen von einem „guten Leben“ fingen an sich zu verändern, ein Wertewandel umfassenden Ausmaßes begann sich zu vollziehen, die normativen Bezugspunkte der Lebensführung wandelten sich grundlegend. Viele junge Menschen befanden sich nicht mehr in Übereinstimmung mit dem Wertekorsett einer religiös gestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtgesellschaft.

Lebenslust und Freiheitsdrang

Tugenden wie Gehorsam, Ordnung, Fleiß, Bescheidenheit, Anpassung, Unterordnung, Zurückhalten, Pflichterfüllung wurden zunehmend in Frage gestellt, Lebenslust und Freiheitsdrang, Abkehr von unverstandenen und sinnlosen Traditionen, Emanzipation, das Streben nach Autonomie und Individualismus traten an ihre Stelle. Die Vorstellungen solch zentraler Institutionen wie der Familie und die Rollenzuweisung der Geschlechter gerieten in den Fokus gesellschaftlicher Kritik und Umbrüche, Macht und ihre Legitimation wurden hinterfragt, soziale Ungerechtigkeiten und mangelndes Demokratieverständnis angeprangert.

Ein Sprachgewaltiger in der Lila Eule: Rudi Dutschke am 27. November 1967.
Quelle: Radio Bremen

Die Ausstellung zeigt die Schule „vor 68“: Strafregister, Klassenbucheinträge, Griffelmäppchen, Rechenschieber, eine Kollektion von Ranzen. Zarte Veränderungen deuten sich Mitte des Jahrzehnts an, z.B. die Einführung des Sprachlabors für den Fremdsprachenunterricht. Die Schülerproteste beginnen: Schulzeitungen werden politischer und kritischer, über Zensuren wird debattiert, sie sollen abgeschafft werden, Dutschke wird für die Lila Eule angekündigt, Konflikte um Mitbestimmung und unbotmäßige Flugblätter nehmen zu. Das Gymnasium Horn propagiert ein Projekt zur anti-autoritären Erziehung. Was damals alles möglich war! Bald weisen die Proteste über die Schule hinaus: die legendären Straßenbahnunruhen, Vietnam.

In einer zweiten Schiene widmet sich die Ausstellung des Schulmuseums der Jugendkultur, der Freizeitgestaltung, der Mode und Musik, den Szenen und Milieus der jungen Leute.

In der Alltags- und Freizeitkultur verband sich das Vorpolitische der von Beat, Rock und Blues geprägten Jugendkultur mit dem neu erworbenen Politischen. In „Ich bin ein Elefant, Madame“ ist „I’m Waiting for my Man“ von Velvet Underground fast der Title-Track, so häufig wird er eingespielt. Die Musik, die die jungen Leute hörten, war anders als der Musikgeschmack der „Alten“, die Art, sich zu kleiden war anders, ebenso die Freizeitgestaltung. Die Lebensstile und –entwürfe änderten sich, zunehmend auch, was als richtig und falsch, als wichtig und wahrhaftig, als gut und böse angesehen wird. Die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gerieten unter Druck, neue Formen des Zusammenlebens wurden ausprobiert. Kurz: Die Kultur der Jugend war eine andere als die der Erwachsenen: nonkonformistisch, politisch, subversiv und alternativ.

Wasserwerfer im Einsatz: Polizeigewalt gegen Demonstranten während der Bremer Straßenbahnunruhen im Januar 1968.
Quelle: Senator für Inneres

Aber nicht immer: Die Ausstellung zeigt z.B. ein Heft zur Fernsehserie Bonanza mit aus Fernsehzeitschriften ausgeschnittenen eingeklebten Filmszenen, stellt Bravo-Magazine aus, präsentiert eine doch erkleckliche Anzahl von Konfirmationsliedern und einen Fernsehapparat aus den frühen 60ern.

Aber natürlich begibt sie sich auch auf die Spuren des Beat von „Got live if you want it“, eine sog. EP (extended play) mit vier Titeln der Stones bis zu „That’s Underground“ und zeigt die Mode der Zeit (z. B. meinen Blümchenschlips und meine weinrote Weste).

Mal was anderes: Diethelm Knaufs Blümchenschlips mit Weste Mitte der 1960er Jahre.
Quelle: Privatbesitz

Die Ausstellung hat Objektinstallationen, Film- und Hörstationen, solche zum Fühlen und Raten, viele großformatige Fotos und erläuternde Texte. Das Besondere an dieser Ausstellung ist, dass sie auch ein Gemeinschaftsprojekt mit 16 Schulklassen aus Bremen und Bremerhaven ist. Sie zeigt, mit welchem Engagement und mit welcher Neugier die Schülerinnen und Schüler in einen lebendigen Dialog mit den Erinnerungen, Erfahrungen und Sichtweisen der Großelterngeneration getreten sind.

Über 300 Schülerinnen und Schüler haben sich mit einzelnen Aspekten der Zeit auseinandergesetzt und daraus z.B. Erklärfilme zum Thema Musik und Mode hergestellt, den Alltag der Jugendlichen von damals mit dem der heutigen Generation verglichen, Podcasts über die Straßenbahnunruhen von 1968 konzipiert, in Bravoheften nach Idolen von damals gesucht, die Geschichte ihrer eigenen Schule in den wilden 1960er Jahren erforscht.

Im Begleitprogramm gibt es diverse Zeitzeugenrunden, Filme aus der Zeit im City 46, jeweils von einem Zeitzeugen/Zeitzeugin eingeführt, z.B. „Zur Sache Schätzchen“ am 6. Juni um 20 Uhr mit der Modedesignerin Evelyn Frisinger und eine Podiumsdiskussion zum Thema „Gesamtschule – heute erst recht?“ (Haus der Bürgerschaft, 14. Juni, 18 Uhr).

Die Ausstellung ist bis zum 1. Juli 2018 täglich von 11 bis 17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr zu sehen.

von Dr. Diethelm Knauf

Gegen den Vietnamkrieg: Auch in Bremen begehrte die Jugend im Mai 1968 auf.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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