Warum der Cholera-Ausbruch von 1892 in Hamburg mehr als 8600 Tote forderte, in Bremen aber nur sechs

Als Robert Koch am 24. August 1892 in Hamburg eintraf, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Seit gut einer Woche wütete die Cholera in der Elbmetropole, bei brütender Hitze wuchs von Tag zu Tag die Zahl der Infizierten, forderte die Epidemie neue Todesopfer. Wie auf einem „Schlachtfeld“ fühlte sich der berühmte Bakteriologe, eben noch lebensfrohe Menschen lagen jetzt in langen Reihen da, wie „von unsichtbaren Geschossen dahingestreckt“. Und das große Sterben in Hamburg fing damals erst an, bis Oktober kostete die Seuche 8605 Menschen das Leben.

Wie anders dagegen die Situation in Bremen. Trotz der regen Verbindung mit Hamburg sei die Cholera „an Bremen spurlos vorübergegangen“, brüstete sich noch 15 Jahre später Eugen Götze, Direktor der Wasserwerke. Völlig zutreffend war das zwar nicht, in Bremen gab es auch Tote. Allerdings war deren Zahl ziemlich überschaubar, nur sechs Menschen fielen der Seuche an der Weser zum Opfer. Der letzte Choleratote in Bremen wurde am 3. September gezählt.

Woher die augenfällige Differenz? Warum hinterließ die Cholera in Hamburg so viele Tote, in Bremen aber nur ein halbes Dutzend? Und das, obwohl beide Städte nicht nur vielfach verbunden waren, sondern als Durchgangsstation für Auswandererströme aus Osteuropa auch ähnlich anfällig hätten sein müssen? Robert Koch war sich sicher, der Cholera-Erreger sei von russischen Migranten eingeschleppt worden und habe sich dann übers Trinkwasser rasend schnell verbreitet.

Robert Koch war erschüttert

Die Zustände in Hamburg bereiteten ihm Kopfzerbrechen: Robert Koch.
Quelle: Wilhelm Fechner

Betroffen waren vor allem die Bewohner des Gängeviertels, damals die Slums von Hamburg. Als Koch die Armenquartiere inspizierte, war er erschüttert über die hygienischen Verhältnisse. Seinen Begleitern vom Senat schrieb er ins Stammbuch: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde.“

In der Forschung gilt der letzte große Cholera-Ausbruch in Deutschland als vermeidbare Katastrophe. Als Lehrstück für eklatantes Behördenversagen. Denn in den Hamburger Amtsstuben hätte man es damals schon längst besser wissen können. Oder vielmehr: besser wissen müssen. Doch statt beizeiten Abhilfe zu schaffen, verschlossen die Verantwortlichen lieber die Augen. Eine Vorgabe von 1872 schrieb den Ärzten sogar explizit vor, bei Einzelfällen besser Brechdurchfall statt Cholera zu diagnostizieren. Man fürchtete, der Handel könnte durch unwillkommene Quarantänemaßnahmen beeinträchtigt werden.

Um nur ja kein Aufsehen zu erregen, war man auch bereit, das auf Reichsebene installierte Frühwarnsystem zu unterlaufen. Geradezu legendär ist der Ausspruch von Senator Gerhard Hachmann geworden. Auf die besorgte Nachfrage des amerikanischen Vizekonsuls antwortete er noch am 22. August 1892: „Es gibt in Hamburg keine Cholera.“

Das war noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Eine Woche zuvor war der erste Fall aufgetreten. Wieder einmal. Seit Jahrhunderten hatte die Brech- und Durchfallerkrankung als Epidemie nur den indischen Subkontinent heimgesucht. Doch 1817 tauchte die „asiatische Cholera“ erstmals auch außerhalb Indiens auf, 1823 erreichte die Seuche schließlich Russland und Europa. In mehreren Wellen überrollte die Cholera seither den Kontinent, Zigtausende gingen elend an der Krankheit zugrunde.

Fieberhaft suchten die Mediziner nach dem Auslöser der Pandemie. Lange Zeit galten „miasmatische“ Dünste aus dem Erdreich als Ursache des Übels. Doch bereits 1849 kam man in England dem wahren Erreger auf die Spur: Mikroorganismen in verseuchtem Trinkwasser. Bis sich diese Erkenntnis in Deutschland durchsetzte, sollten allerdings noch Jahrzehnte ins Land gehen. Erst Robert Koch identifizierte 1884 komma-förmige Bakterien als Erreger der Cholera.

Verspäteter Einsatz: die Hamburger Staatsbarkasse beim Desinfizieren eines Elbekahns.
Quelle: Die Gartenlaube

Zu diesem Zeitpunkt hatte Bremen schon längst begonnen, seine Trink- und Abwasserversorgung zu modernisieren. Angesichts der zunehmenden Verunreinigung der Gewässer war das auch eine hygienische Notwendigkeit. Vorbei die Zeiten, da man aus demselben Fluss ungefiltert das Trinkwasser entnahm, in den auch die Fäkalien entsorgt wurden. In Bremen sorgte das Wasserwerk auf dem Stadtwerder seit den 1870er-Jahren dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nur noch gefiltertes Trinkwasser erhielt.

Freilich lief nicht alles rund in Bremen, eine zeitgemäße Stadthygiene ließ auch an der Weser lange auf sich warten. Dass sich das änderte, ist ganz wesentlich Carl Anton Eduard Lorent zu verdanken, dem Leiter der 1851 eröffneten Krankenanstalt an der St. Jürgen-Straße, heute Klinikum Mitte. Als Gründer des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege schuf er in Bremen überhaupt erst ein Bewusstsein für den Wert von Hygiene, ohne seinen unermüdlichen Eifer wäre die Medizinalordnung von 1871 kaum zustande gekommen, hätte sich der Senat weiterhin eher von Laien als vom Gesundheitsrat beraten lassen, einem Expertengremium medizinischer Fachleute. „Am sichersten wurden die nichtärztlichen Berater kleinlaut, wenn Cholera drohte“, schreibt Lorent-Kenner W.O. Focke.

Die Hausaufgaben gemacht

Lorents Beharrungsvermögen blieb nicht ohne Folgen. Als es ernst wurde, hatte Bremen seine Hausaufgaben gemacht. „Anders als Hamburg hatte Bremen Vorkehrungen für eine mögliche Choleraepidemie getroffen“, sagt Norman Aselmeyer, Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen. „Noch bevor ein einziger Fall registriert wurde, erhielten die Bewohner Bremens amtliche Hygienehinweise, die einer individuellen Ansteckung mit der Krankheit und damit einer schnellen Ausbreitung vorbeugen sollten.“ Davon konnte in Hamburg keine Rede sein, ausgerechnet die Sozialdemokraten mussten dem Senat beim Druck amtlicher Bekanntmachungen unter die Arme greifen.

Kaum gingen die ersten Cholera-Meldungen aus Hamburg ein, wurde das öffentliche Leben in Bremen rigoros heruntergefahren. Schon am 30. August wurden auf Empfehlung des Gesundheitsrats die beiden Schwimmhallen geschlossen. Betroffen war auch die ­Sedanfeier am 2. September. Der Festtag zur Erinnerung an den entscheidenden Sieg über die Franzosen im Krieg von 1870/71 ging nur in beschränktem Rahmen über die Bühne. Fünf Tage später wurde der traditionelle Freimarkt abgesagt, am 8. September erging ein Verbot für sämtliche Tanzveranstaltungen.

Die Maßnahmen zeigten Wirkung: Bereits am 12. September 1892 wurde Bremen von der Reichsregierung für seuchenfrei erklärt. Zu diesem Zeitpunkt war die Epidemie in Hamburg noch längst nicht überstanden. Doch man sah auch in Bremen noch Verbesserungspotenzial. Als möglicher Seuchenherd war den Behörden vor allem der Balgekanal ein Dorn im Auge. Seit 1838 floss der Weserarm unterirdisch, nun hielt die Bürgerschaft es „im gesundheitlichen Interesse für dringend geboten“, die verbliebenen Abschnitte so schnell wie möglich zu beseitigen.

Eine weitere Folge: Im März 1893 wurde das Bakteriologische Institut ins Leben gerufen, das heutige Hygiene-Institut. Erst als Lehre aus der Cholera mussten auch die Abortgruben seit 1892 jährlich gereinigt werden. Als im Spätsommer 1905 abermals eine Epidemie drohte, funktionierte das Abwehrsystem tadellos. Es habe sich gezeigt, so das zufriedene Fazit eines beteiligten Mediziners, „daß die einzelnen Räder der ganzen Maschinerie gut ineinander griffen“.

Verunreinigtes Trinkwasser sorgte 1892 für die rasante Verbreitung der Cholera in Hamburg. Zur Abhilfe wurde an die Bevölkerung abgekochtes Wasser ausgegeben.
Quelle: Die Gartenlaube

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