Sachunterricht auf Englisch? In Bremen ging das schon 1855 mit Gründung der Bürgerschule – ein vergessenes Erfolgsmodell

Fremdsprachlicher Unterricht auch in klassischen Schulfächern wie Geschichte oder Geographie – das klingt nach moderner Pädagogik. Ein Irrtum, wie der Bremer Unilektor Tim Giesler nachweisen kann. Wurde doch in Bremen mit Einführung der Bürgerschule schon seit 1855 englischsprachiger Sachunterricht erteilt. Freilich blieb das Bremer Modell im Zuge der deutschen Einheitsbestrebungen schon bald auf der Strecke.

Bilingualer Sachfachunterricht, also fremdsprachlicher Unterricht in klassischen Schulfächern wie Geschichte oder Geographie, ist heute ein fester Bestandteil des schulischen Angebots – auch in Bremen. Neben dem Hermann-Böse-Gymnasium, welches schon seit 1991 ein Bilinguales Gymnasium ist, bieten derzeit noch sieben weitere Schulen In Bremerhaven und Bremen „bilingualen“ Unterricht. Unterricht in zwei Sprachen – meist Deutsch und Englisch – ist also ein Erfolgsmodell der letzten zwei Jahrzehnte, welches gut in unsere „globale“ Welt zu passen scheint.

Die bürgerliche Revolution von 1848/49 brachte Bewegung in die Schullandschaft: Die Bürgerschule von 1855 wäre ohne die Erhebung kaum zustande gekommen.
Quelle: Ws-KuLa, Bilderrevolution0066, CC BY-SA 3.0

Vergessen ist dagegen, dass eine Bremer Schule bereits seit 1855 englischsprachigen Geographie- und Geschichtsunterricht einführte und damit die Geschichte dieser Unterrichtsform um mehr als hundert Jahre zurückdatiert werden muss. In Vergessenheit geraten konnte diese Bremer Besonderheit, weil die Vereinheitlichung der norddeutschen Schulsysteme im Zuge der Reichseinigung nach 1867 Schritt für Schritt ein preußisches Schulsystem in Bremen einführte, das den Bremer Bedürfnissen gar nicht wirklich gerecht wurde.

Die Revolution 1848/49 brachte auch eine breite Diskussion über das Schulwesen in Gang – regional und überregional. Die Bremer Lehrerschaft als ein wichtiger Träger der Revolution vor Ort forderte die Einführung eines breiten Volksschulwesens und – in seiner radikalsten Ausprägung – eine Einheitsschule für alle (männlichen) Kinder. Diese Forderung ist bis zum heutigen Tag ein bildungspolitischer Dauerbrenner: Während sich progressive Kräfte eine gemeinsame Beschulung aller Kinder wünschen, verteidigt die konservative Seite insbesondere das Gymnasium als Schule des Bildungsbürgertums. Nach 1945 wollten die amerikanischen Besatzer die „Oberschule“ als Einheitsschule durchsetzen, in den 1970ern die Sozialdemokraten. Seit 2010 trägt ein Bremer Schulkompromiss, der das Gymnasium neben der inklusiven Oberschule als Regelschule schützt.

Die Bürgerschule als Kompromiss

Auch die Senatsherren konnten sich nach der gescheiterten Revolution in den 1850ern nicht mit der Idee einer Einheitsschule anfreunden. Sie gaben aber immerhin dem gestiegenen Bildungsbedürfnis nach und gründeten – unterhalb der staatlichen Gelehrtenschule und Handelsschulen und oberhalb der Volksschulen – eine „Bürgerschule“ genannte Mittelschule. Ihr erstes Domizil hatte die neue Lehranstalt in einem aufgestockten Flügel des früheren Katharinen-Klosters zwischen Schüsselkorb und Sögestraße.

Den Auftrag zur konzeptionellen Einrichtung erhielt Heinrich Gräfe als erster Vorsteher. Gräfe hatte bereits eine Bürgerschule in Jena geleitet und war Professor der Erziehungswissenschaft an der dortigen Universität gewesen. Die Wirren der Revolution hatten ihn „wegen Majestätsbeleidigung“ ein Jahr in kurhessiche Festungshaft gebracht, anschließend ging er als Rektor in die Schweiz wurde 1855 nach Bremen berufen. Gräfes bemerkenswertes Konzept ist anhand der monatlich herausgebrachten „Mittheilungen aus der Bürgerschule“, die er für die Eltern herausbrachte, detailliert überliefert. Im Folgenden soll exemplarisch kurz der für seine Zeit sehr ungewöhnliche Englischunterricht vorgestellt werden.

Das 19. Jahrhundert ist bildungsphilosophisch das Jahrhundert des Humboldt’schen Neuhumanismus. Danach waren die Alten Sprachen Griechisch und Latein die wichtigsten Bildungsträger und das Gymnasium die Institution, an denen diese vermittelt wurden. Methode des Fremdsprachenunterrichts war das, was seine Gegner „Grammatik-Übersetzungsmethode“ nannten und was vielen bis heute als die klassische Art, Latein zu unterrichten, bekannt sein dürfte: Einzelne Sätze, in denen bestimmte grammatikalische Phänomene vorkamen, mussten vom Deutschen in Lateinische rückübersetzt werden. Ziel war es, eine Lesefertigkeit der Klassiker hervorzubringen; oft genug aber blieben nolens volens nur einzelne Sinnsprüche hängen. Die „mentale Gymnastik“ im Umgang mit komplizierter Grammatik galt als wichtiger Schritt zu formaler – und möglichst nicht anwendungsbezogener – Bildung.

Bismarcks Einigungspolitik hatte auch Auswirkungen auf den Schulunterricht in Bremen.
Bildvorlage: Bundesarchiv, Bild 183-R15449 / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183-R15449, Otto von Bismarck, CC BY-SA 3.0 DE

Die Kaufleute konnten dem reinen Grammatikpauken wenig abgewinnen

Für Bremer Kaufleute, deren Haupthandelspartner die USA geworden waren und die Englisch benötigten, um sich im Ausland verständlich zu machen, war offensichtlich weder die Methode zielführend, noch das Ziel, nämlich das Verständnis geschriebener Texte, sonderlich sinnvoll. Angehende Kaufleute aber waren es, die einen Großteil der Schüler der Bremer Bürgerschule stellten. Gräfe erkannte dies und legte fest, dass die Lehrer auch über praktische, im Ausland erworbene Englischkenntnisse verfügen mussten und so in den höheren Klassen ihren Unterricht in der fremden Sprache abhalten können sollten. Zudem wurde Englisch – erstmalig an einer öffentlichen Schule in Deutschland – mit bis zu acht Wochenstunden erste Fremdsprache und stundenstärkstes Fach.

Besonders bemerkenswert ist, dass der Geographieunterricht in der vorletzten Klasse (Sekunda) und der Geschichtsunterricht in der letzten Klasse (Prima) komplett in englischer Sprache abgehalten werden sollten. In den „Mittheilungen“ vom August 1866 findet sich folgende Erläuterung (zitiert nach Giesler 2015):

Die englische Geographie in der II. Klasse der Bürgerschule, die zum Gegenstande England und die Vereinigten Staaten hat, steht als Unterrichtsgegenstand nicht isolirt da, sondern bildet einen untergeordneten Theil des Unterrichts im Englischen. Außer der Mittheilung geographischer Kenntnisse, soll nämlich der mündliche und schriftliche Gedankenaustausch im Englischen geübt werden. Es ist darum wohl selbstverständlich, daß dieser Unterricht ganz in englischer Sprache ertheilt wird, und daß die Schüler angehalten werden, nicht nur einzelne Fragen in dem fremden Idiom zu beantworten, sondern sich auch gelegentlich zusammenhängend über das Dagewesene auszusprechen.

Auch im regulären Englischunterricht spielte mündliche „Sprechfertigkeit“ eine herausragende Rolle; Grammatik hatte dagegen eine nur „dienende“ Funktion.

1867 kam das Aus für das progressive Bremer Unterrichtsmodell

Im Jahr 1867 fielen dann zwei Ereignisse im Großen und Kleinen zusammen, die das Ende dieses speziell bremischen Englischunterrichts einläuteten: Heinrich Gräfe verstarb und Bremen wurde Teil des von Preußen dominierten Norddeutschen Bundes. Gefragt war jetzt die Vereinheitlichung der norddeutschen Schulsysteme und Gräfe war naturgemäß nicht mehr in der Lage, sein Konzept zu verteidigen. Unter anderem weil es in Zeiten der Reichseinigung durch „Blut und Eisen“ plötzlich auch im bürgerlichen Bremen wichtig war, zum einjährigen freiwilligen Militärdienst zugelassen zu werden, musste die Bürgerschule sich den preußischen Realschulen 2. Ordnung angleichen, ab 1868 übernahm Bremen die Bezeichnung „Realschule in der Altstadt“.

Mit den deutschen Einheitsbestrebungen kündigte sich das Ende des fremdprachlichen Unterrichts in Bremen an: Die zeitgenössische Lithographie zeigt die Bevollmächtigten im Vorfeld der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867, darunter den Bremer Vertreter Otto Gildemeister (oberste Reihe, 3. v. li.).
Quelle: Wikimedia Commons

Zuerst kehrten dann die Grammatik und die Rückübersetzung vom Deutschen ins Englische in den Bremer Englischunterricht zurück, später wurde Französisch – was für den Bremer Handel keine Rolle spielte – aufgrund seiner komplizierteren und damit geistesfördernden Grammatik erste Fremdsprache und schließlich wurde der fremdsprachige Geographie- und Geschichtsunterricht 1885 aufgegeben.

Zeitgleich kam ironischerweise aus Preußen die berühmte Forderung Wilhelm Viëtors, der Sprachunterricht müsse „umkehren“ und die davon ausgehende international wirksame Neusprachliche Reformbewegung forderte für den Englisch- und Französischunterricht vieles von dem, was Bremen gerade aufgegeben hatte. Sachfachunterricht in der Fremdsprache ist seit den 1960ern wieder ein Thema – anfangs im Zuge der deutsch-französischen Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bremer Anfänge des englischsprachigen Sachfachunterrichts sind dagegen fast vergessen.

In seinem laufenden Dissertationsprojekt widmet sich der Autor nicht nur dieser lokalhistorischen Fußnote, sondern zeigt, welchen politischen und sozial-ökonomischen Einflüsse vergangene bildungspolitische Entscheidungen unterlagen und wie diese sich bis auf die Ebene des tatsächlichen (Fremdsprachen-)Unterrichts auswirkten.

Literatur

  • Giesler, Tim (2013). Die bremische Bürgerschule: Kommunikativer Englischunterricht für Kaufleute. In: Klippel, Friederike; Kolb, Elisabeth & Sharp, Felicitas (Hrsg.). Schulsprachenpolitik und fremdsprachliche Unterrichtspraxis. Historische Schlaglichter zwischen 1800 und 1989. Münchener Arbeiten zur Fremdsprachen-Forschung. Band 26. Münster: Waxmann, 113-123.

  • Giesler, Tim (2015). Here be dragons. Von einer „Mythologie“ zu einer „Morphologie“ des Fremdsprachenunterrichts. In: IJHE Bildungsgeschichte. Heft 2/2015, 146-161.

  • Reiche, Armin (1905). Die Entwicklung des Realschulwesens in Bremen insbesondere der Realschule in der Altstadt. Ein geschichtlicher Rückblick. Beilage zum Programm der Realschule in der Altstadt zu Bremen. Bremen: Selbstverlag.

 

von Tim Giesler

 

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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