Vor 60 Jahren: 1956 begann der Neuaufbau des Doventorviertels / Vorrang der Verkehrswege führte zu Segmentierung – bis heute kein Zentrum
Als der Neuaufbau des Bremer Westens so gut wie abgeschlossen war, kam 1956 das Doventorviertel an die Reihe. Dabei machten sich die Städteplaner die Kriegszerstörungen zunutze, um ein völlig neues Quartier aus dem Boden zu stampfen. Maßgeblich beeinflusst wurden die Planungen vom Verkehrskonzept, das zwei groß dimensionierte Trassen für das Viertel vorsah. Die unvermeidliche Folge war eine Zerteilung in einzelne, nur wenig zusammenhängende Segmente. Ein richtiges Zentrum hat das Doventorviertel bis heute nicht.
Doventorviertel oder auch Doventorsvorstadt, das sind Ortsbezeichnungen, mit denen die meisten Bremer Bürger heute nicht viel anfangen können. Gemeint ist das nordwestlich der Altstadt vorgelagerte Gebiet zwischen dem Stadtgraben im Süden, der Bürgermeister-Smidt-Straße im Osten und dem Bogen der Oldenburger Bahnlinie. Ein wie die meisten Vorstädte im späten 19. Jahrhundert recht heterogenes Viertel mit repräsentativen Stadthäusern an der Contrescarpe und krummen Straßen mit kleinen Bremer Häusern weiter nördlich bis hin zum Breitenweg, der seinerzeit an dieser Stelle noch nicht besonders breit war. Dazwischen gestreut und zur Bahnseite vermehrt Gewerbebetriebe.
Bemerkenswert auch die Centralhallen an der Düsternstraße im Nordteil des Quartiers, eine beliebte Versammlungs- und Vergnügungsstätte. Größere Gartenflächen sind noch auf der Stadtkarte von 1880 zu erkennen. Platz, auf dem sich zu Beginn der 20. Jahrhunderts öffentliche Bauten ansiedeln werden, so das Städtische Lyzeum an der Kleinen Helle, die Kunstgewerbeschule Am Wandrahm oder das Arbeitsamt. Auch die Kirche dieses Quartiers, die Michaeliskirche, deren Geschichte bis ins Mittelalter reicht, erhielt 1898 einen neugotischen Neubau. Die Centralfeuerwehr war schon länger Am Wandrahm ansässig.
Wie der Hafen und die Wohnquartiere der Bremer Westens, das Stephaniviertel und weite Teile der Alten Neustadt wurde auch das Doventorviertel in den Bombenangriffen des Jahres 1944 weitgehend zerstört. Der Neuaufbau des Quartiers begann 1956, nachdem der Neuaufbau des Bremer Westens weitgehend abgeschlossen war. Und wie im größeren Nachbarbezirk bedeutete Neuaufbau auch hier weitgehend nicht Wiederaufbau auf den alten Parzellen, sondern eine grundsätzliche städtebauliche Neuordnung, die das Quartier bis heute prägt.
Die Neuordnung war bestimmt durch das Generalverkehrskonzept
Wesentlich bestimmt war diese Neuordnung von dem Generalverkehrskonzept der Stadt, das ein „Tangentenviereck“ von Hauptverkehrsstraßen am Randbereich der Altstadt vorsah. Die „Nordtangente“ im Verlauf des alten Breitenwegs, die 1969 als „Flyover“ vollendet werden sollte, hatte Auswirkungen auf die Planung des Quartiers. Denn zwei weitere groß dimensionierte Verkehrstrassen kamen hier hinzu. Die Daniel-von-Büren-Straße sollte die Ost-West-Durchfahrt durch die Innenstadt (mit neuer Martini- und Faulenstraße) mit der Nordtangente verbinden. Und die ausgebaute Falkenstraße parallel zur Nordtangente sollte die Straßenbahnlinie 10 zentral durch das Quartier und über den Doventorsteinweg weiter ins Zentrum der neuen Bremer Westens führen. An diesen beiden Straßen waren die wichtigsten Geschäfte für das Viertel vorgesehen.
In der 1963 vom Bausenator herausgegebenen Schrift „Die Neugestaltung Bremens, Heft 9“ sind die neuen Trassen sehr anschaulich in Rot über die alte Karte von 1880 gelegt. Und man kann schon erahnen, was diese für den Stadtverkehr wichtigen Trassen für das Quartier bedeuten: eine weitgehende Zerteilung in einzelne nur wenig zusammenhängende Segmente.
Im Wesentlichen sind so drei Teilquartiere entstanden. Westlich der Daniel-von-Büren-Straße zwei Straßenzüge bei der alten Michaeliskirche, deren Ruine noch bis Anfang der 1960er Jahre stand. Östlich der Daniel-von-Büren- und südlich der neuen Falkenstraße das Wandrahmquartier. Und auf dem schmalen langgestreckten Streifen zwischen Falkenstraße und Breitenweg eine neue Wohnanlage der Brebau mit achtgeschossigen Punkthochhäusern und viergeschossigen Wohnzeilen, die von dem Architekten Friedrich Heuer entworfen und 1961 eingeweiht wurde. Obwohl mit ihren Walmdächern eher gemäßigt modern in ihrer Formensprachen, gehört dies Baugruppe zu den architektonisch interessanteren Objekten des Viertels.
Die meisten Wohnneubauten sind architektonisch eher langweilig
Die meisten der weiteren Wohnneubauten, die überwiegend von der „Bremer Schoß Betreuungsgesellschaft für den privaten Wohnungsbau mbH“ geplant wurden, sind architektonisch eher langweilig. Was von den öffentlichen Bauten nicht gesagt werden kann. Schon 1954 entstanden die ersten Blocks eines neuen Berufsbildungszentrums an der Doventorscontrascarpe, deren moderne Formensprache auch heute noch begeistern kann.
Allerdings wurde aus den ursprünglichen Erweiterungsplänen nichts. Stattdessen hat das Arbeitsamt später diese Flächen für Erweiterungsbauten genutzt. Auf dem Restgrundstück zwischen Breitenweg, Daniel-von-Büren-Straße, Falkenstraße und dem Kaufmannsmühlenkamp, der neuen leistungsstark ausgebauten Verbindung nach Findorff, war als „städtebauliche Dominante“ ein Behördenbau vorgesehen, der 1968 mit dem Bundeswehrhochhaus nach Plänen der Architekten Willi Bornemann umgesetzt wurde. Heute vorübergehend Flüchtlingsunterkunft, soll der Bau zukünftig für Wohnzwecke umgebaut werden.
Und was geschah mit der Michaeliskirche? Schon nach der Zerstörung durch Bomben 1944 hatte sich die Gemeinde mit der Findorffer Martin-Luther-Gemeinde zusammengetan. Deren 1961 eingeweihter Neubau nach den Plänen des Architekten Friedrich Schumacher im Herzen von Findorff war für die Zwecke einer Doppelgemeinde entsprechend großzügig dimensioniert worden, weshalb man auch halb stolz, halb ironisch vom „Findorffer Dom“ sprach. Doch dann entschied sich die Michaelis-Gemeinde zu einem Rückzug zum alten Standort, wo nach den Plänen der jungen Architekten Jerg Blanckenhorn und Gottfried Müller 1966 ein moderner Neubau mit einer ungewöhnlichen Dachform entstand.
Keine klare Identität trotz markanter Bauwerke
Aber markante Bauwerke wie dieses haben dem Viertel auch über die Jahre hinweg keine klare Identität verliehen. Durch die Zäsur der Verkehrstrassen und aufgrund des Charakters eines Durchgangsortes konnte kein Zentrum entstehen – auch wenn innenstadtnahes Wohnen heute mehr denn je gefragt ist.
Bleibt zu hoffen, dass sich hier vielleicht doch noch etwas zum Positiven wandeln kann und das Doventorviertel oder die westliche Bahnhofsvorstadt, wie es vielleicht präziser heißen müsste, zu neuem Leben erwacht. Damit sich nicht bestätigt, was schon 1963 der Autor der Schrift des Bausenators bemerkte: das Quartier sei nicht nur im Bewusstsein der Bremer Bevölkerung, sondern auch der Bremer Stadtplaner „ein Stiefkind“.
von Prof. Dr. Eberhard Syring