Massenandrang beim ersten Freimarkt nach Kriegsende
Der Zweite Weltkrieg war erst seit einem halben Jahr vorbei, als in Bremen schon wieder der erste Freimarkt stattfand. Ein Großereignis, das alle Erwartungen übertraf: Wegen des Massenandrangs wurde das beliebte Volksfest um vier Tage verlängert. Schon damals boten zahlreiche Fahrgeschäfte ihre Dienste an, darunter ein Riesenrad, eine Achterbahn und als atemberaubende Neuheit die „Spinne“.
Die frohe Kunde kam für die meisten Bremer völlig überraschend. „Was die kühnsten Optimisten kaum zu hoffen wagten, soll Tatsache werden“, jubelte Alfred Stockhinger vom ambulanten Gewerbe.
Der Grund seiner Euphorie: Nach langer Pause sollte im Herbst 1945 endlich wieder ein Freimarkt stattfinden. Und zwar zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie früher: vom 21. bis 31. Oktober auf der Bürgerweide. Natürlich nicht als der großartige Rummel der Vorkriegsjahre. Vom Lichterglanz verflossener Zeiten war denn auch nicht viel zu sehen, weil nur ein Achtel der früher gelieferten Strommenge zur Verfügung stand. Und doch taugte der erste Freimarkt nach dem Krieg schon wieder für eine Superlative. Mit insgesamt 148 Betrieben war der traditionsreiche Rummel im Epochenjahr 1945 der größte Markt seiner Art in Deutschland.
Tatsächlich dürfte manch ein Besucher gestaunt haben über die Vielzahl der Fahrgeschäfte. Eine Achterbahn war dabei, ein Riesenrad und zahlreiche Kinderkarussells. Desgleichen ein Klassiker aus unbeschwerten Tagen, ein Lokalmatador aus der Hansestadt: Haberjans Hippodrom. Dessen legendärer Werbespruch „Reiten kann ein jederman, im Hippodrom von Haberjan“ wird auch heute noch vielen älteren Bremern in lebhafter Erinnerung sein.
Ein Selbstläufer war der erste Freimarkt nach Kriegsende nicht
Mit von der Partie auch die Todeswand, in der Motorradfahrer als Steilwandfahrer der Schwerkraft trotzten, ein Irrgarten, ein Panoptikum und verschiedene Tierschauen. Sowie als Neuheit ein echter Knüller: die „Spinne“, bei der sich kleine Gondeln auf langen, stählernen Spinnenbeinen horizontal drehten und dabei auf und ab bewegten. Noch immer „eines der frappierendsten Fahrgeschäfte auf den bundesdeutschen Vergnügungsplätzen“, wie „Der Spiegel“ 1953 urteilte.
Dass der Freimarkt nur ein halbes Jahr nach Kriegsende wieder öffnen konnte, war der Beharrlichkeit der Bremer Behörden zu verdanken. Ihrem Drängen hatte die Militärregierung nachgegeben und die Genehmigung erteilt. Ein Selbstläufer dürfte das nicht gewesen sein. Stockhinger ließ wissen, es habe ein „verständnisvolles Entgegenkommen“ der Amerikaner gegeben.
Damit gehörte der Freimarkt zu den ersten Vergnügungsmärkten in Deutschland, die wieder an ihre Vorkriegstraditionen anknüpfen konnten. Zum Vergleich: Das erste Münchner Oktoberfest nach dem Krieg fand erst 1949 statt.
Um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, hatte sich das Stadtamt mächtig ins Zeug gelegt. Schon allein weil die Zeitspanne für die organisatorische Vorbereitung viel kürzer war als ehedem. „Früher hat man im März oder April damit angefangen“, so Amtsleiter Dr. Wilhelm Persen, „diesmal werden wir das in wenigen Wochen schaffen müssen.“
Keine Zuckerwaren und Kuchen
Gas, Wasser und Elektrizität sowie Brennstoffe und Öl mussten beschafft werden – alles nicht ganz einfach in der viel beschworenen „Notzeit“ kurz nach dem Krieg. Und dann noch eine ganz besondere Herausforderung für die Macher aus dem Stadtamt: Wie Vorsorge treffen für die menschlichen „Bedürfnisse“ bei dem zu erwartenden Massenandrang? Laut Persen eine Frage, die reichlich Kopfzerbrechen verursachte.
Kaum weniger bedeutsam war für alle Freimarkt-Enthusiasten das kulinarische Angebot. Angesichts der prekären Ernährungslage nicht sonderlich überraschend. Zwar hatte der Weser-Kurier bereits in weiser Voraussicht mitgeteilt, auf Zuckerwaren und Kuchen würden die Menschen wohl verzichten müssen.
Ganz leer gingen die Freimarkt-Besucher aber doch nicht aus. Wie der zeitgenössischen Berichterstattung zu entnehmen ist, gab es Waffeln, Fischbrötchen, Würstchen und Eis. Zwar alles nur auf Marken, aber immerhin. „Überall, wo es etwas zu essen gibt“, so der Eindruck eines Beobachters, „ist das Gedränge geradezu beängstigend.“ Nur Grog oder Glühwein war vorerst nicht zu haben. Das sei eben das „nüchterne Gesicht“ des Freimarkts, so die lapidare Anmerkung eines Zeitgenossen.
Den letzten Freimarkt in Friedenszeiten hatten die Bremer 1938 erlebt. Damals war es der größte Freimarkt seit Ende des Ersten Weltkriegs gewesen. „Jeden Tag herrscht auf der Bürgerweide Hochbetrieb“, berichtete ein Besucher. Zwar fand auch nach Kriegsausbruch noch ein weiterer Freimarkt statt. Allerdings nicht wie seit 1934 auf der Bürgerweide, sondern an den traditionellen Innenstadt-Standorten Domshof, Liebfrauenkirchhof und Domsheide. Freilich war das nur noch ein müder Abklatsch der Veranstaltung von 1938 gewesen. „Außer zahlreichen Verkaufsbuden ist nur ein Kinderkarussell aufgestellt“, notierte trübselig der Chronist Fritz Peters. „Die Vergnügungsunternehmen und die Orgeldreher fehlen.“ Bei Anbruch der Dunkelheit musste der Freimarkt wegen Fliegergefahr geschlossen werden.
Der Freimarkt wurde bis zum 4. November verlängert
Im darauffolgenden Jahr 1940 war es dann vorbei mit dem Freimarkt als Außenveranstaltung. Nur noch die abendlichen Varieté-Vorstellungen wurden gegeben. Die gehörten seit vielen Jahren als fester Bestandteil dazu. Während der Freimarktszeit gastierten immer wieder Künstler und Artisten von Weltrang in renommierten Lokalen wie dem Casino oder den Centralhallen, das Varieté Astoria war ohnehin mit von der Partie. Ein Jahr später hatte sich dann auch dieser Programmpunkt erledigt.
Umso größer die Begeisterung ein halbes Jahr nach Kriegsende. Der Besucherzustrom übertraf alle Erwartungen. Im Weser-Kurier war von „Belagerungsschlangen“ vor den Fahrgeschäften die Rede. Aus eigenem Erleben berichtete der Chronist Fritz Peters, täglich herrsche „ein ungeheurer Massenandrang“. Die Konsequenz: Der Freimarkt wurde über den 31. Oktober hinaus bis zum 4. November 1945 verlängert.
Der enorme Erfolg des ersten Nachkriegsrummels blieb nicht ohne Folgen für den zweiten. Statt 148 meldeten sich diesmal über 200 Betriebe ein. Damit erweiterte sich auch die Palette der Fahrgeschäfte. Zu den Angeboten gehörten jetzt auch eine „Raketenfahrt“ sowie mehrere Autoskooter, eine Errungenschaft aus dem bekannten amerikanischen Vergnügungspark Coney Island. „Am Steuer des gummigepanzerten Fahrzeuges kann der potentielle Verkehrssünder enthemmt wüten“, vermerkte dazu „Der Spiegel“ mit unüberhörbar kulturpessimistischem Unterton.
von Frank Hethey