Vor 70 Jahren erregte der Streit um das Ronning-Haus an der Sögestraße die bremische Öffentlichkeit

Der WESER-KURIER schreibt in einem launigen Rückblick auf das Jahr 1949 in seiner damaligen Silvester-Ausgabe: „Auch im Großen wurde auf- und abgebaut. Abgebaut habt Ihr – um nur das Wichtigste zu nennen: die Reichskanzlei, die Entnazifizierung, die Markenwirtschaft, das Dünnbier und die Militärregierungen. Alle Abbauvorhaben aber wurden durch einen Abbau in Schatten gestellt, der einem Giebel in der alten Hansestadt Bremen drohte. Es gab einen erbitterten Kampf, der mit dem Sieg beider Parteien im Ratskeller beendet und gefeiert wurde, und es besteht, wenn ich richtig verstanden habe, alle Aussicht, daß Bremen einen stürmischen Giebel-Aufbau erlebt, sofern die Herren Bauherrn nur ihr Augenmerk darauf richten, daß die Giebel hinter hermetisch verschlossenen Bretterwänden gen Himmel wachsen.“

Historistisch geprägt: die Westseite der Sögestraße vor dem Krieg.
Quelle: Bremer Zentrum für Baukultur (bzb)

Was war geschehen? Beim Wiederaufbau der wichtigen Geschäftsstraße Sögestraße wurde seitens des Senats und in Abstimmung mit der „Wiederaufbaugemeinschaft Sögestraße“ ein Rahmenplan aufgestellt, der für die Neubauten an beiden Seiten traufständige Satteldächer und einen Verzicht auf Ziergiebel vorsah. Als maßgebliche Institution für strittige architektonische Entscheidungen beim Wiederaufbau und für ein harmonisches Stadtbild war ein Ausschuss für Stadtbildgestaltung geschaffen worden. Ihm gehörten neben Vertretern der Baubehörde, wie Baudirektor Tippel und Baudenkmalpfleger Ulrich, auch Vertreter der freien Architektenschaft (Friedrich Schumacher und Arthur Bothe), der Bauindustrie und des Bauhandwerks an.

Nicht noch mal Historismus

Wenn man sich fragt, warum sich die für die Neugestaltung der Innenstadt zuständigen Fachleute, die sowohl aus dem Lager architektonischer Neuerer als auch aus dem der bremisch-traditionell denkenden Architekten stammten, so entschieden gegen Giebel aussprachen, stößt man immer wieder auf ein Argument: Man wollte verhindern, dass ähnlich wie im Historismus der Jahrhundertwende ein beliebiges Spiel mit historischen Formen stattfände und reich geschmückte Ziergiebel zum gegenseitigen Übertrumpfen prestigebewusster Bauherren dienten. Die alte, im Krieg zerstörte Westseite der Straße, die um die Jahrhundertwende mit großen Geschäftshäusern neu gestaltet worden war, diente dafür unter anderem als abschreckendes Beispiel.

Doch nun tanzte ein Neubau aus der Reihe. Als Ende Oktober 1949 das mit Brettern verkleidete Baugerüst fiel, wurde ein die ganze Hausbreite einnehmender Ziergiebel beim Haus Nummer 54, dem Geschäftssitz des Kaffeerösters Carl Ronning, sichtbar. Bauherr Otto Ronning, Sohn des Firmengründers, und sein Architekt Heinz Logemann hatten sich offensichtlich über die Gestaltungsauflage hinweggesetzt. Vermutlich mit dem Hintergedanken: Man kann’s ja mal versuchen, man wird uns ja kaum zum Abriss zwingen. Aber genau dies sollte nach dem Willen der Baudeputation geschehen. Nicht der Verstoß gegen die Gestaltungsauflage, sondern die angedrohte repressive Maßnahme löste daraufhin eine Welle der Empörung aus, die sich in der Berichterstattung der lokalen Medien im November und Dezember 1949 widerspiegelte. Dass für den Zwangsrückbau des Giebels ausgerechnet ein Gesetz aus dem Jahr 1936 über „anständige Baugesinnung und werkgerechte Durchbildung“ zur Anwendung kommen sollte, war ein gefundenes Fressen, um dem Senat „diktatorische“ Methoden zu unterstellen.

Der Stein des Anstoßes: der Giebel des Ronning-Hauses an der Sögestraße.
Quelle: Bremer Zentrum für Baukultur (bzb)

Aber auch über das „Wesen“ der bremischen Bautradition wurde öffentlich diskutiert. Während sich der heimatverbundene Bürger Wilhelm Holtorf mit einem Beitrag „Bremen – Stadt der Giebelhäuser“ zu Wort meldete, konterte Architekt Gerhard Müller-Menckens in seinem Beitrag „Vom Bremischen im Bauen“, dass seit dem 18. Jahrhundert das „weiträumigere Traufenhaus“ das Giebelhaus in Bremen ersetzt habe, und verteidigte damit den Standpunkt des Ausschusses für Stadtbildgestaltung. Doch solche sachliche Betrachtung fand in einer emotionalisierten Stimmungslage wenig Resonanz. Eine eilends durchgeführte Umfrage – über deren repräsentative Objektivität man Zweifel hegen konnte – kam zu dem Ergebnis, dass 98 Prozent der Befragten für den Giebel seien. Unter diesem öffentlichen Druck knickte Bausenator Emil Theil ein. In einer am 8. Dezember veröffentlichten Erklärung, die von Theil und Ronning unterzeichnet war, heißt es: „Wir müssen uns auf den Boden der Tatsachen stellen: Der Giebel ist da! Die Bevölkerung hat entschieden: Er soll stehen bleiben. Und eine Verschandelung der Sögestraße bringt er bestimmt nicht.“ Bei einem gemeinsamen Gespräch im Ratskeller hatten sich Theil und Ronning darauf geeinigt, dass der Giebel bleibe und Ronning wegen des Regelverstoßes „für die Denkmalpflege einen namhaften Betrag“ stiften solle.

Nachträglich sah sich der Ausschuss für Stadtbildgestaltung genötigt, noch einmal Stellung zu dem Fall zu beziehen. Demzufolge habe am 23. Mai 1949 eine Sitzung zur Gestaltung der Sögestraße mit allen beteiligten Architekten stattgefunden. „Es ergab sich allgemeine Zustimmung der Architekten zu dem Rahmenplan. Herr Logemann verteidigte seine Absicht, als einziger einen Giebel zu bauen, nicht weiter, sondern schwieg.“ Was die genauen Gründe Logemanns oder seines Bauherrn waren, den Rahmenplan zu ignorieren, ist nicht bekannt. Ganz unplausibel war die Entscheidung aber schon deshalb nicht, weil in unmittelbarer Nachbarschaft zwei Häuser aus der Vorkriegszeit mit Giebeln erhalten geblieben waren und sich mit dem neuen Giebel zu einem Ensemble fügten. Dazwischen lag der Neubau des Geschäftshauses Henseler, der von dem Architekten Friedmar Rusche stammte.

Auf die Schippe genommen: der Architekturstreit um das Ronning-Haus als Stoff für eine Karikatur.
Quelle: Bremer Zentrum für Baukultur (bzb)

Ein Architekt wird ausfällig

Später beschuldigte Rusche seinen Kollegen Logemann in Architektenkreisen, dieser habe ihm den Auftrag für das Ronning-Haus weggenommen. Aus Logemanns Antwort auf diesen Anwurf ist zu schließen, dass es wohl eine Verbindung zwischen Rusche und Ronning gab. Er, Logemann, sei von Ronning gebeten worden, einen Vorentwurf für das Haus zu liefern, die Ausführung aber Rusche zu überlassen. Als Rusche durch Ronning dann von der Beteiligung Logemanns erfahren habe, sei Rusche gegenüber dem Bauherrn wohl ausfällig geworden, sodass auch die Ausführung an Logemann gegangen sei. Ob der Architektenwechsel eventuell durch eine Weigerung Rusches begründet war, einen Giebel zu entwerfen, bleibt Spekulation.

Obwohl an der Giebel-Affäre viele Protagonisten beteiligt waren, blieb der größte Image-Schaden an Bausenator Emil Theil und Baudirektor Klaus D. Tippel haften. Vor allem dem jungen, damals 36-jährigen Baudirektor wurde – auch aufgrund seiner nicht-bremischen Herkunft – von konservativen Kreisen die Fähigkeit abgesprochen, die baulichen Geschicke der Hansestadt zu lenken. Spott und Häme begleiteten sein Agieren von dieser Seite. Die vom Ausschuss für die Sögestraße vorgeschlagenen traufständigen Dächer wurden etwa polemisch „Tippeldächer“ genannt. Dass der Ausschuss paritätisch mit Fachleuten unterschiedlicher Couleur besetzt war, spielte dabei keine Rolle. Noch auf einem Flugblatt der CDU zur Bürgerschaftswahl 1951 durften Theil und Tippel in einer Karikatur als Don Quijote und Sancho Pansa gegen den Ronning-Giebel antreten.

Ironie des Schicksals: Als einziger Neubau der Sögestraße steht das vom Ausschuss für Stadtbildgestaltung abgelehnte Giebelhaus seit 1994 unter Denkmalschutz. In der Begründung der Unterschutzstellung heißt es: „Das zugleich klar und zart gegliederte Ronning-Haus mit seiner dezent-vornehmen, durch bewusst einfache Mittel erreichten ornamentalen Fassadenwirkung ist ein künstlerisch herausragendes und auch zeittypisches Beispiel für die konservativ geprägte Richtung in der Wiederaufbauarchitektur.“

Eigentlich eine klare Sache: der Rahmenplan für den Wiederaufbau der Sögestraße.
Quelle: Bremer Zentrum für Baukultur (bzb)

75 Jahre Kriegsende

Neuanfang nach der Diktatur

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