Ischa Freimaak – vor 200 Jahren begann der Amüsierbetrieb
Nach fröhlicher Lesart ist der Freimarkt schon deshalb ein bald 1000 Jahre altes deutsches Volksfest, weil Bremen 1035 die Jahrmarktsgerechtigkeit erhielt. Nach bierseliger Lesart ist er sogar noch älter, weil 888 Bischof Rimbert von König Arnulf die Verfügung über Markt, Münze und Zoll erhielt.
Nüchtern historisch betrachtet hat der Freimarkt den Charakter eines Volksfestes allerdings erst vor gut zweihundert Jahren angenommen, als sich auch andernorts Kirmes, Jahrmarkt und Schützenfest zu einer weltlich-festlichen Veranstaltung für die gesamte Bevölkerung wandelten.
Kaum zufällig wurde die erste Schaukel auf dem Freimarkt im Jahre 1818 aufgebaut – 1834 waren bereits vier auf dem Domshof in Betrieb. Das bequeme Karussellfahren im Kreis, das in den Lustgärten der europäischen Fürsten bereits seit Jahrhunderten möglich war, ließ bis 1822 auf dem Freimarkt auf sich warten, als Anton Gercke das „Caroussel-Reiten“ einführte. Das Fahrgeschäft hatte einen Rundboden, auf dem hölzerne Pferde mit Mähnen, Schweifen und echten Sätteln sowie Kutschen montiert waren. Angetrieben wurde es – gegen den Uhrzeigersinn – durch kräftige Männer. Zusätzlich waren in Kopfhöhe Ringe angebracht, die während der Fahrt „gestochen“ bzw. mit dem Finger abgehakelt werden konnten. Leicht fiel das den Fahrgästen nicht – wer es schaffte, erhielt eine Freifahrt. Das „Große Caroussel-Reiten“ fand auf dem Domshof umgehend großen Anklang fand.
1825 dichtete ein Zeitgenosse:
Lustig, lustig stets im Kreise,
Nach des Lebens toller Weise,
Dreht sich dort das Caroussel,
Und es besteigt der Knabe schnell
Den muthigen Gaul,
Und die Dirne nicht faul
Nimmt im Wagen den Sitz,
Und fort wie der Blitz.
Ein Dampfkarussell mit Menschenkraft
Als sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Verkehrswege und die Anbindung des Umlandes verbesserten, belebte sich der Amüsierbetrieb auf dem Freimarkt spürbar. Das aufkommende Eisenbahnzeitalter nahm ab 1840 der Marktbezieher Heinrich Wetzel zum Anlass, das Publikum mit einem Dampfkarussell zu überraschen. Zwei Treppen führten zu einer Plattform hinauf, auf der ein von einer kleinen Lokomotive gezogener Zug mit acht Wagen seine Runden drehte. Die Kinder staunten, wenn der Lokomotivführer die Maschine bestieg, und nach kurzem Pfiff die Bewegung der Maschinenteile, wie des ganzen Zuges, begann. Allerdings wusste ein Journalist zu berichten:
Das Caroussel wird nicht durch Dampfkraft, sondern durch die Thätigkeit einiger unterirdischen, menschlichen Subjecte in Umschwung gebracht.
Zu den beliebten Attraktionen gehörten während des 19. Jahrhunderts zahlreiche Schaubuden. Manche beeindruckten die Leute mit flimmernden Panoramen (aus Tafelbildern zusammengesetzte Rundgemälde). Sie zeigten 1842 zum Beispiel das „schreckliche Ereigniß“ des Brandes von Hamburg und 1870/71 „Scenen aus dem deutsch-französischen Krieg“.
Auch die Bänkelsänger mit ihren wehmütig klingenden Singorgeln waren ein fester Bestandteil des fröhlichen Treibens. Sie schwangen sich auf einer kleinen Holzbank zum Wächter von Sitte und Anstand empor und beklagten „traurige Geschehnisse“, die durch eine Folge hinter ihnen aufgehängter bunter Bilder untermalt wurden. Der Singsang der Bänkelsänger begann zumeist mit den Zeilen: Höret Leute, die Geschichte,/ Die erst kürzlich ist gescheh’n. / Die ich treulich euch berichte, / Laßt uns d’ran ein Beispiel seh’n.
Die Freveltaten der Witwe Gottfried als Schaueinlage
Die Moritaten wurden während des 19. Jahrhunderts von den Freimarktsbesuchern entsprechend ernst aufgenommen – etwa die „Darstellung der Frevelthaten der Wittwe Gottfried“ im Jahre 1828 wie auch die des „Massenmörders Thomas“ 1876 – letzterer hatte 1875 durch einen Dynamit-Anschlag in Bremerhaven 81 Menschen in den Tod gerissen. Die hohe Zeit der Moritatendarbietungen endete zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Dass der Trubel die Jugend wie magisch anzog, zumal sie (bis 1875) vom damals üblichen Nachmittagsunterricht befreit war, versteht sich von selbst. Heinrich Helmers berichtete über das Geschehen um 1855:
Schaubuden, die 3, 6 und 12 Grote Entree nahmen, wurden grundsätzlich von uns gemieden; nur wo eine „Riesenkuh“, ein Schaf mit zwei Köpfen oder, wie damals, eine Wolfsfamilie von Wolff aus Wolfenbüttel für 1 Grote gezeigt wurden, konnten wir uns entschließen, unsere Kenntnisse durch solche „phänomenale“ Erscheinungen zu bereichern.
Leider wurde unser Wissensdrang aber meistens böse belohnt und wir wurden in diesen Buden in der Regel hinter’s Licht geführt. Entweder war die „Riesenkuh“ eine gewöhnliche, nur etwas breit ausgefallene Milchspenderin, bei dem Schaf mit zwei Köpfen, welches „immer gerade vor Ankunft in Bremen auf der Reise verstorben war“, und daher ausgestopft werden musste, sah man stets mit etwas scharfen Augen den zweiten angenähten Kopf, und die „Wolfsfamilie“ war ein Rudel gut genährter Wolfshunde. Mit welcher Wehmut haben wir oft noch lange von dem uns „abgeschwindelten“ Groten gesprochen. […]
An der Ecke der Buchtstraße und des Domshofs wurde auf dem Pflaster eine Pferdedecke ausgebreitet, und ein „Kunstreiter“, der ein Pony führte, von dessen Rücken er einen weiß bemalten Tisch und dito Stuhl nahm, „meldete dem verehrten Publikum“, daß sogleich eine Vorstellung in der höheren Pferdedressur, in der Akrobatik und Gymnastik vor sich gehen würde.
Der rauhe Mann mit dem abstoßenden Gesicht, so recht das Prototyp eines „Bein- und Armverrenkers“, stellte dann ein kleines vor Frost zitterndes Mädchen und einen etwa vierjährigen Knaben, die beide, wie er selbst, in schlotternden Flittertricots staken, als die „Künstler“ vor. Der Kleine wurde nun von dem Manne als Ball in die Luft geworfen, das Mädchen tanzte und machte gymnastische Produktionen, wobei sie Kußhand mit einem Leidensausdruck von den blassen Lippen warf; das Pony konnte die Höhe der Ziffern auf einer Tafel durch Fußscharren angeben, und der Mann „aß“ Feuer.
Erste Luftballons 1857
Von Luftballons war um 1855 noch nichts zu sehen. Sie erfreuten die Kinder auf dem Bremer Freimarkt das erste Mal 1857. Verkauft wurden sie von einem Berliner Handelsmann, der sie als „permanente Luftballons à la Paris in schöner rother Farbe“ pries. Sie waren fortan ein willkommenes Symbol für die Volksfestzeit und ein beliebtes Motiv der Grußkarten. Übrigens auch in Bremerhaven, wo seit 1852 (im August) auch ein aus einem Schützenfest hervorgegangener Freimarkt abgehalten wird.
Schießbuden erscheinen seit Ende der 1840er Jahre regelmäßig auf dem Freimarkt; 1886 gab es sechs, 1913 bereits knapp zwanzig. Zur Freude der zahlreichen „Caroussel“-Begeisterten kündigten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einige viel versprechende Neuerungen an. Den Auftakt machte ab 1870 ein Etagenkarussell mit Pferdeantrieb, auf dem „die liebe Jugend für nur 2 Grote länger reiten kann, als auf anderen Caroussels“.
Eine tatsächliche Neuheit traf 1881 ein: das Schiffskarussell „Die See auf dem Lande“ des Hamburger Schaustellers Wilhelm Stuhr. Die sechs Schiffe konnten gut hundert Personen aufnehmen und bewegten sich nicht nur von unten nach oben, sondern schwenkten auch vor- und rückwärts. Zudem war das mit einer „brillanten“ Gaslicht-Illumination versehene Fahrgeschäft ein echter Hingucker. (Ab 1880 durften generell nur noch Gaslichter anstatt der bis dahin üblichen Öl- und Petroleumlampen verwandt werden.)
Ein weiteres Schiffskarussell, das des Briten Savage Meyer, das durch 200 Gasflammen „tageshell“ erleuchtet wurde, gesellte sich hinzu. Die auf Abwechslung erpichten Jugendlichen belagerten es fortan förmlich, zumal es mit einer Dampfmaschine angetrieben wurde und erste Schnellfahrten offerierte.
Ab 1890 neu: die Berg- und Talbahn
Neben eher gemütlichen Karussellneuheiten wie etwa dem „Ballon-Caroussel“ (1885) und dem im Zuge der aufkommenden Fahrradbegeisterung eine Weile attraktiv erscheinenden „Velocipeden-Caroussel“ (1887), sorgte die durch die inzwischen transportablen Dampfmaschinen möglich gewordene neue Fahrgeschäftstechnik 1890 für eine Neuheit, die lange Jahre den Freimarkt prägte: die Berg- und Talbahn. Die erste präsentierte Wilhelm Stuhr, ab 1895 versetzte dann vor allem die „Venetianische Gondelbahn“ von Ignaz Franz Lambert die bremische Jugend ins Verzücken, in deren Mitte die Dampfmaschine den sich drehenden Plafond trug, an dessen Messingstangen die auf Schienen laufenden Gondeln befestigt waren. Welche Anziehungskraft die ersten Berg- und Talbahnen auf die jungen Bremerinnen und Bremer ausübte und auch, was für junge Damen aus der „besseren Gesellschaft“ zu beachten war, verdeutlicht die Schriftstellerin Marga Berck:
Als wir etwas älter waren, verbrachten wir die halben Nachmittage beim „Berg- und Tal“-Karussell am Liebfrauenkirchhof. Dort standen Jungens mit Pfauenfedern und kitzelten uns ins Gesicht, oder sie warfen uns kleine Blumensträuße zu. Einmal, als ich mit Bertha noch in der Berg- und Talkutsche saß, kam ein nett aussehender, fremder Jüngling und sagte zu mir, ob er mich für eine Partie einladen dürfte. Dankerfüllt wollte ich gerade annehmen, als Bertha mir zuflüsterte: „Das kannst Du nicht.“ Verlegen sagte ich zum Jüngling: „Nein danke.“ […] Wir gingen aber auch in viele Buden, z. B. zum Löwenmenschen, zu den Riesen und Zwergen, in den Flohzirkus, nur nicht ins Wachsfigurenkabinett, vor dem es uns grauste.
Während die Industrialisierung für technische Neuheiten (und nicht zuletzt für die Versorgung mit elektrischem Strom) sorgte, benötigten die Schausteller für ihre Geschäfte zunehmend größere Flächen, als sie die Altstadt bot.
Ab 1890 – und bis 1933 – fand der Freimarkt zusätzlich auch auf dem neustädtischen Grünen Kamp und dem Hohentorsplatz statt. Das neue Areal wurde vom Publikum sofort gut angenommen, bot es doch eine Fülle attraktiver Schaustellungen. So zogen um 1900 sowohl „Haberjan’s Reit-Institut“ wie auch „Mehlich’s Specialitäten Theater“ die Besucher an. Zugleich nahm die Zahl der neuartigen Fahr- und Belustigungsgeschäfte zu. Auf den beiden neuen Plätzen warteten fortan vor allem die so schwung- wie glanzvollen Neuheiten auf Wagemutige, deren Entwicklung damals vom „Karussellkönig“ Hugo Haase (1857 bis 1933) entscheidend vorangetrieben wurde.
Die „Grottenbahn“ als Highlight
1894 bereicherte Haase den Freimarkt zum Beispiel mit dem „wandelnden Trottoir“, das von einer Lokomobile angetrieben wurde und rund 300 Personen befördern konnte. Das Karussell hatte drei Podien, die mit verschiedenen Winkelgeschwindigkeiten kreisten und nach mehreren Umdrehungen wieder zusammentrafen. Es bereitete den Mitfahrenden ebenso viel Vergnügen wie die 1896 präsentierte „Grottenbahn“, deren neuartige „feenhafte“ elektrische Beleuchtung aus 700 Glüh- und acht Bogenlampen eine spezielle Dynamomaschine speiste. Die Bahn hatte mehrere aneinander gehängte Wagen, die auf einem Schienenkreis liefen, der im hinteren Teil in einen dunklen Tunnel mündete.
1907 avancierte das „Automobil- und Fahrrad-Blumen-Corso“ ebenso zum Tagesgespräch wie die spiralförmige Rutschbahn „Canadian Toboggan“, deren Turm die unübersehbare Höhe von 20 Meter hatte. Hinauf befördert wurde die von zahlreichen Zaungästen beobachtete bzw. beneidete zahlende Kundschaft mittels eines nicht minder Aufsehen erregenden Laufbandes. 1910 kamen Rutschbahnen mit eingebauten Tanzmaschinen hinzu sowie das „Teufelsrad“ und die „Original Teufelsmühle“ des Bremer Karussellentwicklers Ignatz Franz Lambertz.
Für eine Art kleine Völkerwanderung sorgte im September 1910 der Aufbau der ersten hölzernen „Figur-8-Bahn“ in der Neustadt, deren großes Balkengewirr von mehr als dreißig Arbeitern unter den neugierigen Blicken vieler Menschen in Form und Stabilität gebracht wurde. Es war die erste transportable Holzachterbahn überhaupt; Hugo Haase hatte sie 1909 dem Entwickler Max Stehbeck abgekauft und dann (mehrfach) nachgebaut. Die viersitzigen Chaisen, die durch eine Kette in den Turm gezogen wurden, legten bei der noch gemächlichen Fahrt dreimal eine regelmäßige Acht über Berg und Tal zurück. Steile Abfahrten gab es – noch – nicht. Der Erfolg der Achterbahn, die seitdem vom Freimarkt nicht hinwegzudenken ist, reizte andere Unternehmer zur – kostenträchtigen – Nachahmung. Viel Aufsehen erregte kurz vor dem Ersten Weltkrieg Heinrich Langes „Bremer Hoch- und Untergrundbahn“, die den doppelten Platz einer Achterbahn benötigte und als „das größte electrische Caroussel der Welt“ angepriesen wurde.
Technisch anspruchsvolle Karussells gelten seit nunmehr gut 100 Jahren als Inbegriff des seit 200 Jahren ausgelassen-volksfestartigen Freimarktsvergnügens. Auch kamen und kommen die Bremerinnen und Bremer in der fünften Jahreszeit zumeist mit als erste in den Genuss neuer Fahrgeschäftsentwicklungen. Ein Blick auf die futuristisch anmutenden Fahrgeschäfte dieser Tage, die den Gleichgewichtssinn und die Schwerkraft durch extrem ausgeklügelte Bewegungsabfolgen wahrlich auf die Probe stellen, reicht, um das bestätigt zu sehen.
Und ja, nach wie vor lockt der betörend süßliche Geruch von Waffeln und Zuckerwatte; Schmalzkuchen gab es auf dem Freimarkt übrigens erstmals 1847 zu naschen.
von Johann-Günther König