Vor 50 Jahren: Am 28. Januar 1966 stürzte eine Lufthansa-Maschine nach dem Durchstarten beim Flughafen Bremen ab / Alle 46 Insassen kamen ums Leben
Keine Überlebenschance hatten die 46 Menschen an Bord der Lufthansa-Maschine, die am frühen Abend des 28. Januar 1966 unweit des Bremer Flughafens auf einen Acker stürzte. Zu den Opfern zählten sieben italienische Olympia-Schwimmer und die Schauspielerin Ada Tschechowa. Doch wie kam es zu dem bis dahin schwersten Unglück der bundesdeutschen Luftfahrtgeschichte? Eine Zange in der linken Hand des Copiloten heizte die Spekulationen an, wilde Gerüchte um einen Kampf im Cockpit machten die Runde.
Es regnete in Strömen, als Lufthansa-Flug 005 am 28. Januar 1966 um 18.48 Uhr in Bremen zur Landung ansetzte. Nichts deutete auf die nahende Katastrophe hin, alles schien völlig normal zu verlaufen. In 300 Metern Höhe durchstieß die Unglücksmaschine mit eingeschalteten Scheinwerfern und ausgefahrenem Fahrwerk die Wolkendecke.
Doch unmittelbar darauf wurde die Routine gestört. Als er freie Sicht auf das Flugfeld hatte, erkannte Flugkapitän Heinz Saalfeld, dass er schon fast die Hälfte der Landebahn hinter sich gelassen hatte. Und damit keine Chance mehr bestand, das Flugzeug noch auf der Rollbahn zum Stehen zu bringen. Weshalb er in nur acht bis zehn Metern Höhe den Landevorgang abbrach und durchstartete.
Vorprogrammiert war die Katastrophe damit noch lange nicht. Unter normalen Umständen würde heute niemand mehr von der abgebrochenen Landung sprechen. Gilt eine durchstartende Maschine doch noch nicht einmal als Zwischenfall. Sondern als durchaus gängiges Flugmanöver. Merkwürdig allenfalls, dass die Piloten keine Meldung absetzten. Wirklich beunruhigt war der zuständige Fluglotse deshalb aber nicht. Um 18.50 Uhr erteilte der Tower sogar noch nachträglich die Freigabe zum Durchstarten und nannte eine alternative Landebahn.
Doch LH 005 antwortete nicht mehr.
Bei dem Absturz vor 50 Jahren fanden alle 46 Menschen an Bord den Tod. Für die zivile Luftfahrt in Deutschland war das Flugzeugunglück der schwerste Unfall seit dem Neustart der Lufthansa 1955. Tragisch nicht zuletzt für jene zwölf Passagiere, die in Frankfurt erst kurz vor dem Start zugestiegen waren. Bundesweit sorgte der Crash für großes Aufsehen, fast eine Woche lang dominierte das Geschehen die Schlagzeilen, der SPIEGEL berichtete ebenso wie die Wochenschau.
In Bremen sollte die Convair nur eine Zwischenlandung einlegen
An der Weser hatte die 1958 in Dienst gestellte, zweimotorige Propellermaschine des US-Herstellers Convair nur eine planmäßige Zwischenlandung einlegen sollen. Zielort des Linienflugs war nicht Bremen, sondern Hamburg. Das Kommando hatte mit dem 47-jährigen Saalfeld ein erfahrener Pilot, der schon im Zweiten Weltkrieg hinter dem Steuerknüppel gesessen hatte und es auf über 5000 Flugstunden brachte. An seiner Seite agierte als Copilot Klaus Schadhof. Der 26-Jährige hatte an der Flugzeugführerschule Bremen seine Ausbildung gemacht und war mit einer Bremerin verlobt.
Zeugen erklärten später, sie hätten kurz vor dem Inferno sehr lautes Motorengeräusch gehört, ein „komisch aufheulendes Geräusch“. In ihren Wohnungen vibrierten die Fenster, klapperten die Türen. Plötzlich verstummte das Motorengeräusch. Ein Augenzeuge berichtete, er habe weißes Licht gesehen, das „wie ein Stern“ in südwestlicher Richtung dahingezogen sei. Womöglich die Bordscheinwerfer. Oder die Kabinenbeleuchtung, vielleicht auch eine Kombination aus beidem. „Dieses Licht schlug dann kometartig auf die Erde auf.“
Beim Aufprall auf einem Acker nur wenige hundert Meter von der Landebahn entfernt explodierte die Maschine. Ein Flammenmeer wies den Rettern den Weg. Bis heute ist am Absturzort eine auffällige Bodenveränderung zu erkennen. Für Irritationen sorgten zahlreiche Schaulustige, die mit ihren Fahrzeugen die Zufahrtsstraßen blockierten. Bereits um 19.40 Uhr hätten die Einsatzwagen des THW „nur unter erheblichen Schwierigkeiten“ zur Unfallstelle gelangen können, hieß es später von Seiten der Experten. Grund genug für Innensenator Hans Koschnick, missliebigen „Gaffern“ ernste Konsequenzen anzudrohen. Freilich musste sich die Polizei vom Luftfahrt-Bundesamt ankreiden lassen, ihre Absperrmaßnahmen seien „nicht ausreichend“ gewesen.
Tödliche Verletzungen schon beim Aufschlag erlitten
Eine Überlebenschance gab es für die vierköpfige Besatzung und die 42 Passagiere nicht, darunter sieben Schwimmer der italienischen Nationalmannschaft, die zu einem Wettbewerb in Bremen angereist waren. Prominentestes Opfer war die 49-jährige Schauspielerin und Filmmanagerin Ada Tschechowa, Tochter des Ufa-Stars Olga Tschechowa und Mutter der Schauspielerin Vera Tschechowa, eine Großnichte des russischen Dichters Anton Tschechow. „Alle Insassen hatten bereits bei dem Aufschlag des Flugzeuges auf dem Boden tödliche Verletzungen erlitten“, stellten die Experten vom Luftfahrt-Bundesamt in ihrem Bericht unmissverständlich fest.
Von der Maschine blieb außer dem Seiten- und Höhenleitwerk sowie den Flügeln kaum etwas übrig. Die Aufnahmen von der Unglücksstelle knapp jenseits der Ochtum zeigen das ganze Ausmaß der Zerstörung, auf einem Luftbild sind die Umrisse der Maschine nur grob zu erkennen. Man durfte noch von Glück sprechen, dass die Maschine nicht in einer nahegelegenen Gasthaus-Baracke eingeschlagen war. Weil zum Zeitpunkt des Absturzes vollständige Dunkelheit herrschte, konnten die eigentlichen Bergungsarbeiten erst bei Tagesanbruch beginnen.
Inzwischen hatte sich die Schlechtwetterfront verzogen, über Bremen strahlte die Sonne. Den eingesetzten Helfern bot sich ein Bild des Grauens. In Zinkwannen wurden die sterblichen Überreste der verstümmelten Opfer abtransportiert. Fünf Tage sollte es dauern, bis alle Passagiere und Besatzungsmitglieder einwandfrei identifiziert waren. Aus heutiger Sicht kurios der Umgang mit kleinen und kleinsten Wrackteilen, die kurzerhand unweit der Unfallstelle vergraben wurden.
Wilde Spekulationen um einen Kampf im Cockpit
Doch wie konnte es zu der Tragödie kommen? In der Boulevardpresse schossen schon bald die Spekulationen ins Kraut. Für eifriges Rätselraten sorgte vor allem eine ominöse Zange, die man in der linken Hand des Copiloten Schadhof gefunden hatte. Weil auf seiner Leiche die Leiche eines weiteren Opfers lag, wurde gemunkelt, es könnte im Cockpit zu einem Kampf gekommen sein. Womöglich sei ein Passagier in Selbstmordabsicht mit der Zange als Waffe ins Cockpit gestürmt, um die Piloten zu überwältigen.
Zu spät habe Schadhof ihm die Zange entreißen können. Als die Identität des Besitzers der Zange ans Licht kam, setzte eine erbarmungslose Pressehetze ein. Reporter umlagerten das Haus der Witwe nahe Frankfurt.
In Wahrheit war nichts dran an den Mutmaßungen, im Abschlussbericht schlossen die Experten vom Luftfahrt-Bundesamt kategorisch aus, dass sich ein Fluggast Zutritt zum Cockpit verschafft haben könnte. Wurden am obenauf liegenden Leichnam doch Reste eines zerrissenen Anschnallgurtes und ein Stück Sitzgestänge gefunden. Mit anderen Worten, erst durch die massive Wucht des Aufpralls war es zum Körperkontakt gekommen. Auf die gleiche Weise ließ sich auch die Herkunft der Zange erklären, die nicht zur Bordausstattung, sondern zum Handgepäck des 31-jährigen US-Staatsbürgers William Baker gehört hatte.
Was aber war die Absturzursache, wenn ein Fremdverschulden nicht in Betracht kam? Keine einfache Frage, weil die Unglücksmaschine nicht mit einem Flugschreiber ausgerüstet war. Freilich kristallisierte sich schon in der Voruntersuchung heraus, dass die Maschine nach dem Durchstarten in eine „stetig steiler werdende Aufwärtsbewegung“ geraten war. Nach dem Durchstarten wohlgemerkt. Bis zu diesem Zeitpunkt war noch nichts wirklich Dramatisches passiert. Deshalb spielte es auch überhaupt keine Rolle, dass Bremen kein Radarleitsystem hatte. Erst nach dem Durchstarten nahm das Unglück mit dem viel zu steilen Steigflug seinen Lauf. Die einleuchtende Erklärung der Fachleute: Flugkapitän Saalfeld habe schnell Höhe gewinnen müssen, um den Hindernissen in Landerichtung auszuweichen.
Pilotenteam beim Durchstarten in höchstem Maße gefordert
Für die beiden Piloten eine echte Herausforderung, zumal das Durchstarten bei schlechtem Wetter von ihnen „blitzschnelle Entscheidungen und koordinierte Handlungen“ erforderte. Waren sie der Situation gewachsen?
In den Expertenberichten klingen leise Zweifel an. Saalfeld habe „überdurchschnittlich lange Zeit benötigt, um Kapitän zu werden“, so eine kritische Anmerkung in der ersten Expertise. Zu berücksichtigen auch, dass sich Copilot Schadhof eigentlich noch in der Ausbildung befand. Saalfeld habe in dieser „fliegerisch schwierigen Lage“ nicht nur das Flugzeug lenken, sondern auch noch den Copiloten „aufmerksam überwachen“ müssen, dessen Pflichten bei diesem Manöver auf der Convair 440 „umfangreicher und schwieriger als auf jedem anderen Flugzeugmuster der Lufthansa“ seien.
Noch zusätzlich erschwert wurde das ohnedies anspruchsvolle Manöver durch die niedrige Fluggeschwindigkeit und die ausgefahrenen Landeklappen. Die fast unvermeidliche Folge: Saalfeld zog das Flugzeug stärker hoch als vorgesehen und brachte es gerade dadurch in einen zu steilen Steigflug. Im Abschlussbericht ist in diesem Zusammenhang von einem „Fehler“ die Rede, einem Pilotenfehler. Einer, der ihm auch angezeigt wurde. „Dieser Fehler war für ihn spätestens erkennbar, als er beim Erreichen der Wolkenuntergrenze wieder vom Sichtflug zum Instrumentenflug übergehen musste.“
Sekunden später dann der Strömungsabriss durch den „überzogenen Flugzustand“. In diesem Moment war das Schicksal der Maschine und ihrer Insassen besiegelt. Das Flugzeug geriet außer Kontrolle und „schmierte“ nach links ab. Bei zu starkem Hochziehen offenbar eine typische Reaktion der sonst als zuverlässig geltenden Convair 440. Von einer „Rolltendenz nach links“ sprachen die Experten und einem „wenig gutmütigen Überziehverhalten“. Vergebens versuchte der Pilot, durch heftige Quer- und Seitenruderausschläge die Schräglage zu korrigieren. „Nach dem Abkippen des Flugzeuges konnte der normale Flugzustand wegen der geringen Flughöhe keinesfalls mehr hergestellt werden“, lautete der lakonische Kommentar im Abschlussbericht.
Noch beim Aufschlag hielt der Copilot einen Bedienungshebel
Beim Aufschlag berührte der linke Flügel zuerst den Boden, dann die Nase des Flugzeugs. Dabei wurden die Insassen teils mit den Sitzen und Teilen des Rumpfes bis zu 36 Meter weit fortgeschleudert, abgerissene Gliedmaßen bedeckten die Unglücksstelle. Bei der Leiche des Kapitäns stellte der Obduktionsbericht eine „sehr schwere Kompression des Körpers in Pfeilrichtung“ fest.
Die Frage, ob eine plötzliche Herz-Kreislauf-Störung ungewollte Steuerbewegungen verursacht haben könnte, ließ sich aufgrund des schlechten Zustands der Leiche nicht abschließend klären. Derweil ergab die gerichtsmedizinische Untersuchung des Copiloten Schadhof, dass er mit der linken Hand noch im Augenblick des Aufschlags einen Bedienungshebel gehalten haben musste. Eine posthumer Ritterschlag, der auch durch den festgestellten Restalkoholgehalt von 0,24 Promille nicht beeinträchtigt wurde.
Bereits kurz nach dem Unglück erschien der italienische Vizekonsul beim Senat und drängte auf die Errichtung eines Gedenksteins an der Absturzstelle noch im Sommer 1966. Bis zur Umsetzung sollte es allerdings noch ein wenig dauern, erst im März 1967 wurde die Sandsteinstele mit den Namen der italienischen Opfer feierlich enthüllt. Aus Sicherheitsgründen wurde das Denkmal 1991 in den nahegelegenen Park Links der Weser versetzt.
Für Laien irritierend, dass bis heute zwei verschiedene Unglückszeiten kursieren. In der Presse war stets von 18.51 Uhr die Rede, doch in den Berichten des Luftfahrt-Bundesamtes taucht fast durchweg 17.51 Uhr als Absturzzeit auf. Eine Angabe, die sich auch im Internet wiederfindet. Die sachkundige Erklärung eines Fliegers unter den Bremen History-Lesern: In der Luftfahrt ist die Universal Time, Coordinated (UTC) ausschlaggebend. „Im Winter ist die UTC eine Stunde hinter der lokalen Zeit in Bremen. Also hatten sowohl die Presse als auch die Unfallermittler mit den jeweiligen Angaben recht, sie bezogen sich nur auf unterschiedliche Zeitzonen.“
Völlige Klarheit über die Absturzursache gibt es bis heute nicht. Auch wenn eine Überreaktion des Piloten als wahrscheinlich gelten muss, wollten sich die Experten im Abschlussbericht nicht festlegen. Das Fazit: „Wodurch der überzogene Flugzustand verursacht ist, konnte nicht eindeutig festgestellt werden.“
von Frank Hethey