Vor 70 Jahren flüchtete Hans-Dietrich Genscher in den Westen – seine erste Station war Bremen
Vom Leben in der DDR hatte Hans-Dietrich Genscher im Sommer 1952 genug. Obwohl es ihm materiell in seiner Heimatstadt Halle nicht schlecht ging, war er als Systemkritiker wiederholt angeeckt. Schon begann sich die Staatsmacht für ihn zu interessieren, der 25-Jährige befürchtete eine Verhaftung. Um keinen Verdacht zu erregen, löste Genscher eine Fahrkarte von Halle nach Stralsund. Man sollte ihn für einen Urlauber halten. Doch er verließ den Zug nicht erst an der Ostsee, sondern schon in West-Berlin, das damals für DDR-Bürger noch zugänglich war.
Vor 70 Jahren, am 20. August 1952, konnte Genscher endlich aufatmen, die Flucht war geglückt. Einen guten Monat später traf der Jurist in Bremen ein. Für mehr als dreieinhalb Jahre blieb er an der Weser – bis zu seinem Wechsel nach Bonn am 1. April 1956. In der provisorischen Bundeshauptstadt legte er den Grundstein für seine steile politische Karriere. Besonders nachhaltig ist Genscher als langjähriger Bundesaußenminister im Gedächtnis geblieben, zuvor war er aber auch Bundesinnenminister und mehr als zehn Jahre lang FDP-Parteivorsitzender.
In seinen Erinnerungen widmet Genscher seinen Bremer Jahren knapp fünf Seiten. Die Stadt habe es ihm leicht gemacht, schreibt er. „Das Bremer Bürgertum zeigte sich hanseatisch weltoffen und aufgeschlossen.“ Doch mit seinem Aufenthalt verknüpfen sich auch weniger erfreuliche Reminiszenzen. Sieben Monate verbrachte der lungenkranke Genscher allein in einem Dachzimmer des St. Jürgen-Krankenhauses, heute Klinikum Bremen-Mitte. Kurz vor Weihnachten 1946 war er an Tuberkulose erkrankt, bereits vor seiner Flucht musste er mehrmonatige Krankenhaus-Aufenthalte erdulden.
Im November 1954 zog ihn ein Blutsturz abermals aus dem Verkehr, eine Liegekur fesselte ihn ein volles Jahr ans Bett. Die unliebsame Nebenwirkung: Aus dem vormals schlanken, 1,86 Meter großen Genscher wurde nach eigener Angabe ein Zwei-Zentner-Mann. Endgültig gesundet ist er erst nach einer Operation im Dezember 1957. Noch viereinhalb Jahre musste er sich behandeln lassen, ehe die Lungentuberkulose ausgeheilt war. „Mich überkam ein unbeschreibbares Glücksgefühl“, schreibt Genscher, die Genesung sei eine Triebfeder seines Lebens geblieben.
Warum aber ausgerechnet Bremen? In seiner Autobiografie gibt er darüber keine Auskunft. Wohl aber in einem Gespräch, das er 2012 anlässlich der Verleihung des Bremer Stadtmusikantenpreises führte. In sämtlichen Bundesländern hatte sich Genscher nach seiner Flucht als Gerichtsreferendar beworben. Die Ironie: Überall wurde er angenommen, nur in Bremen nicht. Persönliche Gründe habe die Ablehnung nicht gehabt, betonte Genscher. Vielmehr sei Bremen unter Gerichtsreferendaren wegen des hohen Unterhaltszuschusses besonders beliebt gewesen. Das scheint auch Genscher angestachelt zu haben – im zweiten Anlauf gelang ihm doch noch der Sprung nach Bremen.
In der Hansestadt lebte Genscher in bescheidenen Verhältnissen. Mit einem Freund bezog er kurzzeitig ein gemeinsames Wohn-Schlafzimmer, an das er mithilfe einer Wohnungsvermittlung gekommen war. Auch danach teilten sich die beiden eine Unterkunft. „Kurz darauf zogen wir in den Arbeitervorort Bremen-Walle: Dort hatten wir ein Zimmer und eine kleine Küche, nicht mehr, und doch konnten wir uns diese Wohnung nur gemeinsam leisten.“
Ein Ende hatte die traute Zweisamkeit erst, als Genschers Mutter Hilda im Februar 1953 nachkam. Zusammen fanden sie eine Bleibe im Viertel – eine möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung. „Ein Zimmer war Ess- , Wohn- , Arbeits- und Schlafzimmer für mich, das andere gehörte meiner Mutter.“ In seinen Erinnerungen gibt Genscher als Anschrift „Am Ostertorsteinweg 90“ an. Doch damit dürfte er sich geirrt haben: In den zeitgenössischen Adressbüchern ist der Ostertorsteinweg 96 vermerkt.
Zu seiner Mutter hatte Genscher seit jeher eine enge Bindung. Noch enger wurde sie nach dem frühen Tod seines Vaters im Januar 1937. Aus dem Ersten Weltkrieg hatte Kurt Genscher ein Nierenleiden mitgebracht, er starb an einer Blutvergiftung. Auch nachdem Genscher am 24. Dezember 1958 seine erste Frau Luise Schweitzer aus Schwetzingen geheiratet hatte, blieb das vertraute Verhältnis bestehen. Zwar begleitete seine Mutter ihn nicht nach Bonn, sie wohnte vorerst weiter am Ostertorsteinweg und später in einem neu erbauten Wohnblock am Kapitän-Lehmann-Ring in Sebaldsbrück. Als Anwalt mit Büro am Domshof gab Genscher diese Adresse als Privatadresse an.
Nach der Scheidung im Juli 1966 näherten sich Mutter und Sohn auch räumlich wieder an. „Meine Mutter kam aus Bremen, führte meinen Haushalt und sorgte für unsere Tochter“, schreibt Genscher – gemeint war seine Tochter Martina. Im Oktober 1969 heiratete er erneut, diesmal seine frühere Sekretärin Barbara Schmidt, eine gebürtige Schlesierin. Die Ehe hielt bis zu seinem Tod im am 31. März 2016, bis heute fungiert Barbara Genscher als Schirmherrin der Deutschen Herzstiftung. Genschers Mutter starb im Alter von 87 Jahren am 13. Oktober 1988.
Seine Parteikarriere begann nicht erst im Westen. Wie zahlreiche andere Angehörige seiner Generation wollte sich Genscher politisch engagieren. Ein weiterer gemeinsamer Zug: Er war parteipolitisch nicht von Vornherein festgelegt. Mit großer Offenheit prüfte der 18-Jährige die Angebote sämtlicher Parteien. Ähnliches berichtet der zwei Jahre jüngere Hans Koschnick, dessen Eintritt in die SPD keineswegs ein Selbstläufer war.
Aus heutiger Sicht hätte eigentlich die CDU gut zu ihm passen müssen. Genscher war evangelisch geprägt, seine Familie hatte bürgerlich-bäuerliche Wurzeln. Doch was heute weithin vergessen ist: In den frühen Nachkriegsjahren predigten nicht nur die Linksparteien den Sozialismus, selbst die CDU wollte den Kapitalismus überwinden (hier mehr zu ihrer Geschichte in Bremen). Genscher sah das mit Unbehagen, ihm schwebten die angelsächsischen Demokratien als Vorbild vor. Am 30. Januar 1946 schloss er sich in Halle der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) an, in seinen Augen eine sozialliberale Partei.
Der Konflikt mit den Kommunisten ließ nicht lange auf sich warten. Zunehmend desillusioniert stellte Genscher bereits Ende 1946 seine Parteiarbeit ein, blieb aber LDPD-Mitglied. Seine Kontakte zu regimekritischen Kreisen in West-Berlin machten ihn nach eigener Aussage verdächtig. Die Spannungen des Kalten Krieges zeigten Wirkung. In der DDR gärte es, die Staats- und Parteiführung antwortete mit immer schärferen Repressionen – der Aufstand vom 17. Juni 1953 zeichnete sich ab. „Das war nicht mein Staat“, so Genscher.
Dass Genscher noch im Jahr seiner Ankunft in Bremen der FDP beitrat, fügt sich ins Bild. Ebenso seine 1954 erfolgte Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der Jungdemokraten. Gleichwohl dachte er damals nach eigenem Bekunden noch nicht an eine politische Karriere. Zumal er sich glücklich schätzte, nach einjähriger Krankheitspause im November 1955 überhaupt wieder arbeiten zu können. „Als Anwalt hatte ich meinen Wunschberuf erreicht, wenn auch noch im Angestelltenverhältnis“, schreibt Genscher.
Da eröffnete sich Ende Dezember 1955 plötzlich eine ganz andere Perspektive. Auf die Offerte des Bremer FDP-Landesvorsitzenden Georg Borttscheller, als wissenschaftlicher Assistent der Bundestagsfraktion in Bonn anzufangen, ging Genscher nicht sofort ein. Aber die politische Chance faszinierte ihn, der damalige FDP-Fraktionschef Thomas Dehler hatte es ihm angetan – ein Adenauer-Kritiker, der die deutsche Einheit nicht der Realpolitik opfern wollte. Für den Hallenser Genscher sicher ein Pluspunkt, ähnlich wie Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD) schmerzte ihn das verbreitete Desinteresse vieler Westdeutscher an der Wiedervereinigung. Dass er diesen Prozess später als Außenminister maßgeblich gestalten konnte, erfüllte ihn mit Genugtuung.
Zu Bremen bewahrte Genscher zeitlebens eine enge Beziehung, in der Stadt wohnten Freunde und Verwandte. Daneben gab es auch berufliche Bindungen: Mitte der 1960er-Jahre hatte er sich der heutigen Anwaltskanzlei Büsing, Müffelmann & Theye angeschlossen, ließ seine Tätigkeit nach seiner Ernennung zum Innenminister aber ab 1969 ruhen. Dreißig Jahre später nahm er sie im Berliner Büro der Sozietät wieder auf, bis 2010 agierte er als ihr Partner. Im Nachruf sagte der damalige Bürgermeister Carsten Sieling (SPD), Genscher hinterlasse national und international eine große Lücke, „er hat Weltgeschichte geschrieben“.
Hans-Dietrich Genscher (1927-2016)
Geboren wurde Hans-Dietrich Genscher am 21. März 1927 im damals noch ländlichen Reideburg, heute ein Stadtteil von Halle (Saale). „Ich sah zu, wenn Kühe kalbten, Schweine ihre Jungen warfen“, schreibt Genscher in seinen Erinnerungen. Im April 1933 zog die Familie nach Halle in eine Etagenwohnung mit fünf Zimmern. Im Zweiten Weltkrieg war Genscher erst Flakhelfer und in den letzten Kriegsmonaten noch Soldat in der Wehrmacht. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft studierte er Rechtswissenschaften in Halle und Leipzig, 1952 flüchtete er in die Bundesrepublik nach Bremen. Die Arbeit als wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion (1956-1959) bahnte ihm den Weg in führende Parteipositionen, ab 1962 war er Bundesgeschäftsführer, von 1974 bis 1985 Bundesvorsitzender der FDP. Mit der Wahl der sozialliberalen Koalition avancierte Genscher 1969 zum Bundesinnenminister, von 1974 bis 1992 war er Bundesaußenminister, ab 1982 unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Genscher gilt als überzeugter Europa- und Entspannungspolitiker, bei der deutschen Wiedervereinigung spielte er eine maßgebliche Rolle. Er starb am 31. März 2016 im Alter von 89 Jahren in Pech (Gemeinde Wachtberg) bei Bonn.