Als das Verbrechen quasi live vor dem Fernsehpublikum stattfand, bekam ich davon nichts mit. Im August 1988 lag ich am Mittelmeerstrand von Tossa. Ich war damals auch Polizeireporter, und genau genommen ärgerte ich mich darüber, diese, wie Kollegen und Kolleginnen sie später nannten, „Story meines Lebens“ verpasst zu haben.
Ein knappes Jahr später saß ich, damals 28 Jahre alt und mächtig aufgeregt, für die WESER-KURIER-Lokalredaktion im Schwurgerichtssaal des Essener Landgerichts – als einer von 60 Journalisten, die einen Presseplatz für den so ausgerufenen „Prozess des Jahres“ ergattern konnten. Aus dem Prozess des Jahres wurde ein Prozess der Jahre.
Das Gericht verzichtete darauf, wie etwa vor dem NSU-Prozess, vorab Akkreditierungen zu vergeben oder besser: zu verlosen. Damals hieß die Devise: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Also war ich am ersten Prozesstag um sechs Uhr morgens da – und wich bis um halb neun, als die Türen des Gerichts sich öffneten, nicht von meinem Platz an der Treppe zur Eingangstür des Landgerichts. Ein Kollege von Radio Bremen, der um halb neun aus dem Taxi stieg, musste draußen bleiben.
Insgeheim freute ich mich darüber, die örtliche Konkurrenz geschlagen zu haben. Wobei: War es nicht diese Konkurrenz um die besten Bilder, die besten O-Töne, die besten Fotos, die vor 30 Jahren zu dem öffentlichsten Verbrechen der Republik führten? War es nicht genau dieser Wettbewerb, der jede kritische journalistische Distanz verdrängte, wenn Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner eine Pressekonferenz mit Schusswaffe abhielt, während Komplize Dieter Degowski der Geisel Silke Bischoff seinen Revolver an den Kopf hielt?
Damals im Gerichtssaal waren solche Fragen ganz weit weg. Ich sollte berichten über das, was da stattfand – unvoreingenommen. Aber wie sollte das gehen? Man konnte doch keine gesunden Zweifel daran haben, dass Rösner und Degowski (unter Beteiligung von Rösners Freundin Marion Löblich) zwei Menschen umgebracht hatten und indirekt für den Tod eines Polizisten verantwortlich waren, der bei der Verfolgung ums Leben kam.
26 Verhandlungstage angesetzt
Als die drei Angeklagten in Handschellen hereingeführt wurden, schien es, als hätten sie plötzlich jede Brutalität abgestreift. Sie wirkten ernst, fast verschüchtert angesichts des vollen Saales und der vielen Juristen in ihren schwarzen Roben. 26 Verhandlungstage waren angesetzt. Am Ende waren es 110. Nicht über jeden Prozesstag lohnte es sich zu berichten.
Unzählige Tage vergingen mit Gutachter-Kauderwelsch. Psychologen, Gerichtsmediziner und Technikexperten berichteten kühl über Schuss-Eintrittswinkel, -Austrittswinkel, frühkindliche Hirnschädigungen, Abhängigkeit von Tabletten und Alkohol bei Dieter Degowski, Symptome psychischer Abhängigkeit Marion Löblichs von ihrem Partner Rösner.
Und was sagten sie über Rösner selbst? An ihm schieden sich die Geister. Wie konnte er zu dem werden, was er wurde: ein Schwerverbrecher? Das Gericht machte sich viel Mühe, seinen Werdegang zu durchleuchten. Kaum um seine Taten zu entschuldigen, eher um sie erklärbar zu machen.
Hans-Jürgen Rösner, „Hanusch“ wie seine Freunde ihn nannten, wuchs mit vier Geschwistern auf, sein kriegsinvalider Vater schlug ihn und seine Mutter. Er kam in die Sonderschule, wie die Einrichtung für lernbehinderte beziehungsweise -schwache Kinder damals hieß. Mit 14 wurde er zum ersten Mal verurteilt. Er verübte Einbrüche, Raubüberfälle, oft mit seinem geistig etwas zurückgebliebenen Kumpel und Schulkameraden Degowski zusammen.
Bis zum Überfall auf die Gladbecker Bank war er mehr im Gefängnis als auf freiem Fuß. Irgendwann ließ sich Rösner das Wort HASS auf eine Faust tätowieren. Er hasste es vor allem, nicht ernst genommen, nicht beachtet zu werden. Auf der zweiten Faust stand LOVE. Ein Indiz dafür, dass Rösner nur in Extremen leben konnte?
Gibt es bei ihm so etwas wie Ganovenehre, fragten wir Prozessbeobachter uns damals. Dafür gab es tatsächlich Beispiele. Als er etwa bewaffnet einen Autoverleih überfallen wollte, um sich einen Wagen zu besorgen, überlegte es sich der Angeklagte plötzlich anders. Rösner sagte dem Gericht: „Da humpelte so’n alter Opa hinterm Tresen. Der tat mir irgendwie leid. Da hab ich nur zwei Feuerzeuge gekauft.“
Aus der Haft entlassen
Wollte Rösner damit vor Gericht Eindruck schinden? Kaum anzunehmen. Ihm war zu Prozessbeginn längst klar, dass er zu lebenslänglich verurteilt werden würde. Schon nach Wochen beschwerte er sich im Gerichtssaal über die Dauer des Verfahrens: „Wat sabbelt ihr hier eigentlich rum?“. Er wolle seine Strafe „doch nicht im Gerichtssaal absitzen“.
Am 22. März 1991 dann das Urteil: Lebenslänglich für Dieter Degowski, Hans-Jürgen Rösner bekam obendrein anschließende Sicherungsverwahrung. Marion Löblich erhielt neun Jahre Gefängnis. Nach fünf Jahren wurde sie entlassen. Sie lebt irgendwo in Deutschland unter neuem Namen, weil sie Morddrohungen erhalten hatte.
Und heute? Dieter Degowski ist im Februar dieses Jahres aus der Haft entlassen worden, weil Gerichte und Gutachter ihm bescheinigten, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe. Ein neueres Foto in der Boulevardpresse zeigt den heute 62-Jährigen als kahlköpfigen Mann mit Brille und leichtem Bierbauch – auf der Straße würde man ihn kaum als den brutalen Mörder von 1988 wiedererkennen. Hans-Jürgen Rösner sitzt unterdessen weiter im Gefängnis in Aachen. Sein Anwalt kämpft derzeit um Vollzugslockerungen für seinen Mandanten zu erreichen.
Ob die beiden Haupttäter es verdient haben, nach so vielen Jahren Haft wieder freizukommen? Jemand, der gesehen hat, wie Aldo de Giorgi – der Vater des getöteten Emanuele – bei seiner Aussage vor Gericht in Tränen ausbrach, jemand der Wut, Trauer und Ohnmacht der Mutter von Silke Bischoff erlebt hat – so jemand sollte sich eines Urteils enthalten.
Das Urteil über Degowski, Rösner und Löblich sprach im Jahr 1991 der Vorsitzender Richter Rudolf Esders – ein stattlicher Mann und Jurist, der es verstand, nicht nur den Angehörigen und Zeugen, sondern auch den Angeklagten als Mensch zu begegnen.
Eine Szene ist mir noch in guter Erinnerung: Als der Vater von Emanuele de Giorgi das Gericht fragte, ob die Anwälte – unter ihnen auch der inzwischen verstorbene Rolf Bossi als Degowskis Pflichtverteidiger – auch „Bestien“ verteidigen, erklärte Esders ihm in ruhigem Ton: „Wir haben hier über Menschen zu urteilen, nicht über Tiere.“ Um dann an die Zuhörer im Saal hinterher zu schieben: „Wir haben hier einen Vater gehört, der ein Kind verloren hat.“
Verhalten der Medien beschäftigte das Gericht
Über das Versagen der Polizei ist die Wahrheitsfindung während des Prozesses nicht viel weiter gekommen. Esders hatte es versucht, aber die Beamten bekamen in den meisten Fällen von ihren Dienstherren keine Aussagegenehmigung. Auch das Verhalten der Medien hat das Gericht beschäftigt, wie man einem Interview entnehmen konnte, das Rudolf Esders, Jahrgang 1939, im Frühjahr der Neuen Ruhr-Zeitung (NRZ) gab.
Der Reporter fragt den ehemaligen Richter, ob damals die Nähe der Medien zu den Geiselgangstern ein Sündenfall war. Esders Antwort: „So weit will ich nicht gehen. Man darf ja nicht verkennen: Die Journalisten sind da auch irgendwie so reingerutscht. Im Bus war einer als Reporter getarnt und hat sondiert, was kann man machen.
Der Leiter des Kölner Spezialeinsatzkommandos war in der Fußgängerzone mit dem ganzen Oberkörper im Wagen drin. Den „Sündenfall“ sehe ich ganz woanders.“ Der Reporter fragt nach: „Nämlich wo?“ Und Esders hat aus der Erinnerung heraus sofort ein Beispiel parat: „Ein freies Kamerateam hat an der Autobahnraststätte Degowski und die Geisel Silke Bischoff interviewt. Da fragt der Reporter: „Würden Sie denn wirklich auf eine Geisel schießen?“
Was soll Degowski da sagen: Soll er sagen, „das würde ich nie machen“? Dann ist er seine Drohkapazität los. Also sagt er: Selbstverständlich würde er schießen. Damit hat er sich aber nach außen hin gebunden. Das war, kurz bevor er Emanuele De Giorgi erschoss. Man kann darüber nachdenken, ob das nicht fahrlässige Tötung seitens der Journalisten war.“
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