Ein Erfolgsbuch vergangener Tage: die Ottjen Alldag-Trilogie von Georg Droste. Quelle: Privat

Ein Erfolgsbuch vergangener Tage: die Ottjen Alldag-Trilogie von Georg Droste.
Quelle: Privat

Zum 150. Geburtstag von Georg Droste (1866 bis 1935): Der niederdeutsche Schriftsteller legt Zeugnis ab von einer untergegangenen lokalen Kultur

Am 13. Dezember 2016 können wir einen besonderen Geburtstag feiern. Georg Droste, der Autor des Romanzyklus Ottjen Alldag und vieler weiterer Schriften in und zum Bremer Platt, wurde vor 150 Jahren in Bremen geboren. Für viele Bremer und nach Bremen Zugezogene steht sein Name und sein Werk für das ursprüngliche, durch die turbulente Entwicklung vor und nach 1900 noch nicht umgewandelte Bremen. Sein Werk beweist, dass es nicht nur ein eigenes Bremer Platt gab, es gab auch eine lokale Kultur, die sich durchaus von der des Umlands und der Großregion unterschied. Insofern sind Droste und sein Werk auch eine Manifestation der Bremischen Selbständigkeit und der Würde der alten Hansestadt.

Georg Droste wurde am 13. Dezember 1866 als Sohn eines Schneidermeisters in Bremen geboren. Die sechsköpfige Familie lebte in einfachen und finanziell bescheidenen Verhältnissen. So war es für den jungen Georg selbstverständlich, dass er trotz seiner Aufgeschlossenheit und Begabung nur die Freischule besuchen konnte. Er wäre nach seiner Konfirmation gerne weiter zur Schule gegangen, um Lehrer zu werden. Da er Rücksicht auf die finanzielle Situation der Familie nehmen musste, nahm er in einer Buchhandlung eine Stelle als Laufjunge an, um die Familie zu unterstützen.

Der Geschäftsinhaber des Buchladens war von der Begabung und dem Bildungshunger Georgs sehr angetan. Er verschaffte ihm eine Lehrstelle bei einem Wollkaufmann, da er meinte, Georg würde es im Leben einmal weit bringen. Während seiner Lehrzeit, die er erfolgreich abschloss, eignete er sich das für seine Kontor-Tätigkeit erforderliche Fachwissen an, lernte eifrig Englisch und erweiterte seine literarischen Kenntnisse. Er beschäftigte sich besonders gern mit seinem Lieblingsdichter Fritz Reuter. Es zeichnete sich für ihn eine glänzende Zukunft ab.

Schwerer Schicksalsschlag im 20. Lebensjahr

In seinem 20. Lebensjahr traf ihn jedoch ein schwerer Schicksalsschlag. Er erkrankte an einer unheilbaren Sehnerv-Entzündung, in deren Folge er innerhalb von 14 Tagen erblindete. Damit waren alle seine Zukunftspläne gescheitert und er stand vor dem beruflichen Nichts. Trotz aller Verzweiflung musste er sich irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen. So war er zunächst mit einem Bauchladen, mit dem er Seife und Zigarren verkaufte, in Bremen unterwegs. Einem Rat von guten Freunden folgend begab er sich später nach Hannover, um die Blindenschule zu besuchen. Dort erlernte er auch die Korbflechterei und das Musizieren. Nach seiner Rückkehr gründete er ein Korbgeschäft und verdiente nebenher noch etwas Geld als Geiger in der Blindenkapelle.

Letzte Ruhe auf dem Osterholzer Friedhof: Grabstein von Georg Droste. Foto: Wikicommons/Jürgen Hohwaldt

Letzte Ruhe auf dem Osterholzer Friedhof: Grabstein von Georg Droste.
Foto: Wikicommons/Jürgen Hohwaldt

1893 heiratete er Sophie, die ihm stets treu zur Seite stand. Sie bekamen fünf Kinder, drei Mädchen und zwei Jungen. Da die Einnahmen für den Lebensunterhalt dieser großen Familie nicht mehr ausreichten, musste die Mutter Sophie nebenher als Putzfrau arbeiten. Während er seine Körbe flocht, erzählte er seinen Kindern immer Geschichten aus seiner eigenen Kindheit, seinem Kinderparadies hinter dem Weserdeich.

Seine älteste Tochter schlug ihm eines Tages vor, ihr seine Geschichten zu diktieren. Sie hatte die Idee, die Geschichten drucken zu lassen um damit zusätzlich Geld zu verdienen. Georg nahm das zuerst nicht ernst. Aber eigentlich hatte er sich immer gewünscht, durch „feinere“ Arbeit, durch „Kopfarbeit“ Geld zu verdienen. Dies bot auch die Möglichkeit, der Familie aus den finanziellen Schwierigkeiten zu helfen. Also diktierte er seiner Tochter einige Geschichten, die er unter dem Titel „ACHTERN DIEK“ auf eigene Kosten drucken ließ. Der Band erschien 1908 und ermutigte Georg Droste, sein Korbgeschäft aufzugeben und seinen Lebensunterhalt fortan als Schriftsteller zu bestreiten.

Ein Kenner des Bremer Platt
Georg Droste, der seine Kindheit im Ostertor-Viertel (Puntjendiek bzw. Osterdeich), seine Lehrzeit in einem Betrieb der Innenstadt und seine Ferien auf dem Lande im Teufelsmoor verbrachte, war ein ausgezeichneter Zeitzeuge und ein Kenner des Bremer Platts. Er war sich zwar bewusst, dass das Bremer Platt vielen Einflüssen des Hochdeutschen ausgesetzt war, hatte aber durch seine Kindheit und Jugend eine stabile Kenntnis dieser Sprache. Dadurch wurde sein Werk zum letzten Zeugnis dieser, zumindest noch um 1900 von anderen niederdeutschen Varietäten klar unterscheidbaren Sprache.

Auch für die Stadt- und Sozialgeschichte Bremens sind Drostes Texte eine ausgezeichnete Quelle, wird doch die Sicht des Vorstadt-Kindes und des kleinen Mannes auf die Geschichte einer Stadt gezeigt. In der Zeit nach dem Eintritt Bremens in das Deutsche Reich bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Stadt durch die Ent­wicklung der Vorstädte, die Eingliederung von Randgemeinden und den Zuzug aus dem Deutschen Reich tiefgreifend verändert.

Niedrige Katen hinterm Deich: die Heimat von Georg Droste am Eisenradsdeich, heute Osterdeich. Quelle: Wikicommons

Niedrige Katen hinterm Deich: die Heimat von Georg Droste am Eisenradsdeich, heute Osterdeich.
Quelle: Wikicommons

Dadurch kam es zu einer sozial markierten Zweispra­chigkeit, bei der in den Randbezirken und im Umland Plattdeutsch, in den neu ausgebauten Vierteln Hochdeutsch; in der Arbeiterschaft Platt­deutsch, im Mittelstand (teilweise) Hochdeutsch; in den Freischulen (außerhalb des Unterrichts) Plattdeutsch, in den Geldschulen Hochdeutsch gesprochen wurde. In vielen Familien herrschte Zweisprachigkeit. Der Roman Ottjen Alldag, in dem Georg Droste seine Kindheit und Jugend, d.h. ca. die Zeit zwischen 1866 und. 1883 schildert, verdeutlicht dies. Für die rein plattdeutsche Bevölkerung im Roman „Ottjen Alldag“ stehen:

  • Der Puntjendiek, der notdürftig die im Winterhalbjahr und Frühling sich stauenden Wassermassen der Weser eindämmte.
  • Die ärmlichen, hinter dem Deich (achter Diek) gelegenen Katen, in denen arme Handwerker zur Miete wohnten. Bereits vor 1850 hatten Bauunternehmer die Grundstücke aufgekauft, da der Osterdeich projektiert wurde.
  • Die Handwerker (Schuster, Schreiner, Schneider wie Drostes Vater), die Zigar­renmacher, die Fischer und Sandarbeiter.
  • Die Freischulen mit großen Klassen und engen Räumlichkeiten.

    Die neue Zeit: Wo früher einfache Katen standen, erhoben sich mit der Anlage des Osterdeichs wahre Palastbauten. Quelle: Wikicommons

    Die neue Zeit: Wo früher einfache Katen standen, erhoben sich mit der Anlage des Osterdeichs wahre Palastbauten.
    Quelle: Wikicommons

Für die neue Bevölkerung, die besser situiert war und mehrheitlich Hochdeutsch sprach, stehen:

  • Der Osterdeich, der zwischen 1850—1863 bis zum Sielwall ausgebaut wurde.
  • Die neuen Häuser am Osterdeich; sie ließen die Katen der Leute achtern Diek wie Spiel­zeug aussehen. Die Bäume auf dem Punken­deich wurden geschlagen: die Katen verschwanden bis Ende des Jahrhun­derts.
  • Mit dem Bau von neuen Straßen (welche die „Gänge“ ersetzen), entstand ein neustrukturiertes Viertel: 1841 wurde die Kreuzstraße, 1843 die Weserstraße, 1851 die Alexanderstraße, 1862 die Theodor-Körner-Straße und 1868 (nahe an Drostes Wohnhaus) die Reederstraße (damals Rhederstraße) gebaut.
  • Die Kinder der Handwerker gingen in die Freischule (z.B. wurde Ottjen mit 50 Schülern und Schülerinnen in der Buchtstraße in einer früheren Schusterwerkstatt eingeschult).

Einfache Bevölkerung wird verdrängt

Es haben sich somit gleichzeitig der Deichverlauf, die Benennung des Deiches, die Gliederung des Viertels durch Gänge bzw. normierte Straßen, die Baustruktur (nied­rige Katen gegen mehrstöckige Palastbauten) und die Sozialstruktur sowie die dazu­gehörigen Sprachsolidaritäten verändert. Die einfache Bevölkerung wird in andere Stadtviertel verdrängt. Diejenigen, die bleiben, orientieren sich an den Werten der neuen Bevölkerung, an deren Überlegenheit, die städtebaulich und ar­chitektonisch augenscheinlich ist. Der junge Droste (im Roman Ottjen Alldag) er­lebt hautnah die Abwertung des „Gangvolkes“, der Schuster und Zigarrenmacher durch die Hochdeutsch sprechenden neuen Hausbesitzer. In der Person Ottjen Alldags beschreibt Droste die Veränderung:

„[…] woll keeken noch de lüttjen Rutens von Alldags ähr Stubenfinster as so lüttje neeschierige Ogen öber den grönen Rand von den olen Diek weg, aber gegen de hogen Achtersieden von de nee’en Hüser dar weer de lüttje achtern­dieksche Katen mit dat niederige Pannendack doch man as so’n Kinnerspältüg antokieken, wat se vergäten harrn, wedder in sienen Kasten to packen. De Hüser in’r nee’en Straten weern denn ok bald verkofft un Koplüe, högere Beamte un annere Lüde, de dat maken konnen, de trocken dar in.“ (Ottjen Alldag, S. 100)

Ein Erfolgsbuch vergangener Tage: die Ottjen Alldag-Trilogie von Georg Droste. Quelle: Privat

Ein Erfolgsbuch vergangener Tage: die Ottjen Alldag-Trilogie von Georg Droste.
Quelle: Privat

Der zweite Band zeigt Ottjens „Aufstieg“ zum Lehrling im Hoch­deutsch sprechenden Kontor in der Langenstraße. Erfreut stellt er fest, dass er in der sprach­lich und sozial zweigeteilten Welt von Kontor (Hochdeutsch) und Packhaus (Platt­deutsch) seine doppelte Identität gut gebrauchen kann.

Eine andere soziale Erfahrung zeigt der dritte Band des Romans, in dem Ottjen ins Teufelsmoor (nach Dannenberg) fährt. Hier schildert Droste die Kluft zwischen Stadt und Land, die den jungen Ottjen sowohl sprachlich als auch kulturell von seinen Gastgebern trennt.

Obwohl der Roman nicht sozialkritisch ist, vermittelt er doch einen gute Einblick in die Sozialstruktur in Bremen und im Bremer Umland vor dem ersten Weltkrieg. Für den Sprachwissenschaftler ist das Werk von Droste (neben der Grammatik von Heymann) der letzte und einzige Anhaltspunkt für das Bremer Platt, das in der eigenständigen Form, wie Droste es präsentiert, ausgestorben ist. Die einzige lautlich fassbare Form des Bremer Platts stellt die Lesung des Romans von Droste im Bremer Rundfunk in den 50er Jahren dar. Die Tonbänder existieren noch in den Archiven (zumindest war dies um 1990 noch der Fall, als der Autor einige Bänder kopieren konnte).

Alte Bremer sprechen Platt im Interview
Der Sprachwechsel kann durch einige Ausschnitte aus über 70 Interviews, die Prof. Wildgen in den 8oer Jahren in Bremen geführt hat, beleuchtet werden (vgl. Wildgen, 1988):

Sprecherin (geb. 1902)

Spr.: Nur meine Eltern, […] die … sprachen immer nur Platt und die Oma auch, die war in Falkenberg geboren, auch bei Li­lienthal, nech, aber immer Platt, aber wenn wir Kinder da wa­ren, denn wurde Hochdeutsch gesprochen. De mot richtich dütsch lern, … hieß das da, plattdütsche komt se nich mit klor.

Spr.: … aber wenn wir Kinder anfingen, auch Platt zu sprechen, dann haben meine El­tern immer gebremst.

Innerhalb der Familie gab es die eigenartigsten Differenzie­rungen, so erzählt eine andere Sprecherin (geb. 1908):

Spr:  [die]… großen Brüder, ja die sprachen dann Platt. Das ist bei uns so Sitte. Die Großen sprachen Platt und die Lütschen …

In anderen Familien sprach der Vater mit den Kindern Hochdeutsch, die Mutter aber Platt­deutsch. So berichtet eine Sprecherin (geb. 1908):

Spr.: Mein Vater war Buchdruckermeister, aber der machte das so schon, der sprach mit uns nicht viel Plattdeutsch aber Mutter die sprach immer mit uns Plattdeutsch …

Von ihrer Schwester, die 10 Jahre jünger war, sagt sie:

Spr.: Die hatte das so nicht mehr mitbekommen, dass zu Hause so viel Plattdeutsch ge­sprochen wurde.

Lebensunterhalt als Schriftsteller: Mit seinen plattdeutschen Büchern fand Georg Droste eine breite Leserschaft. Quelle: Privat

Lebensunterhalt als Schriftsteller: Mit seinen plattdeutschen Büchern fand Georg Droste eine breite Leserschaft.
Quelle: Privat

Eine andere Sprecherin (geb. 1908) berichtet, die Großmutter habe mit ihren Enkeln Platt gespro­chen, mit deren Eltern aber Hochdeutsch:

Spr.: Meine Eltern sprachen aber kein Plattdeutsch, meine Großmutter war bei uns zu Hause, die ist 58 geboren und die sprach nur Platt­deutsch mit mir nech mit meiner Mutter und nicht mein Vater (…) nur mit den Enkeln Plattdeutsch.

Auf diesem Weg hat dann später auch der Urenkel Plattdeutsch gelernt.

Eine weitere Sprecherin (geb. 1910) berichtet:

Spr.: Die Eltern tosamen die snackt immer bloß Platt, nun we konnt de aber ja dann alles verstan, nech wat se segen, aber wenn we direkt angesproken warn, denn sagten sie das Hochdeutsch.

In seltenen Fällen konnte jedoch auch das Kind seine Sprachwahl durch­setzen. So berich­tet eine Sprecherin von ihrer Mutter (geb. 1887):

Spr.: (…) weil mein Großvater ja auch Platt sprach und mit seiner Fa­milie hat er auch Platt gesprochen, und meine Mutter war die jüngste Tochter, na so jung war sie auch nicht, 87 geboren, und da wollten sie mit ihr Hochdeutsch sprechen, [ …] und dann sie immer Platt geantwortet und da kam(en) sie mit ihrem Hochdeutsch nicht durch.

Dass selbst Familien, die Solidaritätsgefühle für das Platt hatten, schließlich mit ihren Kin­dern Hochdeutsch sprachen, macht die fol­gende Episode deutlich:

Sprecherin (geb. 1916):

Spr.: (…) mit uns Jüngeren hat Vater auch nicht mehr, Mutter auch nicht mehr Platt­deutsch gesprochen; sie sagten plötzlich, da war eine Schranke, da konnten sie nicht mehr, und da haben sie mit uns Hochdeutsch gesprochen, mit den Jüngeren; wir haben aber gerne Plattdeutsch gehört und habens auch gelernt dabei.

Wenn die Sprecherin von „Schranke“ spricht, dann haben wir ganz an­schaulich die subjek­tive Empfindung jenes Prozesses des Sprachwechsels, der wohl aus vielfältigen Quellen Unterstützung erhielt, von vielen aber eher geduldet als herbeigeführt wurde.

 

Die Textabschnitte sind größtenteils der Ausstellung, die gemeinsam mit Herrn Jürgen Ludwigs und Studenten der Universität Bremen gestaltet wurde, entnommen (vgl. im Internet: http://www.breplatt.uni-bremen.de/). Die Studierenden waren: Nadine Alvandi, Jobst Walter Bauer, Paula Böttjer, Kristina Korsmeier, Manuel Müller, Michaela Paetsch, Karin Stangenberg, Uwe Weseloh, Ernst von Weyhe, Sabine Zimmermann.

 

Bibliographie

Droste, Georg, 1977. Ottjen Alldag. Dree Bände in een Book (die drei Bände erschienen zuerst 1913, 1915 und 1916), Schünemann, Bremen (8. Ausgabe der Gesamtausgabe; eine zweisprachige Ausgabe des ersten Bandes erschien 2012 im Verlag Kellner, Bremen).

Heymann, Wilhelm, 1909. Das bremische Plattdeutsch. Eine gramma­tische Darstel­lung auf sprachgeschichtlicher Grundlage, Winter, Bre­men.

Wildgen, Wolfgang, 1988. Bremer Sprachbiographien und die Ver­drän­gung des Niederdeutschen als städti­sche Umgangssprache in Bremen. In: Lesle, Ulf-Thomas (hg.) Niederdeutsch und Zweisprachigkeit. Befunde — Ver­gleiche — Ausblicke, Schuster, Leer: 115-135.

Wildgen, Wolfgang (mit Beiträgen von J. Ludwigs und W. Persuhn), 2000. Niederdeutsch in Schule und Gesellschaft, Universitätsverlag, Bremen: pdf.

von Dr. Wolfgang Wildgen

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