Die Amerikanerin Christina Ziegler-McPherson erforscht die Auswanderung ihrer Familie

Christina kommt aus Kalifornien, sie hat den schönen amerikanischen Namen Ziegler. Wir sitzen zusammen vor dem Computer und sie schimpft: „Diese Familiengeschichten! Was für ein Blödsinn. Von meiner Urgroßmutter wird behauptet, sie habe Abraham Lincoln die Hand geschüttelt. Dabei ist sie erst im Oktober 1865 nach Amerika gekommen, da war Lincoln schon ein halbes Jahr tot.“

Christina lebt seit fünf Jahren in Bremen. Sie ist mit ganzem Herzen Historikerin, Arbeitsschwerpunkt „Auswanderung“. Natürlich hat sie sich auch um ihre eigenen „roots“, ihre Wurzeln gekümmert, wie das viele Amerikaner tun. Und sie wurde in Deutschland fündig, auch wenn sich manche Geschichten, die in der Familie gerne erzählt wurden, als Legenden erweisen.

Ihre Urgroßmutter hieß Anna Maurer. Sie wanderte mit der Bark „Columbia“ der Bremer Reederei D.H. Wätjen nach Amerika aus. Christina hat Dokumente von Annas Auswanderergeschichte gefunden.

Die Schiffsliste der Bremer Bark Columbia der Reederei Wätjen und Co., die am 30. Oktober 1865 von Le Havre kommend in New York eingelaufen ist.
Quelle: Privat

Ein wichtiges Dokument ist die Schiffsliste der Bremer Bark „Columbia“ der Reederei Wätjen und Co., die am 30. Oktober 1865 von Le Havre kommend in New York eingelaufen ist. Ihr Kapitän, ein gewisser Müller, erklärt, dass er nach bestem Wissen und Gewissen alle Passagiere aufgelistet habe. Mit an Bord als Nummer 258 Anna Maurer, 14 Jahre alt. Dazu ihr Bruder Johann Jakob, 10 Jahre. Dieses junge Alter ist für Auswanderer zu der Zeit nichts Ungewöhnliches. Direkt unter ihr ist ein gewisser Johannes Hoffa aufgeführt, der mit seinen Eltern und seiner Schwester auswanderte. Ob er ein Vorfahr des berühmt-berüchtigten Jimmy Hoffa war, des Anführers der Teamsters Union, der Gewerkschaft der Transportarbeiter mit guten Kontakten zur Cosa Nostra?

Eine Spalte für die Toten

Alle kamen aus „Wurtemberg“, also Württemberg. Auch das ist typisch für die Zeit. Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich viele Auswanderer aus Süddeutschland meistens im Familienverband auf den Weg nach Amerika. Solche Schiffslisten mussten die Kapitäne den Hafenbehörden in New York vorlegen. Sie hielten neben Namen, Geschlecht, Alter und Beruf fest, welchem Landesherren sie untertan waren und in welchem Land sie sich niederlassen wollten. In der letzten Spalte wurde vermerkt, ob jemand auf der Überfahrt gestorben war.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Bremen schon längst eine feste Größe im Auswanderungsgeschäft. 1854 war ein erstes Spitzenjahr: Fast 77 000 Menschen wanderten über Bremen und Bremerhaven nach Amerika aus. Zu Recht vermuteten die Reedereien ein enormes Geschäft. So auch Diedrich Heinrich Wätjen. Zunächst hatte er zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Tabak, Zucker, Kaffee und Wein gehandelt und sich im Walfang engagiert. Mit größeren Segelschiffen konnte er sich nun am Amerikahandel beteiligen und Auswanderer über den Atlantik transportieren.

Unter Christian Heinrich Wätjen, der 1858 die Reederei übernahm, betrieb die Firma über 18 Segelschiffe und war eine der weltweit größten privaten Segelschiffsreedereien. Eines dieser Segelschiffe war die hölzerne Drei-Mast-Bark „Columbia“, mit der Anna Maurer nach Amerika gelangte. Dieses Schiff wurde 1862 in Geestemünde, heute Bremerhaven, auf der Werft von Johann C. Tecklenborg gebaut. Im Zwischendeck, in dem auch Anna Maurer die Überfahrt bewältigen musste, konnten 156 Auswanderer untergebracht werden. Im hinteren Decksaufbau gab es Platz für 70 Passagiere der II. Klasse und vier Passagiere der I. Klasse. Auf der Rückreise von Amerika transportierte die „Columbia“ Fracht.

Das Segelschiff als günstige Variante

Obwohl in den 1860er-Jahren immer mehr Dampfschiffe eingesetzt wurden, zogen viele Auswanderer die strapaziöse, aber billigere Passage mit einem Segelschiff vor. Die „Columbia“ war eines der letzten großen Segelschiffe in der Auswandererfahrt. Für den Transport von Auswanderern wurden die Frachträume in Verschläge unterteilt und mit Bettgestellen ausgestattet. Menschen in die USA zu bringen, bot den Reedern eine lukrative Alternative zum nutzlosen Ballast, der ansonsten für die Hinfahrt geladen werden musste. Und Auswanderer finanzierten zudem die Passage vor, so dass die Reeder in der Lage waren, auch für den Frachttransport günstige Preise anzubieten.

Auf der „Columbia“ befand sich Anna Maurer.
Quelle: Historisches Museum Bremerhaven

Segelschiffe brauchten in der Regel sechs Wochen bis drei Monate für die Überfahrt über den Atlantik, die längste Reise, die dokumentiert ist, dauerte ein dreiviertel Jahr. Man stelle sich das Zwischendeck vor, die Enge, die Seekrankheit, die Langeweile, die Unsicherheit, Krankheiten und Tod. Wenn Sturm aufzog, wurden die Luken geschlossen und man konnte nicht mehr an Deck. Wahrlich eine Strapaze.

Die damals 14-jährige Anna Maurer kam aus der Nähe von Heilbronn, wie Christina herausgefunden hat. Von dort lag Le Havre näher als Bremen. Und oft spielten die Preise für die Überfahrt sowie Informationen aus Auswanderernetzwerken eine große Rolle. Wie kam man am besten in die Abwanderungshäfen? Wo konnte man übernachten, wo lauerten Gefahren? Welcher Auswanderungsagent vermittelte die besten Konditionen für die Überfahrt nach Amerika?

Aus Württemberg, genauer aus Ittingen im Heidelberger Land kam auch Anna Maurers Mann, William Leonard Ziegler. William Leonard wurde schon in den USA geboren, sein Vater war Conrad Ziegler, der Charlotte Rieb 1846 noch in „the old country“ geheiratet hatte. Beide sind 1848 in die USA ausgewandert. Ein Jahr später wurde ihr Sohn geboren. 1870 heirateten dann Anna Maurer und William Leonard Ziegler in Illinois.

Dort ließen sie sich in Carmi im White County nieder, was Christina bemerkenswert findet, denn normalerweise zieht es Auswanderer dorthin, wo schon Landsleute leben, man sucht Vertrautes, die Sprache, Sitten und Gebräuche, die Religion. In der Prärie am Wabash River in Illinois aber hatten sich seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem Siedler schottisch-irischer Abstammung niedergelassen, wie die Namen Ratcliffe, Holderby, Calvert oder Robinson verraten.

Hoffnung auf Nachzügler

Christina vermutet, dass ihre Vorfahren vielleicht darauf hofften, dass noch mehr deutsche Auswanderer nachkommen würden. Jedenfalls war die Gegend sehr landwirtschaftlich geprägt, der Haupterwerbszweig war Agrobusiness. So erscheint es logisch, dass ihr Großvater Walter Harvey Ziegler in diesem Wirtschaftszweig auch seinen Beruf fand.

Vor vielen Jahren hat Christina geheiratet und heißt Ziegler-McPherson, auch ein typischer amerikanischer Name. Und ihr neues Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Geschichte der Deutschen, allerdings mit denen in New York, ihr neues Buch wird den Titel tragen „The Great Disappearing Act: Germans in New York City, 1880-1930“ und nächstes Jahr erscheinen.

Wanderte 1865 als 14-Jährige mit einem Schiff der Bremer Reederei Wätjen nach Amerika aus: Anna Maurer, hier mit ihrem späteren Mann.
Quelle: Privat

75 Jahre Kriegsende

Neuanfang nach der Diktatur

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, lag Bremen größtenteils in Trümmern: Die dritte Ausgabe des ­Magazins WK | Geschichte schildert das allgegenwärtige Elend und die Sorgen der Bevölkerung. Es zeigt aber auch die ersten Schritte Richtung Zukunft auf – die Stadt unter der US-Flagge, die ersten Wahlen und die Verteidigung der Selbstständigkeit des Landes Bremens.

Jetzt bestellen