Plädoyer für die Emanzipation von Bildquellen

Der Erste Weltkrieg hat Konjunktur. Der 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs hat eine wahre Flut von Publikationen zum Thema hervorgebracht. Ein wichtiger Aspekt: die prekäre Versorgungslage. Illustriert wird sie gern mit alten Aufnahmen von langen Käuferschlangen. Doch dabei bleibt schon mal die wissenschaftliche Sorgfalt auf der Strecke. Manche Bilder zeigen nicht das, was sie angeblich darstellen. 

Wie seriös gehen wir mit historischen Fotos um? Nehmen wir sie als Quellen zur Rekonstruktion von Geschichte wirklich ernst? Schauen wir nach. Der Erste Weltkrieg ist in aller Munde und in vielen Publikationen. Gerne weist man heute darauf hin, dass die Kriegsbegeisterung 1914 differenziert analysiert werden muss und dass sie im Verlauf des Krieges rapide abnahm. „Brotschlangen“ in „Arbeitervierteln“ werden gerne als Beleg dafür genommen, dass die Bevölkerung unter den Kriegsfolgen zu leiden hatte und folglich kriegsmüde wurde.

Ein solches befindet sich in „Trotz alledem. Bremer Arbeiterbewegung 1918-1945“, einem Buch, das von Hartmut Müller herausgegeben wurde.

Vermutlich wurde es von Peter Kuckuk, der das entsprechende Kapitel geschrieben hat, in einem Privatalbum gefunden. In der Mitte des Bildes sieht man im Hauseingang die Inschrift „Borgstede & Rickleffs“. Ein Blick in das Adressbuch von 1915 (den gleichen Eintrag findet man 1914) steht verzeichnet, dass es sich hier um „Kaufleute, Waren- und Kommisssionsgeschäft, Bredenstr. 16“ handelt.

Die Bredenstraße liegt in der Altstadt in unmittelbarer Nähe zum Marktplatz, wohl kaum ein Arbeiterviertel. Ganz vorne im Bild unter dem Schild „Cigarren“ kann man den Namen „Köhnsen“ entdecken. Und in der Tat gibt es in der Bredenstraße das Tabakgeschäft J.F. Köhnsen. Die Fotografie wurde also ohne Zweifel in der Bredenstraße aufgenommen. Warum die Menschen dort stehen, ist nicht wirklich klar. Für was steht die „Käuferschlange“ an?

Ich selber habe in einem anderen Privatalbum ein weiteres Foto entdeckt (siehe oben).

Derjenige, der das Album angelegt, möglicherweise das Foto aufgenommen hat, hat vage darunter geschrieben „Schlange stehen im Krieg 1914-18 in Bremen“. Jedoch findet sich dieses Foto häufig (im „Weser Kurier“ print und online, in Ausstellungen, Publikationen) im Kontext von knapper Lebensmittelversorgung, Hunger usw.

Kein Lebensmittelgeschäft in der Bredenstraße

Ich habe mir die Mühe gemacht, die Aussage des Bildes genauer zu dechiffrieren. Die Schlange steht in der Bredenstraße (den im Bildanschnitt sichtbaren Torbogen gibt es heute noch neben der Wilkenstraße). Wenn man das Bild vergrößert, entdeckt man hinten wieder den Tabakladen von Köhnsen. Davor tummelt sich ein Pulk von Soldaten, möglicherweise gab es gerade eine Tabaklieferung. Der überwiegende Teil der Schlange hat aber nichts mit dem Tabakladen zu tun, sie stehen vor den Häusern davor.

Warum tun sie das? In der Bredenstraße ist kein Lebensmittelgeschäft im Adressbuch in dieser Zeit verzeichnet, kein Bäcker, kein Schlachter, nichts, wo man etwas zu essen kaufen könnte. Im Haus Nr. 13 lag das Export- und Import-Geschäft der Kaufleute Stadtlander, im Haus Nr. 17 hat das Bremer Träger-Verkaufs-Kontor seinen Geschäftssitz, wie überhaupt in der gesamten Bredenstraße eine Fülle von Kontoren, Waren- und Kommisssionsgeschäften, Agenturen, Versicherungen und Makler ansässig ist.

Warum also stehen diese Menschen dort und schauen so neugierig in die Kamera? Wir wissen es nicht. Das Fotodokument allein reicht offensichtlich nicht aus, um die Hintergründe der festgehaltenen Szene zu ermitteln.

Manchmal ist es besser, sich dieses zugegebenermaßen unbefriedigende Ergebnis einzugestehen als zu spekulieren.

von Dr. Diethelm Knauf

Motivation unklar: In dem privaten Fotoalbum, aus dem dieses Bild stammt, ist der Grund fürs Schlangestehen nicht angegeben. Bildvorlage: Privat

Motivation unklar: In dem privaten Fotoalbum, aus dem dieses Bild stammt, ist der Grund fürs Schlangestehen nicht angegeben. Bildvorlage: Privat

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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