Vor 50 Jahren

Noch vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen: Angestellte kommen zum Dienst, wann es ihnen paßt und gehen, wann sie es für richtig halten. Doch die Pünktlichkeit, bislang unveräußerlicher Bestandteil deutscher Arbeitsmoral, verliert langsam, doch unverkennbar ihre Bedeutung als Wertmesser von Pflichteifer und Disziplin. Ein neues Arbeitsmodell gräbt der „preußischen Tugend“ allmählich das Wasser ab: die gleitende Arbeitszeit, die Arbeitnehmern in Grenzen zwar, doch immerhin die Freiheit läßt, Arbeitsbeginn und Dienstschluß selbst zu bestimmen. Für rund 2000 Angestellte in Bremen ist diese Freizügigkeit am Arbeitsplatz inzwischen Wirklichkeit. (WESER-KURIER, 9. Oktober 1970)

Hintergrund

Ende der 1960er-Jahre revolutionierte der Unternehmer Wilhelm Haller gängige Arbeitsmodelle. Haller entwickelte das Konzept der Gleitzeit und entwarf verschiedene Geräte zur Zeiterfassung, die auch bei flexibler Arbeitszeit funktionieren sollten. Schon kurz darauf begannen auch Bremer Unternehmen, mit dem Modell zu experimentieren. Im Herbst 1969 führte das Bauatelier Nord unter dem Ingenieur Albert Jo Meyer die Gleitzeit ein. Zum ersten Mal durften Angestellte einer Bremer Firma ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten. Wenig später folgten die Vereinigten Flugtechnischen Werke (VFW) dem Beispiel. Ein Test bei der Bremer Flugzeugfirma sei vielversprechend verlaufen, hieß es im WESER-KURIER am 26. November 1969. Zur Kontrolle der Arbeitszeit diene ein Computer, der der bekannten Stechuhr ähnlich sei.

In der Folge trug auch das Statistische Landesamt zur verstärkten Verbreitung der Gleitzeit bei. Von 70 000 Beschäftigten im Zentrum Bremens, so rechnete das Amt im Jahr 1970 vor, würden mehr als die Hälfte zwischen 7.30 und 8 Uhr ihren Dienst beginnen. Die freie Wahl der Arbeitszeit könnte zur Entlastung der Straßen und öffentlichen Verkehrsmittel beitragen. Das würde Arbeitnehmern Zeit und Ärger sparen, prognostizierte das Amt weiter. In den kommenden Monaten folgten dieser Empfehlung unter anderem die Bremer Straßenbahn AG und das Bremer Arbeitsamt. Ab 1972 führten dann fast alle öffentlichen Ämter in Bremen die Gleitzeit ein.

Die Argumente für und gegen die Gleitzeit klingen aus heutiger Perspektive erstaunlich vertraut. Aktuelle Diskussionen über flexible Arbeitsmodelle werden nicht zuletzt mit Blick auf verstopfte Straßen geführt. Auch die kritischen Stimmen ähneln sich. Schon 1970 kam die Bremer Arbeiterkammer zu dem Schluss, dass die Nachteile der Gleitzeit überwiegen würden. Einen echten Freizeitzuwachs gebe es durch das Modell nicht, profitieren würden letztendlich höchstens Angestellte, aber nicht die Arbeiter am Fließband oder im Baugewerbe. Kritisch sei zudem die permanente technische Überwachung der Angestellten zu bewerten.

Insbesondere der letzte Punkt sorgte später immer wieder für Diskussion. In den 1990er-Jahren sollte die Anwesenheit der Bremer Bediensteten im öffentlichen Dienst stärker kontrolliert werden. Finanz- und  Innenressort reagierten schnell auf die neue Vereinbarung, indem sie elektronische Stechuhren anschafften. Für Ärger sorgte hingegen die Senatskanzlei, berichtete der WESER-KURIER Anfang November 1998. Im Rathaus weigere man sich, die Anwesenheit genauer kontrollieren zu lassen – unter anderem mit Hinweis auf die Gerätekosten.

Die Flugzeugfirma VFW war eines der ersten Bremer Unternehmen mit Gleitzeit.
Foto: Jochen Stoss

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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