Vor 150 Jahren: Im Sommer 1865 war Bremen Gastgeber des zweiten Deutschen Bundesschießens
In einem schwarz-rot-goldenen Flaggenmeer präsentierte sich Bremen vor 150 Jahren, am 16. Juli 1865. Acht Tage lang richteten sich Blicke aus ganz Deutschland auf die Hansestadt als Gastgeber des zweiten Deutschen Bundesschießens. Beim großen Festumzug zum Auftakt der Festlichkeiten tummelten sich 15.000 Teilnehmer auf dem Domshof. Auf dem Weg zum Festplatz auf der Bürgerweide geriet die Marschordnung allerdings arg durcheinander. Nicht nur wegen der brütenden Hitze von 35 Grad im Schatten. Sondern auch, weil der Alkohol in Strömen floss.
Unbarmherzig glühte die Sonne, als sich am Vormittag des 16. Juli 1865 der Festzug der Schützen zum Domshof quälte. Von 35 Grad im Schatten sprechen die Chronisten – ein neuer Hitzerekord, so heiß war es seit Menschengedenken nicht gewesen. Aus dem gesamten deutschen Sprachraum waren rund 4500 Schützen zum zweiten Deutschen Bundesschießen angereist, am Umzug selbst sollen sich 15.000 Personen beteiligt haben. Dazu die jubelnden Menschenmengen an den Straßen. In Bremen herrschte absoluter Ausnahmezustand.
Drei Stunden lang paradierten die Formationen der Schützen durch die festlich herausgeputzte Altstadt. Rathaus, Schütting und Dom zeigten sich im Flaggenschmuck. Und zwar im Schmuck der schwarz-rot-goldenen Fahne, den Farben der Revolution von 1848. Das war durchaus eine politische Demonstration: das unterlegene Bürgertum marschierte. Ängstigen mussten sich die gekrönten Häupter nicht, die Schützenbrüder wollten ihre Waffen nicht gegen die Obrigkeit erheben. Aber ein Zeichen setzen. Die Mächtigen sollten wissen: Die Ideale von 1848 waren nicht vergessen. Noch immer stand die deutsche Einheit auf der Agenda. Und wenigstens ein bisschen ging es auch noch um Bürgerrechte, um die Grundwerte der Französischen Revolution: um Freiheit und Gleichheit.
Bremen als Schauplatz des Deutschen Bundesschießens – das war damals ein Top-Event, ein weithin beachtetes Ereignis, zumal es sich erst um die zweite Veranstaltung dieser Art handelte. Das 1. Deutsche Bundesschießen hatte 1862 in Frankfurt am Main stattgefunden, der alten „Kaiserstadt“. Als traditionelle Krönungsstätte der römisch-deutschen Kaiser war Frankfurt so etwas wie die inoffizielle Reichshauptstadt – deshalb hatte 1848 das gesamtdeutsche Parlament in der Paulskirche getagt, deshalb war Frankfurt als natürlicher Austragungsort des ersten Bundesschießens auserkoren worden.
Plötzlich trauten sich die braven Bürger wieder was
Nach der gescheiterten Revolution war es erst einmal still geworden um die Einheitsbestrebungen. Mit der Gründung des Nationalvereins 1859 kam indes neue Bewegung in die Sache. Plötzlich trauten sich die braven Bürger wieder was, reagierte die Obrigkeit auch nicht mehr so restriktiv auf die Rufe nach nationaler Einheit. Auf einmal waren sie wieder da, die nationalen Feste, die überregionalen Zusammenkünfte der „Deutschfühlenden“: Erst 1859 das Schiller-Fest zum 100. Geburtstag des Dichters, danach in immer schnellerer Folge deutschlandweite Sänger- und Turnfeste. Damit knüpften die jeweiligen Veranstalter an eine lange Tradition an, die 1817 mit dem studentischen Wartburgfest begonnen und 1832 im Hambacher Fest ihren Höhepunkt gefunden hatte. In dieser Tradition stand auch das 1. Deutsche Bundesschießen 1862 in Frankfurt.
Und nun also Bremen, das schon lange als Hochburg des Schützenwesens galt. Zur Ausrichtung des zweiten Bundesschießens sei man von allen Seiten „auf das äußerste gedrängt“ worden, gab 1862 ein bremischer Delegierter in Frankfurt fast entschuldigend zu Protokoll. Da habe man den Hut dann in den Ring geworfen. Zwar sollte das zweite Deutsche Bundesschießen eigentlich schon 1864 stattfinden. Doch der deutsch-dänische Krieg kam dazwischen, weshalb die Veranstaltung kurzerhand um ein Jahr verschoben wurde. Am vorgesehenen Zweijahresrhythmus sollte aber grundsätzlich nicht gerüttelt werden.
Acht Tage lang, vom 16. bis 24. Juli 1865, stand die Hansestadt im Fokus der Aufmerksamkeit. Durchaus kritisch verfolgte man in den deutschen Ländern, wie sich Bremen als Gastgeber einer solchen Großveranstaltung aus der Affäre zog. Würde die Weserstadt ihrer Aufgabe gewachsen sein? So viele Gäste hatte Bremen noch nie zuvor beherbergt, eine gewaltige logistische Herausforderung. Nicht zuletzt, weil der Senat sich alles andere als euphorisch zeigte. Die gesamte Organisation überließ der Bremer Staat einem eigens gegründeten Verein, nur zur Prägung von Gedenkmünzen erklärte man sich bereit.
Auf der Bürgerweide entstand ein Festplatz mit monumentalen Holzbauten
Zumindest an den Vorbereitungen gab es nichts auszusetzen. Als Austragungsort waren zunächst der Schützenhof am Hohentor und der Stadtwerder im Gespräch gewesen. Doch im April 1863 fiel die Entscheidung zugunsten der Bürgerweide, die ohnehin nur noch sporadisch für den Viehauftrieb genutzt wurde. Bis an die heutige Bahnlinie erstreckte sich das nahezu baumlose Weideland, dessen Umgestaltung zu einem „Volkspark“ schon damals lebhaft erörtert wurde – und nicht erst als Konsequenz aus dem Hitzedrama beim Bundesschießen.
Unter der Regie des renommierten Bremer Architekten Heinrich Müller wurde auf der Bürgerweide ein Festplatz mit zahlreichen provisorischen Holzbauten aus dem Boden gestampft. Interessanterweise im neoklassizistischen Stil und nicht im damals angesagten „neugotischen“ Stil, den Müller in Bremen ganz entscheidend geprägt hat. Im Zentrum befand sich ein achteckiger „Gabentempel“, um ihn herum gruppierten sich die Fahnenhalle, zwei große Tanzsäle, Restaurationsbetriebe, eine Lesehalle, Post- und Telegraphenbüros sowie die Festhalle mit Platz für 4300 Personen. Laut Wilhelm Lührs eine „ebenso großartige wie kostspielige Kulisse“ – und ein Meisterstück optischer Täuschung, wirkten die Holzkonstruktionen doch wie monumentale Steinbauten.
Im Norden grenzte eine 500 Meter lange Schießhalle an den Festplatz, dahinter befanden sich 150 Schießstände und zur heutigen Parkallee hin ein Rummelplatz, der „Volksplatz“ mit Karussells, Schaubuden, Fotoateliers, Verkaufs- und Bierständen. Auch der „Volksplatz“ hatte einen Mittelpunkt: das dreiflügelige Gebäude der Gewerbe- , Produkten- und Marineausstellung als Schaufenster bremischer Wirtschaftskraft. Die Zurschaustellung der eigenen Leistungsfähigkeit wirkt wie ein Probelauf für die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung von 1890.
Exzessiver Alkoholkonsum beeintächtigte die Marschordnung
Freilich schürte der exzessive Alkoholkonsum gewisse Zweifel an der Ernsthaftigkeit der freiheitlich-nationalen Bestrebungen. Konservative Zeitungen spotteten, nur durch Trinkgelage sei die deutsche Einheit wohl kaum herzustellen. Schon beim Festumzug hatte die fatale Kombination von brütender Hitze und allzu viel Genuss von Bier, Rotwein und Champagner zu zahlreichen Ausfallerscheinungen geführt.
„Viele Schützen blieben ohnmächtig am Wege liegen“, schreibt Wilhelm Lührs in seinem Aufsatz über die Veranstaltung. Es waren sogar zwei Todesfälle zu verzeichnen. Für die Hinterbliebenen des einen Opfers, eines Bremer Modell-Tischlers, der sich als Fahnenträger engagiert hatte und einem Schlaganfall erlegen war, erging ein Spendenaufruf in der „Weser-Zeitung“. Beim Marsch zum Festplatz blieb dann alle Ordnung auf der Strecke, bei ihrer Ankunft auf der Bürgerweide waren zahlreiche Umzugsteilnehmer völlig indisponiert. Nicht zuletzt solche, die „sehr spät und unsicher aus dem Hotel du Nord“ hinzugekommen waren.
Der übermäßige Konsum „geistiger Getränke“ blieb bis zuletzt ein charakteristisches Merkmal des Bundesschießens. Bereits beim Auftaktbankett am Nachmittag des 16. Juli 1865 konnten sich die Redner in der Festhalle kaum Gehör verschaffen, selbst Trommelschläge verhallten unbeachtet. Dabei dürfte der ohnedies schon hohe Alkoholpegel der Disziplin ziemlich unzuträglich gewesen sein. Und das wird sich nicht geändert haben, nachdem der Inhalt weiterer 10.000 Flaschen Wein durch die Kehlen der Bankettbesucher geflossen war. Bei den insgesamt acht Banketten wurden pro Teilnehmer zwei Flaschen Wein konsumiert. Nicht weniger weinselig dürfte es bei den Lustfahrten zugegangen sein, die der Norddeutsche Lloyd nach Helgoland anbot. In zeitgenössischen Berichten gibt es zweideutige Hinweise auf viel Humor an Bord.
So ganz Unrecht hatte die Bremer Kirche also nicht, als sie im Vorfeld der Festivitäten die „verderbliche Gelegenheit zum Vergnügen“ geißelte. Freilich stieß sie damit auf taube Ohren, am Ende wehte auch vom Dom die schwarz-rot-goldene Fahne zur Begrüßung der Schützen.
Harsche Kritik an Bremer Geschäftstüchtigkeit
Auf harsche Kritik stieß die Geschäftstüchtigkeit der Bremer. Man zweifelte an ihrer Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit, verdächtigte sie mangelnder Empathie für die „deutsche Sache“. Die Preise seien viel zu hoch gewesen, bisweilen seien die Gäste regelrecht übervorteilt worden. Tatsächlich witterten zahlreiche Geschäftsleute einen satten Gewinn, sie wollten an den Gästen kräftig verdienen. Einen Hinweis darauf geben die Verkaufsanzeigen in den Bremer Zeitungen: Da wurden „Ordonnanzmäßige Schützenhüte“ feilgeboten, da wurden die Vorzüge „Deutscher Schützen-Seide“ gepriesen, da warfen die Buchhändler und Verleger rechtzeitig zum Bundesschießen etliche Sonderdrucke mit Festplatz- und Stadtansichten auf den Markt.
Mit den Schützen kam auch allerlei Gesindel in die Stadt, vor allem Taschendiebe machten eine glänzende Ausbeute. Allein beim Festumzug registrierte die Polizei 18 Fälle von gestohlenen Geldbörsen, die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher gelegen haben. Großes Aufsehen erregte ein Raubmord: Ein Festplatzbesucher wurde „mit den Beinen nach oben“ in einem Schlammgraben tot aufgefunden, von seinen Wertsachen fehlte jede Spur.
Für Verdruss unter den Schützen sorgte die gewerbsmäßige Ausübung des Schützensports. Geradezu als Profischütze agierte ein Schweizer als Stammgast bei den deutschen Schützenfesten. Mit sicherer Hand räumte er allerorten die Prämien ab, oft genug ansehnliche Geldprämien und wertvolle Pokale. So hatten sich die Erfinder das Wettschießen eigentlich nicht gedacht.
Am Ende herrschte in Bremen großer Katzenjammer
Am Ende war der Katzenjammer groß, die Euphorie des Auftakttages mit dem feierlichen Festumzug verflüchtigte sich schnell. Bereits nach vier Tagen gingen die Besucherzahlen drastisch zurück, nur abendliche Unterhaltungsangebote wie ein Feuerwerk unter dem Motto „Kanonade à la Düppel“ vermochten noch Neugierige zu locken – eine etwas makabre Reminiszenz an die Bombardierung der Düppeler Schanzen im deutsch-dänischen Krieg von 1864.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass als Austragungsort des dritten Deutschen Bundesschießens ausgerechnet Wien gewählt wurde. Im Sommer 1865 ging das noch an: Der deutsche Nationalstaat ließ noch immer auf sich warten, noch immer war nicht geklärt, ob Österreich dazu gehören würde oder nicht.
Genau ein Jahr später hatte sich die Angelegenheit erledigt. Durch die österreichische Niederlage gegen Preußen in der Schlacht bei Königgrätz war der deutsche Dualismus beendet, der lange Kampf zwischen den beiden Großmächten um die Vorherrschaft in Deutschland endgültig entschieden. Nun war klar: der deutsche Nationalstaat würde kleindeutsch sein, nicht großdeutsch unter Einschluss Österreichs.
Wegen dieses Waffengangs musste wie schon das zweite auch das dritte Bundesschießen verschoben werden, diesmal von 1867 auf 1868. Es fand aber trotzdem plangemäß in Wien statt. In der Folge pendelte sich dann der Dreijahresrhythmus ein. Eine tiefe Zäsur für das Bundesschießen bedeutete die Gleichschaltung der Schützenvereine im „Dritten Reich“. Nach der NS-Machtübernahme gab es nur 1934 noch ein Bundesschießen, danach verschwand die Traditionsveranstaltung vom Festtagskalender. Erst 1955 wurde wieder ein Bundesschießen in Hannover ausgetragen, auch das 23. Bundesschießen von 1965 ging erneut in der niedersächsischen Landeshauptstadt über die Bühne. Doch zu einer Neuauflage kam es nicht mehr: Das Bundesschießen als gesellschaftliches Ereignis hatte sich 100 Jahre nach der Veranstaltung in Bremen endgültig überholt.
von Frank Hethey