Aufgehoben und vergessen, Teil 1: Die Petristraße an der Domsheide (1843 bis 1960) 

Hektische Betriebsamkeit: die Petristraße im Sommer 1959. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Hektische Betriebsamkeit: die Petristraße im Sommer 1959. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Kein einfaches Leben hatten im Oktober 1904 die Büro-Angestellten des Börsennebengebäudes. „Bei südöstlichen Winden können keine Fenster geöffnet werden, ohne dass sogleich alles in den Zimmern durch schwarze Rauchablagerungen beschmutzt und die Luft durch Rauch verdorben wird“, klagte als Hausherr der Präses der Handelskammer. Den Grund des Ungemachs kannte er ganz genau: die Schornsteine der beiden Speisewirtschaften an der benachbarten Petristraße. Nur „möglichst schleunige Abhülfe“ könne der Rauch- und Rußbelästigung ein Ende bereiten.

Da kommen selbst kundige Bremer ins Grübeln. Eine Petristraße in direkter Nachbarschaft zum Börsennebengebäude? Die sucht man heute vergebens.

So gut wie nichts erinnert noch an ihre frühere Existenz. Allenfalls der Name Petrihof als Bezeichnung des länglichen Anbaus an den Börsenhof B. Das strahlend weiße Bauwerk mit Zigarren Knust im Erdgeschoss markierte einst den westlichen Verlauf der Petristraße, zusammen mit dem heutigen McDonald’s-Gebäude. Einen freien Blick in Richtung Domsheide hatte man nicht, ein Häuserblock versperrte die Sicht. Stand man auf Höhe von Zigarren Knust, war von der Glocke nur ein kleiner Teil zu sehen.

Die winzige, kaum 50 Meter lange Petristraße gehört zu jenen Straßen, die beim Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren auf der Strecke geblieben sind. Oder „aufgehoben“ wurden, wie es im bürokratischen Fachjargon heißt. Das vielleicht bekannteste Opfer dieser Neuordnung war die altehrwürdige Molkenstraße, die früher parallel zur Langenstraße verlief und im Zuge des Martini-Durchbruchs vom Stadtplan verschwand. Ein Schicksal, das bis in die frühen 1960er Jahre mehrere Dutzend Straßen ereilte.

Merkwürdig nur, dass der Petristraße in der regionalhistorischen Literatur keinerlei Aufmerksamkeit zuteil wird. Weder in den Straßenlexika noch den Standardwerken zur Bremer Geschichte findet sich auch nur ein Wort über die Petristraße. Fast so, als hätte es sie nie gegeben. Erst ein Gang ins Bremer Staatsarchiv bringt Licht ins Dunkel.

Mehr Gasse als Straße

Häuser und Gärten: das Areal südlich des Doms auf dem Murtfeldt-Stadtplan von 1796. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Häuser und Gärten: das Areal südlich des Doms auf dem Murtfeldt-Stadtplan von 1796.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Gerade weil die Petristraße mehr Gasse als Straße war, könnte man sie für ein Überbleibsel aus dem Mittelalter halten. Doch weit gefehlt, tatsächlich wurde sie erst im September 1843 angelegt. Und nicht 1834, wie in den Bremer Adressbüchern zu lesen ist. Offenbar ein Zahlendreher, der von einem Adressbuch ins andere übertragen wurde. Ein schönes Beispiel für das Beharrungsvermögen fehlerhafter Angaben.

Den Antrag stellten zwei Investoren, die das Grundstück gekauft hatten und mit dem Bau von Wohnhäusern ordentlich Geld verdienen wollten. Dabei drückten sie mächtig auf die Tube, um „die Ausführung dieses Prospects so viel wie thunlich zu vereinfachen und zu beschleunigen“. Private Initiative beim kombinierten Straßen- und Häuserbau war damals ein durchaus übliches Modell in Bremen.

Bis dahin erstreckte sich vom Markt bis ungefähr zum heutigen Postgebäude an der Domsheide ein zusammenhängendes Areal mit der Wilhadi-Kapelle in der Mitte. Dicht bebaut war es allerdings nur im Westen, im östlichen Bereich gab es noch einen Hofplatz und den Pfarrgarten.

Neue Häuser: die vorgesehene Bebauung auf einer Planskizze von 1843.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Dieses Areal sollte nun also eine neue Straße durchschneiden. Wobei der nahe St. Petri-Dom als Namensgeber Pate stand. Freilich konnte sich die ursprüngliche Bezeichnung „St. Petri-Straße“ nicht behaupten, schon bald sprach man nur noch von der Petristraße.

Zum Schnäppchenpreis war die Verbindung indessen nicht zu haben, sämtliche Kosten hatten die beiden „Supplicanten“ aufzubringen. Und dabei allerlei Vorschriften zu beachten, wie aus den einschlägigen Akten im Staatsarchiv hervorgeht. Zum Beispiel die, dass beim Häuserbau „keinesfalls in den Abrundungen eine Thüre angelegt werden darf“ – gemeint waren die Hauspartien im Eckbereich zu den Nachbarstraßen.

Ein Weinkranz als corpus delicti

Eine erhaltene Planskizze vermittelt einen sehr anschaulichen Eindruck von der Gestaltung der Häuser auf der westlichen Straßenseite. Einigermaßen kurios dabei: Drei unterschiedliche Fassaden erwecken den Anschein, man habe es mit einer entsprechenden Anzahl von Häusern zu tun. Dem Grundriss zufolge verbargen sich hinter den drei Fassaden aber sechs Häuser, so viele Hausnummern gab es auch.

Schon in ihren frühen Jahren beherbergten die Häuser an der Petristraße gastronomische Betriebe, die auch immer mal wieder aktenkundig wurden. Der Schankwirt Menze, Betreiber des Petrikellers, habe „über öffentlichem Grunde und ohne polizeiliche Erlaubniß“ einen Weinkranz angebracht, monierte ein Polizeibericht im Januar 1871. Mit „deutscher Ordnung“ war das natürlich nicht vereinbar – nur drei Tage später war das corpus delicti wieder entfernt.

Kurz vorm Ende: Ein Kleinlaster passiert die Kreuzung Petristraße/Marktstraße. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Kurz vorm Ende: Ein Kleinlaster passiert die Kreuzung Petristraße/Marktstraße. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Mit der mittelalterlich anmutenden Gemütlichkeit war es vorbei, als von 1861 bis 1864 der monumentale Bau der Neuen Börse aus dem Boden gestampft wurde. Neben den Patrizierhäusern an der Ostseite des Markts musste auch die Wilhadi-Kapelle dem Koloss weichen. Der Rundbau des Börsennebengebäudes (heute Börsenhof A) rückte dicht heran die Petristraße.

Und die Welt der Kontore kam noch näher, als 1880 der Klinkerbau des Börsenhofs B fertiggestellt wurde. Quasi als Arrondierung gesellte sich 30 Jahre später der Petrihof-Anbau hinzu – von nun an war ein großer Teil der westlichen Petristraße nicht mehr bewohnt, sondern Nutzfläche für Büros.

Der Bau des Bankhauses Friedrich Brüning 1928 an der Domsheide (heute McDonald’s) brachte diese Entwicklung zum Abschluss. Ein merkwürdiger Gegensatz: auf der einen Seite der Petristraße die große Geschäftswelt, auf der anderen kleines Gewerbe. Im Haus Nr. 7 waren 1934 ein Buchbinder, ein Friseur und ein Uhrmacher anzutreffen.

Kleines Sichtfenster von der Weser zur Petristraße

Drangvolle Enge: Mitunter gab es kein einfaches Durchkommen in der Petristraße. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Drangvolle Enge: Mitunter gab es kein einfaches Durchkommen in der Petristraße. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Nicht erst der Zweite Weltkrieg griff massiv in das Aussehen der Altstadt zwischen Weser und Domsheide ein. Bereits 1935 war die vorspringende Häuserzeile auf der Westseite der Balgebrückstraße für einen Parkplatz beseitigt worden, erstmals öffnete sich damit ein kleines Sichtfenster von der Weser bis zur Petristraße. Die Bomben leisteten wenig später ganze Arbeit, aus dem Sichtfenster wurde eine Schneise. Kaum ein Gebäude auf der östlichen Seite der Balgebrückstraße blieb erhalten.

Doch was tun mit der Trümmerlandschaft? In Fachkreisen bestand einhelliger Konsens darüber, dass die zerstörten Häuser nicht einfach wiederaufgebaut werden sollten. Es klingt fast ein bisschen makaber: Aber die Stadtplaner sahen in den Verwüstungen eine Chance, Bremen neu zu erfinden. Eine einmalige Gelegenheit, die Stadt frei von historischen Fesseln so zu gestalten, wie moderne Bedingungen es erforderten.

Die Petristraße hatte in diesen Planspielen von Anfang an keine Zukunft. Bereits kurz nach Kriegsende spukte der Gedanke einer Ostumgehung des Markts in den Köpfen von Politikern und Planern herum. Die Verkehrsströme und vor allem die Straßenbahn sollten über die Balgebrückstraße ins Zentrum gelangen. Die Häuser der Petristraße standen dabei buchstäblich im Weg.

Das Ende: Auf der Balgebrückstraße sind im Sommer 1960 die Straßenbahnschienen schon verlegt, im Hintergrund ist der Torso des schon fast komplett abgerissenen Eckhauses Petristraße/Marktstraße zu sehen. Quelle: Stadtteilarchiv Neustadt

Das Ende: Auf der Balgebrückstraße sind im Sommer 1960 die Straßenbahnschienen schon verlegt, im Hintergrund ist der Torso des schon fast komplett abgerissenen Eckhauses Petristraße/Marktstraße zu sehen. Quelle: Stadtteilarchiv Neustadt

Das bekam auch der Eigentümer von Nummer 7 zu spüren. Wenigstens das Erdgeschoss des stark zerstörten Gebäudes wollte er provisorisch als Gaststätte wieder nutzbar machen. Ein Bauunternehmer bestärkte ihn in seinem Vorhaben, zumal die Kellerdecke noch in gutem Zustand sei. Doch in den Amtsstuben gab es Bedenken, weil ein ähnliches Ansinnen von zwei Grundstückseigentümern im gleichen Block bereits abschlägig beschieden worden war. Ein Aktenvermerk vom März 1951 gab dann die Richtlinie vor. Das Grundstück sei „von einer vorgesehenen Marktumgehung direkt betroffen“, hieß es da. Nach dieser Planung befinde sich der Gebäudekomplex „auf zukünftigem Straßengrund“.

Der Ruine bekam die Entscheidung nicht sonderlich gut. Schon bald machten sich nicht Gäste, sondern holzzerstörende Pilze in den Trümmern breit. Der Nachbar beschwerte sich, sein Treppenhaus leide schon sehr unter diesem Übel. Doch auch ihm blieben nur noch wenige Jahre in seinem unversehrten Haus. Im September 1960 wurde es als das letzte Gebäude an der früheren Petristraße abgerissen.*

von Frank Hethey

Aufgehoben und vergessen: So lautet eine neue Serie auf Bremen History, die sich mit Straßen beschäftigt, die es heute nicht mehr gibt. Zahlreiche Fälle stammen aus den frühen Nachkriegsjahren, als infolge des Wiederaufbaus ganze Stadtteile neu strukturiert wurden. Doch auch aus früherer Vergangenheit sind vergleichbare Fälle bekannt. Ein spannendes Kapitel Bremer Stadtgeschichte.

*Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine erweiterte Fassung eines Artikels, der am 15. Juli 2016 im Weser-Kurier erschienen ist.

Keine freie Sicht auf die Glocke: Die östliche Seite der Petristraße versperrte den Blick auf das Künstlerhaus. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Keine freie Sicht auf die Glocke: Die östliche Seite der Petristraße versperrte den Blick auf das Künstlerhaus.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

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