Das Runde muss in das Eckige, lautet eine der vielen Binsenwahrheiten des Fußballs. Dass Tore jedoch nicht immer Punkte bedeuten, obwohl sich etwas im Netz verfangen hatte, erfuhr die Mannschaft von Borussia Mönchengladbach 1971 beim Heimspiel gegen Werder Bremen.
Was war denn das? Kurz vor Vechta schreckten Werders Spieler und ihre Betreuer hoch. Der Mannschaftsbus machte Halt auf dem nächsten Parkplatz, dort stellte der Tross perplex fest: Am rechten Hinterreifen waren fünf von sechs Muttern weggeflogen. Ein neuer Bus musste bestellt werden, um zwei Uhr in der Nacht war die Mannschaft zurück in Bremen. Der seltsame Vorfall am 3. April 1971 blieb nicht nur aufgrund des glimpflichen Ausgangs eine Randnotiz. Denn beim Auswärtsspiel in Mönchengladbach hatte sich etwas ereignet, das bis heute in keiner Rückschau zur Historie der Bundesliga fehlt. „Der Balkenbruch vom Niederrhein“, titelte der WESER-KURIER im Sportteil. Im Gedächtnis des Fußballs hat das Ereignis als „Pfostenbruch“ seit 47 Jahren einen Ehrenplatz; so wie es am 5. April 1971 auf der Titelseite des WESER-
KURIER sogar in Reimform stand: „Pfostenbruch – Spielabbruch“.
Auf dem Bökelberg in Mönchengladbach sind 88 Minuten gespielt, es steht 1:1 zwischen dem Tabellenführer und den Gästen aus Bremen, als Günter Netzer in den Strafraum flankt. Werders Torwart Günter Bernard geht gemeinsam mit Borussias Angreifer Herbert Laumen zum Ball, den Bernard mit den Fingerspitzen über die Latte lenkt. Was dann passiert, hat Bernard akustisch einmal sehr anschaulich beschrieben: „Es hat laut ‚Krrrrr‘ gemacht.“ Im Tornetz liegt Laumen, der sich schwungvoll darin verfangen hat. „Wie ein Fisch“, erzählt Laumen noch Jahrzehnte später, „ich kam alleine gar nicht mehr raus.“ Mit bangem Blick sieht er die Torlatte in seine Richtung fallen und bringt sich in Embryostellung in Sicherheit.
Der Platz im Geschichtsbuch
Laumen bleibt unversehrt. Das Tor ist dahin, der rechte Pfosten knapp über der Grasnarbe abgebrochen. Das Holz war morsch, von außen nicht feststellbar. Als hätte der Pfosten hinterhältig auf solch eine Szene gewartet, um sich seinen Platz im Geschichtsbuch zu sichern. Dass es zu diesem Zeitpunkt unentschieden steht, beeinflusst maßgeblich das, was sich danach abspielt. Für die Gladbacher wäre es ein verlorener Punkt. „Wenn man Meister werden will, ist das zu wenig. Also haben die gedacht: Wenn wir jetzt Schluss machen, wird das Spiel wiederholt und beim nächsten Mal schlagen wir die Bremer“, berichtete Torwart Bernard einmal. Werder, selbst im Niemandsland der Tabelle unterwegs, will den Prestigeerfolg beim Spitzenreiter – und das Spiel unbedingt zu Ende bringen.
„Im Nu bildete sich ein großes Durcheinander, Zuschauer drangen johlend auf das Spielfeld“, notiert Karl-Heinz Czerwinski, Redakteur des WESER-KURIER, in seinem Bericht vom Bökelberg. „Verzweifelt bemühten sich die Bremer Spieler, den Pfosten wieder aufzurichten, während die Borussen teilnahmslos und in gemessenem Abstand die Bemühungen ihrer Gäste verfolgten.“ Schiedsrichter Gert Meuser, der erst sein viertes Bundesligaspiel pfeift, scheint überfordert zu sein. „Da ist nichts zu machen. Brechen Sie das Spiel ab“, redet Günter Netzer auf ihn ein. Anstatt das Tor aufrecht zu halten, reißen es Zuschauer und Ordner immer wieder ein. Nach zwölf Minuten gibt Meuser auf. Als er seinen Bericht schreibt, sitzt Werder bereits im Bus nach Hause.
Während Werders damaliger Geschäftsführer Hans Wolff damit rechnet, dass der DFB das 1:1 anerkennen wird, schlägt der Vorsitzende des Kontrollausschusses die Hände über dem Kopf zusammen. „O weh, da kommt wieder eine böse Sache auf uns zu. Es gibt kein Beispiel für diesen Fall, kein Grundsatzurteil“, sagt der DFB-Vertreter Hans Kindermann, der damals noch nicht ahnt, dass kurz darauf der Bundesligaskandal um gekaufte Spiele das Land erschüttern soll. Er wird den Skandal untersuchen und dadurch Bekanntheit erlangen. Am 29. April 1971 wird der Pfostenbruch verhandelt. Das Urteil: Der DFB wertet das Spiel mit 2:0 für Werder. „Das Bundesgericht ist der Auffassung, dass ein Bundesligaverein bei der Beschädigung eines Fußballtores aufgrund seiner Pflichten als Platzverein stets in der Lage sein muss, einen plötzlichen Schaden zu beheben“, begründet Kindermann die Entscheidung.
Als das Urteil gefällt wird, hat Gladbach vier Punkte und acht Tore Vorsprung auf den FC Bayern – allerdings zwei Spiele mehr absolviert. „Der DFB hat uns bestohlen, den Titel werden wir trotzdem holen“, ist auf einem Plakat der Borussia-Fans zu lesen. Es entwickelt sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wie es die Bundesliga selten erlebt hat. Nach dem 30. Spieltag sind Gladbach und Bayern punktgleich, am vorletzten Spieltag ziehen die Münchner aufgrund der besseren Tordifferenz vorbei. Ein Spieltag bleibt noch. Und beim MSV Duisburg versagen den Bayern die Nerven, sie verlieren 0:2. Durch den gleichzeitigen 4:1-Sieg bei Eintracht Frankfurt verteidigt Gladbach als erste Bundesligamannschaft den Meistertitel. Laumen, der „Fisch aus dem Netz“, macht sein letztes Spiel für die Borussen – dann wechselt er ausgerechnet nach Bremen. Glücklich wird er dort nicht, bei Werder geht es drunter und drüber.
Dass er ständig auf den „Pfostenbruch“ angesprochen wird, macht Laumen nichts aus. „Ich bin unsterblich geworden“, sagt der heute 75-Jährige. Trotzdem verweist er gern auf seine sportlichen Meriten. Er hält einen der ältesten Bundesligarekorde: Sein Hattrick am 30. September 1967 gegen Hannover war nicht der schnellste, aber der früheste: Bereits nach neun Minuten hatte Laumen dreimal getroffen – mit links, mit rechts, mit dem Kopf. Am Borussia-Park, in den Gladbach 2004 vom Bökelberg zog, sieht man den zweitbesten Torschützen der Vereinsgeschichte noch häufig. Laumen trainiert die Traditionself und organisiert die Stadionbesuche der Vereinslegenden. Loge 43 im VIP-Bereich trägt den Namen „Pfostenbruch“.
Der „eingenorddeutschte“ Franke
Seit dem 3. April 1971 ist Laumen ein Beispiel dafür, wie ein Kapitel alle anderen einer noch so erfolgreichen Profilaufbahn überstrahlen kann. Beim „Pfostenbruch“ war Werders Torwart Bernard der zweite Hauptdarsteller. Zwei weitere Male gingen Einträge ins Geschichtsbuch knapp an ihm vorbei. Als Timo Konietzka von Borussia Dortmund 1963 gegen Werder Bremen das erste Tor in der Bundesliga erzielte, stand Klaus Lambertz im Kasten und nicht Bernard, weil dieser sich nach seinem Wechsel vom 1. FC Schweinfurt verletzt hatte. Als er wieder gesund war, hütete der gebürtige Franke jahrelang Werders Tor, Bernard wurde mit den Grün-Weißen Deutscher Meister und „eingenorddeutscht“.
Um ein Haar hätte der heute 79-Jährige bei einem Ereignis des Weltfußballs im Mittelpunkt gestanden, das den „Pfostenbruch“ noch deutlich überstrahlt. Zur WM 1966 fuhr Bernard als zweiter Torwart der deutschen Nationalmannschaft. Vor dem Finale gegen England hatte sich Stammkeeper Hans Tilkowski an der Schulter verletzt. „Der Deuser, der Masseur, hat ihn nachts noch zwei, drei Stunden behandelt, damit er im Endspiel im Tor stehen kann“, berichtete Bernard einmal. Man munkelt, Tilkowski habe seinen Arm beim Schuss von Geoff Hurst, das zum weltberühmten Wembley-Tor führte, aufgrund seiner Blessur nicht so hoch wie nötig bekommen.
Während danach noch Jahrzehnte vergingen bis zur Einführung der Torlinientechnologie, hatte der „Pfostenbruch“ schnelle Folgen. Kein Bundesligateam wollte mehr Tore aus Holz, das Zeitalter der Aluminiumtore begann. Trotzdem fiel 1998 in Madrid vor dem Champions-League-Spiel zwischen Real und Borussia Dortmund ein weiteres Tor um. Fans waren auf einen Zaun geklettert. Dieser Belastung war er nicht gewachsen, knickte um und riss das daran befestigte Tor mit. Ersatz wurde herangeschafft, das Spiel mit 76 Minuten Verspätung angepfiffen. Für die humorvolle Überbrückung der Wartezeit („Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan.“) erhielten Günther Jauch und Marcel Reif 1998 den Bayerischen Fernsehpreis.
Auch Laumen brachte der „Pfostenbruch“ Annehmlichkeiten. Eine Sportgerätefirma aus Münster nutzte die Gunst der Stunde und rüstet heute zahlreiche Bundesligastadien mit Toren aus. In einer Kampagne des Unternehmens wurde Laumen zum „Botschafter für Kippsicherung“. Wenn einer weiß, wie man ein Tor zu Fall bringen kann, dann er.
von Jannik Sorgatz