Vor 90 Jahren starb der Polizist Gottfried Talle bei einer Bombenexplosion – Heldenstatus war umstritten
Eigentlich war die Situation schon unter Kontrolle, als der Polizist Gottfried Talle am Abend des 10. Juli 1932 durch eine Bombenexplosion ums Leben kam. Eine siebenköpfige Gruppe von Kommunisten hatte in Grambke einem Konvoi der SA auflauern wollen. Bei Erscheinen der Polizei versuchten die Verdächtigen zu fliehen, wurden aber gestellt. Talle und seine Kollegen suchten das Gelände ab, dabei stieß der 24-jährige Wachtmeister auf ein sonderbares Eisenrohr. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um eine selbst gebastelte Bombe mit Aufschlagzünder. Der junge Polizist war auf der Stelle tot – in der Presse hieß es, die Detonation habe ihn „buchstäblich zerrissen“. Als „Blutzeuge der Bewegung“ machte er posthum Karriere. Doch ungeteilten Beifall gab es dafür nicht.
Vor 90 Jahren herrschte ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein im ganzen Reich. Die Wirtschaftsdepression brachte die Menschen zur Verzweiflung, die Weimarer Republik taumelte ihrem Untergang entgegen. Kurz vor den Neuwahlen zum Reichstag am 31. Juli stand Deutschland am Rande eines Bürgerkriegs. In zahlreichen Orten kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, kein Tag verging ohne neue Schreckensmeldungen. Besonders nachdrücklich ist der „Altonaer Blutsonntag“ vom 17. Juli 1932 mit 18 Toten in Erinnerung geblieben.
Mit dem Tod Talles erreichte die Gewalteskalation in Bremen einen neuen Höhepunkt. Im Sommer und November 1931 waren bereits die beiden SA-Männer Johann Gossel und Wilhelm Decker bei der Konfrontation mit ihren kommunistischen Gegnern getötet worden. Nun ereilte das gleiche Schicksal zum ersten Mal einen Polizeibeamten. Noch dazu einen jungen Mann, der sich als erfolgreicher Sportler einen Namen gemacht hatte. Talle war amtierender norddeutscher Meister im Zehnkampf. Am Tag vor seinem Tod hatte er noch beim Abschiedssportfest für die deutschen Olympia-Teilnehmer im Weserstadion mitgewirkt.
Als lediger Mann hinterließ Talle weder Frau noch Kinder. Wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist, war der Verlust für seine Mutter besonders tragisch. Wenige Jahre zuvor hatte sie ihren Mann verloren, im Ersten Weltkrieg waren die beiden älteren Söhne gefallen – und nun starb auch noch der jüngste Spross eines gewaltsamen Todes. Sogar die verhafteten Attentäter bedauerten das Geschehen. Man habe ausschließlich SA-Männer und keinesfalls Polizisten treffen wollen, erklärte einer von ihnen in seiner Vernehmung. Die KPD distanzierte sich von dem gescheiterten Anschlag und sprach von einer inszenierten Provokation.
Seine letzte Ruhe fand Talle in Lingen an der Ems, seiner Heimatstadt. Das geschah laut Bremer Nachrichten „auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen“. Schon die Überführung seiner Leiche wurde zu einem öffentlichen Ereignis. „Langsam bewegte sich der Trauerzug vom Beerdigungsinstitut in der Humboldtstraße über die Weserbrücke zur Kattenturmer Heerstraße“, meldete das Blatt. Bei der Beisetzung waren führende Senats- und Polizeivertreter zugegen. Den Grabstein finanzierte offenbar die NSDAP, die Mutter bedankte sich dafür im Juli 1933 „mit deutschem Gruß“.
Die Bremer Nationalsozialisten reklamierten Talle von Anfang an als einen der ihren, posthum erklärte man ihn zum SA-Kämpfer ehrenhalber. Bereits zum Begräbnis steuerten SA und SS „prächtige Kränze“ bei. „Durch deinen Tod wurdest du SA-Mann wie wir und marschierst an unserer Seite für das gleiche Ziel, für Deutschland“, erklärte SA-Standartenführer Ernst Köwing. In der Parteizeitung hieß es im November 1935, Talle habe „hundert SA-Kameraden das Leben“ gerettet und sei dadurch „selber Blutzeuge“ geworden. Dabei war der Anschlag nach Aussage eines Beteiligten vor allem deshalb gescheitert, weil sich an der Bahnbrücke wider Erwarten nur ein einziger Nazi hatte blicken lassen.
Zu NS-Zeiten wurde Talle in Bremen gleich mehrfach geehrt. Den Anfang machte ein Gedenkstein am Tatort, der am 10. Juli 1933 – dem ersten Jahrestag seines Todes – enthüllt wurde. Im Dezember 1933 wurde die Nelkenstraße in Utbremen nach ihm benannt, dort gab es später auch ein Gottfried-Talle-Haus. Damit nicht genug, erhielt der frühere Korff’sche Park in Oslebshausen am vierten Jahrestag im Juli 1936 den Namen Gottfried-Talle-Park, heute Oslebshauser Park. Zugleich platzierte man in der Anlage zu seinen Ehren einen fast mannshohen Findling mit Inschrift.
Talle wurde damit Teil des bizarren NS-Totenkults zum Andenken an die „Gefallenen“ der „Kampfzeit“ zwischen 1923 und 1933. In Bremen erhielten diesen Heldenstatus neben Talle die SA-Leute Gossel und Decker, nach Gossel wurde auch das ehemalige „Rote Haus“ am Buntentorsteinweg benannt. Darüber vergaß man indessen den Reedersohn Johann Rickmers, der am 9. November 1923 beim Hitler-Putsch in München mitmarschiert war und ein paar Wochen später einer Schusswunde erlag (mehr dazu hier). Erst 1936 wurde der in Wiesbaden geborene Rickmers als „echtes Bremer Kind“ entdeckt und zu seinen Ehren ein Sandsteinblock im Eingangsbereich des heutigen Rhododendronparks aufgestellt.
Dass ausgerechnet die SA gegen die Ehrung Talles protestierte, erscheint nur auf den ersten Blick kurios. „Die Gruppe Nordsee lehnt Talle als Blutzeugen der Bewegung ab“, teilte Brigadeführer Albrecht Brugger dem Regierenden Bürgermeister Otto Heider im November 1936 mit. Zur Begründung hieß es, Blutzeuge der Bewegung könne nur sein, wer als ihr Vertreter vom politischen Gegner ermordet worden sei. Dieses Kriterium erfülle der Wachtmeister nicht. Denn: „Talle fiel als bezahlter Polizeibeamter bei der Ausübung seines Dienstes.“ Deshalb tauche Talle in der parteiamtlichen Totenliste auch nicht auf – es sei „eine Anmaßung, hier selbständig Änderungen vorzunehmen“.
Alles andere als begeistert reagierte NS-Innensenator Theodor Laue auf den Vorstoß der SA. Deren Gesinnungsumschwung führte er auf einen Wechsel des Führungspersonals zurück, die neuen Köpfe seien eben nicht vertraut mit den Bremer Verhältnissen. Zwar gab er im Antwortschreiben zu, dass Talle rein formell kein Blutzeuge der Bewegung sein könne. Im gleichen Atemzug betonte er jedoch ohne irgendeinen Beleg, Talle habe „bewiesenermaßen unseren Nationalsozialisten sehr nahe gestanden“, immerhin sei er „seinen bedrängten SA-Kameraden zu Hilfe geeilt“. Deutlich nüchterner, fast zynisch äußerte sich Laue gegenüber Heider. Dabei machte er keinen Hehl daraus, dass die Bremer Polizei von Talles Instrumentalisierung wenig hielt. „Damals brauchte man aber für die Propaganda Material und bezog sehr gern den Hauptwachtmeister Talle in den Kreis der Blutopfer der Bewegung ein.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erinnerung an Talle systematisch getilgt. Die nach ihm benannte Straße erhielt ihren alten Namen wieder, später wurde sie Teil der Hegemannstraße. Zum Verbleib des Findlings im Oslebshauser Park gibt es laut Kulturhaus Walle keine gesicherten Informationen. Andernorts wurden solche Hinterlassenschaften kurzerhand vergraben. Für den Rickmers-Stein im Rhododendronpark fand man eine neue Verwendung, die kompromittierende Inschrift ist seither dem Erdreich zugekehrt. Auf dem Alten Friedhof in Lingen steht nach wie vor der Talle-Grabstein. Ob noch am Originalstandort, ist laut Friedhofskommission aber nicht sicher.