Das Haus der Bürgerschaft wird 50 Jahre alt
Es gibt in Bremen keinen anderen Ort, den die Bevölkerung so ins Herz geschlossen hat wie den Marktplatz. Die Renaissancefassaden vom Rathaus und dem Haus Schütting, die Roland-Statue, das Hanseatenkreuz, der Blick auf die Domtürme und der in die Böttcherstraße – dies und vieles andere mehr an geschichtlichen Zeugnissen und atmosphärisch Aufgeladenem lassen hier so etwas wie den kollektiven räumlichen Identitätskern der Stadt entstehen. Die Redewendung von der „guten Stube“, die die Bremerinnen und Bremer für den Markt gefunden haben, zeugt von Vertrautheit, aber auch von einem gewissen Respekt – die „gute Stube“ zuhause war ja auch ein eher repräsentativer als gemütlicher Raum.
An diesem besonderen Ort steht nun seit fünfzig Jahren auch das Haus der Bürgerschaft.
Es nimmt die nordöstliche Ecke des Platzes ein und rahmt gemeinsam mit dem Rathaus den Blick auch die Domtürme. Nicht alle finden das Gebäude gelungen, vielen ist es zu modern. In Fachkreisen findet es dagegen – auch über die Grenzen der Hansestadt hinaus – höchste Anerkennung.
Die Vorgeschichte des Hauses ist ausgesprochen lebhaft. Rückblickend betrachtet verbindet sich mit dem Gebäude des Berliner Architekten Wassili Luckhardt der leidenschaftlichste Architekturstreit der Nachkriegszeit in Bremen. Das hat sicherlich mit der besonderen emotionalen Beziehung der Bremer zu ihrer „guten Stube“ zu tun.
Für Bürgerschaft auch andere Standorte im Gespräch
Fast alle Gebäude am Marktplatz hatten im Krieg schweren Schaden genommen, so auch das Börsengebäude an der Nordostecke, in dem sich unter anderem vor dem Krieg die Räume der Bürgerschaft befanden. Doch während die Westseite der Platzes mit der Rathsapotheke bis Anfang der 60er Jahre als eine Giebelhausreihe neu erstanden war, die sich an historische Vorbilder anlehnte, ohne moderne Elemente ganz zu verleugnen, war die Situation auf der gegenüberliegenden Seite schwieriger.
Weder eine stilisierende Anlehnung an die bereits um 1860 für den Bau der Börse zerstörten Bürgerhäuser, noch eine durchaus mögliche Restaurierung der Börsenruine war seinerzeit gewollt. Problematisch war zudem, dass für das Grundstück, das der Handelskammer gehörte, eine Nutzung noch nicht feststand. Denn es war zunächst offen, ob hier Bremens neues und erstes Parlamentsgebäude entstehen sollte. Für ein von allen Parteien gewolltes Haus der Bürgerschaft waren seinerzeit neben dem Börsengrundstück auch noch der Teerhof und vor allem der Theaterberg in den Wallanlagen als Standorte im Gespräch.
1951 wurde ein erster Wettbewerb für die Bebauung der Ostseite – noch ohne konkrete Nutzungsangaben – ausgeschrieben. Der Entwurf von Kurt Dübbers aus Berlin fand den meisten Beifall: eine Gruppe dreier Bauten, mit der ein gestalterischer Mittelweg angedeutet war zwischen einer Anlage aus einem Guss (wie einst die Börse) und einer Gruppierung individueller Einzelhäusern, die das Bild bis Mitte des 19. Jahrhunderts hier geprägt hatte. Von Dübbers Dreiergruppe ist immerhin 1956 der südliche Baukörper als Bürohaus C des Börsenhofs durch den Bremer Architekten Bernhard Wessel verwirklicht worden.
Nachdem 1957 die Nutzungsfrage des verbleibenden Grundstücks zugunsten eines Parlamentsgebäudes entschieden wurde, konnte 1959 ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben werden, bei dem drei gleichwertige Preise vergeben wurden. In der Öffentlichkeit spitzte sich die Diskussion aber sofort auf die Alternative zwischen dem Entwurf des Bremer Architekten Gerhard Müller-Menckens (1917 bis 2007) und dem des aus Berlin stammenden „Altmeisters des Neuen Bauens“ Wassili Luckhardt (1889 bis 1972) zu.
Bremisch oder modern?
Dabei waren sich beide Entwürfe – was die grundlegende Gliederung der Baukörper betraf – sogar ähnlich. Beide bestanden aus einem länglichen Flügel, der die Ostseite des Marktes akzentuierte, und aus einem im rechten Winkel dazu mit leichtem Versprung anschließenden quadratischen Teilkörper, der den optischen Abschluss vom Domshof bilden sollte.
Der Unterschied lag in erster Linie in den architekturästhetischen Auffassungen der beiden. Luckhardts Entwurf gab sich kompromisslos modern. Der von Müller-Menckens entsprach dem damals in Bremen für Bauten im Stadtkern verbreiteten Wunsch nach „überlieferte(r) Bauweise in Backstein- und Werksteinverwendung und mit steilem Dach“ – was man auch gern mit „bremisch“ umschrieb.
Luckhardts Entwurf stieß – wie man den Leserbriefseiten der Tageszeitungen von damals entnehmen kann – bei den Bremerinnen und Bremern vorwiegend auf Empörung. Unterstützung fand diese ablehnende Haltung aber auch durch Persönlichkeiten aus dem bildungsbürgerlichen Establishment wie den Kunsthallendirektor und den Denkmalpfleger.
Man versuchte, von außen Einfluss auf das Geschehen zu nehmen.
Die Aufbaugemeinschaft und andere Vereinigungen, die sich der hanseatischen Tradition verpflichtet fühlten, formulierten in einem Schreiben an den Bürgerschaftspräsidenten August Hagedorn über den Entwurf von Luckhardt: „Besonders aber lässt dieser Entwurf durch die Härte seiner kubischen Gestaltung mit dem flachen Dach jede Gemeinsamkeit mit den umgebenden Gebäuden vermissen. (…) Der Entwurf Müller-Menckens fügt sich nobel, einfach und doch selbständig und aus dem Empfinden unserer Zeit gestaltet, in das vorhandenen Baugut ein.“
Aber auch die beiden Architekten waren nicht untätig und sammelten namhafte Fürsprecher. Für Luckhardt setze sich unter anderem Bauhausgründer Walter Gropius, für Müller-Menckens sein Stuttgarter Lehrer Paul Schmitthenner ein.
Kein klares Expertenvotum
Beide Architekten wurden aufgefordert, ihre Entwürfe zu überarbeiten. Aber auch dieser Schritt brachte keine eindeutigen Präferenzen für den einen oder den anderen. Selbst fünf Gutachten von namhaften Architekten und Städtebauern, die klären sollten, welcher Entwurf für die Ausführung zu empfehlen sei, konnten sich nicht zu einem deutlichen Votum durchringen.
Stattdessen diskutierte man die Frage, ob der vorgegebene Rahmen, etwa durch die festgelegten Grenzen des Baufelds, nicht noch mal neu überdacht werden müsste. In der Tat stieß die mittelalterliche Bebauung, die für den Börsenbau weichen musste, viel weiter in Richtung Rathaus vor. Ein Gutachter, der Darmstädter Professor Heinrich Bartmann, der seinerzeit gerade in Bremen das Focke-Museum baute, machte den Vorschlag, mit einen neuen „engeren“ Wettbewerb mit sorgfältig ausgewählten Teilnehmern und weniger eingeschränktem Programm neue Impulse zu sammeln.
Inzwischen war Bremen mit seinem Architekturstreit auch bundesweit ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Die emotionsgeladene Kampagne, mit der in Bremen gegen ein modernes Bauwerk zwischen Rathaus, Dom und Schütting Front gemacht wurde – sogar an eine Volksabstimmung war gedacht –, kam außerhalb Bremens nicht besonders gut an. Um der Peinlichkeit der Entschlussunfähigkeit zu entgehen, wurde schließlich der Vorschlag Bartmanns aufgenommen und ein engerer Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem neben den beiden Kontrahenten mit Sepp Ruf und Rudolf Schwarz noch zwei national herausragende Architekten eingeladen waren und der 1961 entschieden wurde.
Konzessionen an den bremischen Geschmack
Diesmal konnte sich Luckhardt klar durchsetzen. Er war inzwischen aber von seiner konsequent modernen Linie abgewichen und hatte – vor allem mit seinen Giebel-Andeutungen an der Marktseite, mit den Natursteinverkleidungen der Betonsäulen und mit den Mauerfeldern aus dunklen Ziegeln – Konzessionen an den bremischen Geschmack gemacht.
Im Dezember 1961 wurde der Bau durch die Bürgerschaft bewilligt, obwohl seine Gegner noch mit einer Emnid-Umfrage einen letzten Versuch der Verhinderung des Vorhabens unternahmen. Unter Federführung der Bremischen Gesellschaft Lüder von Bentheim wurde medienwirksam der Vorschlag veröffentlicht, das Haus der Bürgerschaft an anderem Ort zu errichten und an der Ostseite des Marktes Fassaden von historischen Bürgerhäusern wieder aufzubauen, die nach dem Krieg abgetragen wurden und auf Plätzen der Denkmalpflege eingelagert waren.
Ein Vorbild für eine solche „Denkmalpflege auf Rädern“ gab es gleich gegenüber mit der Sparkassenfiliale Am Markt, Ecke Langenstraße, einem Neubau von 1958, dem die historische Rokoko-Fassade des Pflüglerschen Hauses von der Schlachte vorgeblendet war. Doch diese Intervention hatte auf die weitere Entwicklung keinen Einfluss mehr und blieb eine Fußnote, ebenso wie der verzweifelte „Rettungsversuch“ des Denkmalpflegers Rudolf Stein, der vorschlug, den Luckhardtschen Baukörper mit einem steilen Kupferdach, analog zum Rathausdach, zu bekrönen.
Späte Anerkennung
1966 war das Gebäude fertiggestellt. 1974 bekam Luckhardt, der 1972 verstarb, posthum den Bremer Architekturpreis des Bundes Deutscher Architekten. Unter Denkmalschutz steht das Gebäude bereits sein 1992.
Ungeachtet seiner bewegten Vorgeschichte hat das Bauwerk inzwischen als eines der interessantesten Parlamentsgebäude der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemeine architekturgeschichtliche Anerkennung gefunden. Das gilt für seine funktionalen wie für seine städtebaulichen Aspekte. Wie beim ursprünglichen Entwurf ist der Baukörper in zwei Teile gegliedert, zwischen denen wie ein Gelenk das Haupttreppenhaus liegt. Der dem Markt zugewandte kleinere Teil nimmt im zurück gesetzten Erdgeschoss die Eingangshalle, im ersten Obergeschoss Kanzleiräume sowie den Raum des Präsidenten und im zweiten Obergeschoss einen Festsaal von doppelter Höhe der unteren Geschosse auf. Diese Räume öffnen über eine vertikal gegliederte Glasfront zum Marktplatz.
Im hinteren Teil von fast quadratischer Grundfläche sind im ebenfalls zurückgesetzten Erdgeschoss Bibliothek und Archiv, im ersten Obergeschoss die Fraktionssitzungszimmer und im zweiten Obergeschoss der Plenarsaal untergebracht. Der Plenarsaal basiert auf einem gestauchten sechseckigen Grundriss und ist als Raum im Raum in den Baukörper so eingefügt, dass er über zwei seitlich vorgelagerte Foyers, den Festsaal als erweitertes Foyer und das hinten gelegenen Nebentreppenhaus vollständig umschritten werden kann. Der Saal erhält Tageslicht von einem Oberlichtfeld.
Die Plätze für die Zuschauer und Pressevertreter befinden sich im vierten Obergeschoss oberhalb des umlaufenden Foyers. Das Publikum kann hier von fünf Seiten entlang der sechseckigen Grundform das parlamentarische Geschehen verfolgen, ist also durch die Vorgaben der Architektur räumlich stark einbezogen. Im Kontrast zu der introvertierten Raumsituation der Parlamentarier öffnet sich für das Publikum aber auch über zwei ähnlich wie die Hauptfront am Markt gestaltete Glasfronten ein imposanter Ausblick auf die Stadt.
Es lohnt sich das Gebäude zu besichtigen.
Beste Gelegenheit bietet dazu der heutige Tag des offenen Denkmals. Hierzu werden im Gebäude Führungen angeboten. Und auch die Auftaktveranstaltung findet an diesem Ort und 11 Uhr statt. Im Haus der Bürgerschaft ist aus Anlass des 50. Jahrestages zudem bis zum 22. September eine Fotoausstellung zu besichtigen, die bislang noch unveröffentlichte Fotografien aus dem Entstehungsprozess des Gebäudes zeigt.
von Prof. Dr. Eberhard Syring