In der Pogromnacht 1938 starb auch Selma Zwienicki – sogar Goebbels sprach von „Exzessen“ in Bremen
Von der tödlichen Verletzung seiner Mutter hat Benno Zwienicki nichts geahnt. Als die SA-Männer sein Elternhaus in der Neustadt verlassen hatten, fand er sie noch lebend im Schlafzimmer vor. Nur mit einem Morgenkittel bekleidet, lag sie neben dem Bett. Blutspuren waren nirgends zu sehen. Sie war sogar noch bei Bewusstsein, auch wenn sie sich nicht mehr verständlich artikulieren konnte. „Ich habe nur das Wort ‚Arzt’ verstanden“, gab Zwienicki bei seiner Vernehmung zu Protokoll.
Erst als er seine Mutter ins Bett hob, bemerkte er auf ihrem Nachthemd einen Blutflecken. Doch selbst das deutete er nicht als lebensbedrohlich. Vielmehr vermutete der 20-Jährige, sie sei geschlagen worden und habe deshalb Nasenbluten gehabt. Zu diesem Zeitpunkt war seine Mutter noch in der Lage, sich zu bewegen. Noch etwa zehn Minuten blieb Benno bei seiner Mutter, ihr Kopf ruhte in seinem linken Arm. „Jetzt schlief sie meines Erachtens ein.“
In Wahrheit war seine Mutter nicht zu retten, sie starb an einem Herzschuss. Doch davon erfuhr Benno Zwienicki erst in den Morgenstunden des 10. November 1938 bei seinem Transport zum Polizeihaus, wo er von der Kriminalpolizei zu den nächtlichen Vorgängen vernommen wurde und sogar eine Täterbeschreibung ablieferte. Die fiel ziemlich exakt aus, zahlreiche Details waren in seiner Erinnerung haften geblieben. „Von dem SA-Jackett konnte man die grünen Spiegel sehen.“ Den Mörder seiner Mutter werde er wiedererkennen, versicherte der junge Mann – offenbar im Vertrauen auf die polizeiliche Ermittlungsarbeit.
Im Großen und Ganzen war Propagandaminister Joseph Goebbels zufrieden mit der „Judenaktion“. Die sei „tadellos verlaufen“, notierte er in seinem Tagebuch. Allerdings nicht überall im Reich. „Nur in Bremen ist es zu einigen unliebsamen Exzessen gekommen“, hielt er fest. „Aber die tauchen gänzlich unter in der Großaktion.“
Zu den „unliebsamen Exzessen“ gehörten selbstverständlich nicht die Synagogenbrände und Verwüstungen jüdischer Geschäfte. Die waren gewollt und einkalkuliert – als Ausdruck des „Volkszorns“ über die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch einen jungen Juden in Paris. Die Entscheidung, seinen Tod zum Anlass für eine „Judenaktion“ zu nehmen, war am späten Abend des 9. November 1938 in München gefallen, wo sich die NS-Parteiführung zur alljährlichen Feier des Hitler-Putsches von 1923 aufhielt.
Dem „Volkszorn“ auf die Sprünge helfen
Zwar hatte Hitler eigentlich nur angeordnet, antisemitischen Ausschreitungen keinen Einhalt zu gebieten. Doch Goebbels war das nicht genug, er wollte dem „Volkszorn“ eigenmächtig auf die Sprünge helfen. Wohl auch, weil er damals beim Kampf um die Gunst des „Führers“ nicht gerade gute Karten hatte. Eine gelungene Aktion – und alles sähe wieder anders aus. Als sich Hitler schon zurückgezogen hatte, stachelte der Propagandachef mit einer Hetztirade die anwesenden SA-Führer an, in ihrem jeweiligen Machtbereich für Taten zu sorgen. Ein geschickter Schachzug, denn auch die SA stand unter Zugzwang, seit dem Röhm-Putsch von 1934 hatte sie merklich an Prestige verloren. Goebbels’ Worte fielen auf fruchtbaren Boden. „Alles saust gleich an die Telephone“, frohlockte er.
So auch der Regierende Bürgermeister von Bremen, Heinrich Böhmcker, zugleich Führer der SA-Gruppe Nordsee, zu der auch die Bremer SA gehörte. Kurz vor Mitternacht erreichte sein Anruf den Stabsführer der Gruppe im Hauptquartier an der Hollerallee 75, Werner Römpagel. Der genaue Wortlaut von Böhmckers Anweisungen ist nicht erhalten. Doch das spielt keine Rolle, denn es war Römpagels schriftliche Ausarbeitung für die untergeordneten SA-Trupps, die jetzt relevant wurde. Und in der hieß es, sämtliche Juden seien zu entwaffnen. „Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.“
Damit setzte sich eine fatale Spirale in Gang. Der Mörder von Selma Zwienicki, Obersturmführer Joseph Heike, bekam von seinem Vorgesetzten zu hören: „Es ist anzunehmen, daß Widerstand geleistet wird. Der Widerstand ist mit der Waffe zu brechen.“ Als ein SA-Mann ungläubig nachhakte, erhielt er die zynische Antwort, die Juden leisteten auf jeden Fall Widerstand. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt!“
Zwar ging noch in der Nacht der Befehl ein, die festgenommenen Juden in Konzentrationslager zu überweisen, doch die Maschinerie war nicht mehr zu stoppen. Goebbels’ Alleingang fand denn auch nicht den ungeteilten Beifall der Parteifürsten. Schon gar nicht den von SS-Führer Heinrich Himmler, dem jede Form schlecht organisierter Gewalt zuwider war.
Als rätselhaft gilt bis heute die Auswahl der Opfer. Denn in der Neustadt wohnten zahlreiche Juden. Von „niederträchtigen Motiven persönlicher Art“ ist in der Forschung die Rede. Vermutlich stand Selma Zwienicki nicht auf der Todesliste. Vielmehr hatten die SA-Schergen ihren Ehemann im Visier, den Fahrradhändler Joseph Zwienicki. Doch der hatte die lärmenden SA-Männer vor seinem Haus an der Ecke Große Sortilienstraße/Hohentorstraße gehört und war geflohen. Seine Familie blieb zurück: nicht nur seine Frau, sondern auch die beiden Söhne Benno (20) und Alfred (13).
Um 4.10 Uhr klingelte es
Es war etwa 4.10 Uhr, als drei SA-Männer klingelten und Einlass begehrten. Benno Zwienicki öffnete ihnen. „Sie sagten zu mir, dass sie das Haus nach Waffen durchsuchen wollten.“ Unter Bewachung eines SA-Mannes musste er an der Haustür ausharren, während die beiden anderen nach oben zu den Schlafräumen gingen. „Als ich bei der Tür stand, hörte ich meine Mutter schreien.“ Kurz darauf vernahm er abermals ihre Schreie „und gleichzeitig ein Geräusch, als wenn jemand auf den Fußboden fiel“. Einen Schuss hörte er nicht, jedenfalls steht nichts davon im Polizeiprotokoll.
Offenbar waren die SA-Männer verärgert, nicht den Herrn des Hauses anzutreffen. Als Selma Zwienicki die Frage nach seinem Verbleib nicht beantworten konnte oder wollte, feuerte SA-Mann Heike den tödlichen Schuss ab. Kurz darauf wurde Benno ins Haus geschickt, um seinen Vater zu suchen. Im Schlafzimmer fand er dann seine Mutter mehr oder weniger besinnungslos vor dem Bett. Eigentlich wollte er selbst einen Arzt verständigen, schickte aber auf Bitte seiner Mutter den kleinen Bruder, der die Ereignisse bis dahin verschlafen hatte. „Ich habe meinen Bruder aber nicht wieder gesehen, ein Arzt ist aber ebenfalls nicht erschienen.“
Neben der 56-jährigen Selma Zwienicki wurde in der Neustadt auch Heinrich Rosenblum hinterrücks erschossen, ein Weltkriegsveteran, der sich im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten engagiert hatte. Im Kreis Osterholz fanden drei weitere Juden den Tod, das Ehepaar Adolph und Martha Goldberg sowie Leopold Sinasohn.
Von insgesamt 17 getöteten Juden im ganzen Reich ging Goebbels aus. Da fiel die Region Bremen mit fünf Todesopfern besonders negativ ins Gewicht. Im Nachgang kam es deshalb sogar zu Verfahren gegen einzelne SA-Männer vor dem Obersten Parteigericht der NSDAP, auch gegen den Zwienicki-Mörder Joseph Heike. Doch natürlich ging es nicht um Gerechtigkeit. Sondern um die „chaotische Befehlsgebung“ (Herbert Schwarzwälder) auf unterer Ebene, zumal weit mehr Juden ums Leben gekommen waren als Goebbels anfangs angenommen hatte. Heute spricht die Forschung von fast 100 Todesopfern.
Das Ergebnis der parteiinternen Ermittlungen: Gerade die „alten Kämpfer“ unter den Zuhörern der Goebbels-Tirade hätten die Weisung, dass die Partei die antisemitischen Demonstrationen nicht organisieren solle, nur als verklausulierten Befehl aufgefasst, sich nicht erwischen zu lassen. Darum legten die SA-Randalierer vielerorts auch Räuberzivil an. Anders in Bremen, wo sie zumeist völlig ungeniert in Uniform auftraten. Freilich sah das Parteigericht über solchen Übereifer gnädig hinweg. Das Verdikt: Einzelne SA-Leute hätten die Befehle zwar missverstanden, aber aus echter nationalsozialistischer Überzeugung gehandelt.
Bestraft wurde dafür ein anderer: Benno Zwienicki. Nach seinem Verhör übergab die Kriminalpolizei den jungen Mann der Gestapo. Er wurde in „Schutzhaft“ genommen und sechs Wochen lang im KZ Sachsenhausen festgehalten.