Neues Buch von Jörg Karaschewski befasst sich mit der komplizierten Geschichte der Speckflagge
Als Bremen im Jahr 1811 von napoleonischen Truppen besetzt wurde, wandten sich die französischen Offiziere nach einiger Zeit an den Bremer Senat, um zu erfragen, wie eigentlich die Bremer Flagge auszusehen hatte. Aber niemand konnte den Besatzern eine sichere Auskunft erteilen.
Nirgendwo stand festgeschrieben, wie genau die Bremer Flagge aussehen müsste – also ging man zu den Segelmachern, die zur damaligen Zeit die Flaggen nähten. Auch die hatten keine gesicherten Informationen, konnten aber zumindest einiges zu den überlieferten Traditionen erzählen. Nach mehreren Niederlagen im Jahr 1814 zogen sich die Franzosen aus Bremen zurück und der Spuk der militärischen Besatzung ging zu Ende. Doch das Problem der unbestimmten Flagge blieb bestehen.
Ein Buch über deren Historie hat nun der Flaggenkundler Jörg Karaschewski geschrieben. „Vexillologie“ nennt sich sein Forschungsbereich – die Kunde von den Flaggen. Karaschewski hat bereits mehrere Bücher zu dem Thema publiziert, doch die Bremer Flagge entpuppte sich während seiner Recherchen zunehmend als ein launisches Sujet. Die Vielzahl verschiedener Ausführungen und die dünne Quellenlage ließen das als „Speckflagge“ bekannte Hoheitszeichen immer mysteriöser erscheinen.
Der schlimmste Moment kam, als Karaschewski die Flagge in einem Buch von 1687 fand. Es handelt sich laut dem Flaggenkundler um das älteste Buch, das eine Bremer Flagge zeigt. Doch das Buch warf mehr Fragen auf, als es Antworten gab. Keine Spur jener roten Streife, die der heutigen Version ihre charakteristische Speckwürfel-Optik verleihen. Die Abbildung zeigt eine blau-weiß-gestreifte Flagge.
Entstehung aus der Schifffahrt heraus
„Das Faszinierende ist: Kein Mensch weiß genau, wann und wie diese Flagge entstanden ist“, sagt Karaschewski. „Ich habe Flaggenkundler von der ganzen Welt aktiviert. Der eine hat mal da was gefunden, der andere hat mal da was gefunden, und dann wächst so langsam ein Bild zusammen.“ Die vielen kleinen Mosaiksteine begann Karaschewski schließlich zu einer Geschichte zu verdichten. Und die beginnt im 13. Jahrhundert.
In dieser Zeit begann die Hansestadt Hamburg damit, ihre Schiffe mit einem roten Wimpel („Flüger“) zu versehen, damit man sie als Hamburger Schiffe identifizieren konnte. Diese Abgrenzung von anderen Städten erwies sich als Erfolgsmodell: Bald zogen andere Städte nach – darunter auch Bremen. Die vermutlich erste Version einer Bremer Flagge ist auf einem Bild von 1573 zu sehen, das Segelschiffe an der Lesummündung zeigt. An den Schiffen lassen sich Wimpel mit dem Bremer Schlüssel erkennen, noch ohne Streifen im Hintergrund. Karaschewski vermutet, dass dieser Schlüssel-Wimpel die Bremer Antwort auf den roten Flüger der Hamburger gewesen sein könnte. „Das war der Beginn der ersten Bremer Flagge“, sagt der Flaggenkundler.
Die rot-weißen Streifen könnten später hinzugekommen sein, da sich rot als Signalfarbe auf See bewährt hatte. „Das sind praktische Erwägungen“, erläutert Karaschewski. Auch die Unterscheidung der Herkunft verschiedener Schiffe hatte praktische Gründe: Ob Zoll, Hilfeleistung oder die Entrichtung von Anliegegebühren, die Zugehörigkeit eines Schiffes zu einer Stadt machte sich an vielen Stellen bemerkbar. „Es war den Hamburgern offensichtlich sehr wichtig, dass sie die eigenen von den fremden Schiffen unterscheiden konnten“, sagt Karaschewski. Überhaupt hätten sich viele Flaggen aus der Schifffahrt heraus entwickelt: „Deswegen sind Flaggen in Küstenstädten auch deutlich akzeptierter als im Binnenland“, sagt der Vexillologe.
Die geheimnisvolle blaue Flagge
Im Fall der Bremer Flagge ist es mit der Abgrenzung allerdings so eine Sache. Denn die blau-weiße Flagge aus dem Buch von 1687 ist kein Einzelfall. Auch auf mehreren anderen Abbildungen findet sich diese wieder, etwa auf einer Flaggentafel von 1756, die im Thai National Flag Museum in Bangkok zu sehen ist. Eine Mailänder Flaggentafel von 1820 zeigt ebenfalls eine blau-weiße Bremer Flagge, zuletzt wurde diese laut Karaschewski in einem 1829 in Gießen publizierten Buch abgebildet. „Das heißt: Von 1687 bis 1829 geistert eine Flagge herum, die kein Menschen kennt und die niemand je beschrieben hat“, sagt der Flaggenkundler.
Zur Frage, wie zwei verschiedenfarbige Flaggen zur gleichen Zeit existieren konnten, hat er zwei Theorien. So könnte es sich zum einen um eine Reedereiflagge gehandelt haben. Dagegen spricht allerdings, dass in Bremen kein Handelshaus bekannt ist, das eine entsprechende Flagge geführt hätte. Möglich wäre auch, dass es sich bei der blau-weißen Flagge um eine Signalflagge handelte, die beispielsweise den Transport gefährlicher Ware angezeigt haben könnte. Beobachter könnten dadurch fehlgeleitet worden sein.
Eine dritte Möglichkeit wäre, dass es sich um ein großes Missverständnis handelte: „Kann auch sein, dass die alle von dem ersten abgeschrieben haben“, sagt Karaschewski. Eine endgültige Antwort hat er nicht, hofft aber darauf, dass möglicherweise irgendwann ein Hinweis kommt, der dann zur Lösung führt: „Deswegen publiziere ich solche Fragen gerne in Büchern, denn es kann immer gut sein, dass irgendwo da draußen jemand ist, der die Lösung hat. Der irgendwo ein altes Dokument hat, wo genau dieses Ding drin ist.“
Verwirrung um die Streifenzahl
Auch die Anzahl der Streifen, ob rot oder blau, ist keineswegs so klar geregelt, wie man denken könnte. Lange Zeit hätten die meisten Bremer Flaggen neun Streifen gehabt, erzählt Karaschewski, mit roten Streifen oben und unten. Jedoch existierten auch Versionen mit deutlich mehr Streifen. Erst 1891, das Deutsche Reich existierte bereits seit 20 Jahren, wurde eine einheitliche Gesetzgebung für das Aussehen der Bremer Flagge erlassen – und wieder ist es mit der Einheitlichkeit so eine Sache.
Tatsächlich wurde die Anzahl der Streifen in dem neuen Flaggengesetz nämlich nicht festgesetzt, sondern nur nach unten begrenzt: Mindestens acht Streifen sollte die Bremer Flagge fortan haben – doch nach oben könne die Zahl der Streifen „bis zum Abwinken“ erhöht werden, sagt Karaschewski. Einzige Voraussetzung: Ihre Anzahl sollte gerade sein.
Das gilt bis heute. So finden sich Ausführungen mit acht, zehn, zwölf und mehr Streifen. „Das ist absolut einmalig für deutsche Flaggen, aber auch für Flaggen weltweit. Normalerweise ist das Aussehen einer Flagge fest definiert. Hier nicht. Hier ist unheimlich viel Spiel drin. Frei nach der Ästhetik“, meint Karaschewski. Persönlich möge er die Version mit zwölf Streifen am Liebsten: „Zwölf ist ja eine ganz wichtige Zahl in der Zahlensymbolik.“ Zwölf Monate im Jahr, zweimal zwölf Stunden am Tag – zwölf Streifen auf der Bremer Flagge.
Typisch Bremisch?
In der fehlenden Festgelegtheit der Bremer Flagge erkennt Karaschewski Elemente wieder, die für ihn typisch für den weltoffenen Charakter Bremens sind. „Das ist mir in der Vielfältigkeit erst beim Schreiben aufgefallen. Die vielen Geschichten. Die blau-weiße Flagge, die variable Anzahl von Streifen, diese dünne Quellenlage“, sagt der Vexillologe. Ausdruck dieses Laisser-faire seien auch die Bemerkungen, die in der ersten Bremer Nachkriegsverfassung zur Flagge der Hansestadt gemacht wurden: Bremen führe einfach die Symbole weiter, die es immer schon gehabt hätte, wurde dort sinngemäß geschrieben.
„Diese Flagge scheint den Bremern immer unglaublich selbstverständlich gewesen zu sein“, sagt Karaschewski. Im Gegensatz zu vielen anderen sei sie auch an keinen einzelnen Personen oder historischen Ereignissen festzumachen. Das macht sie laut dem Flaggenkundler sozusagen geschichtsresistent: Wenn eine Flagge mit einem bestimmten Menschen oder Geschehen verknüpft sei, gebe es immer die Gefahr, dass sich der Wandel im geschichtlichen Verständnis auf die Flagge projiziere. Dies sei bei der Bremer Flagge nicht der Fall: „Deswegen war die Bremer Flagge so allgemein akzeptiert, und ist es auch noch heute“, sagt Karaschewski.
Selbst während des Regimes der Nationalsozialisten habe die Bremer Flagge keinen ideologischen Schaden genommen. Auch in dieser Zeit konnte sie sich laut Karaschewski eine gewisse Eigenständigkeit bewahren. Denn als der Gebrauch von Länderflaggen von den Nationalsozialisten zugunsten einer einheitlichen Reichsflagge verboten wurde, war die Bremer Flagge die einzige, die noch eine Funktion erfüllte: Die Weserlotsen nutzten sie weiterhin als Erkennungssymbol. „Ich weiß nicht, wie sie’s geschafft haben“, sagt Karaschewski begeistert. „Ich weiß nicht, ob das ein Stück Widerstand war – es ist nicht überliefert.“
Wie so vieles in der Geschichte der Bremer Flagge.
Jörg M. Karaschewski: Die Geschichte der Bremer Flagge, erschienen bei Books on Demand (Norderstedt), 128 Seiten, 73 Bilder, 24,90 Euro.