Zum Saisonstart: Vor zwölf Jahren war der SV Werder favorisiert bei den Bayern
Das erste Tor war das beste, das schönste – allein weil unerwartet. Ein Eins-Null aus dem Paradies. Der Ball explodierte im Netz, und das Netz selbst zappelte im Sonnenlicht wie ein frisch gefangener Fisch. Den ganzen Nachmittag bis in den frühen Abend hinein guckten wir das Video in der Endlosschleife unserer Begeisterung. Liam, der Barmann, wechselte von Sender zu Sender bis zur Tagesschau. Wir schauten es immer wieder an und fragten uns: Geht der Ball dieses Mal rein, oder schnappt ihn doch noch der Bananenmann?
Am 8. Mai 2004, an einem Jahrestag also, der bis dato nur eine einzige, für Briten und Deutsche gleichermaßen schwerwiegende Bedeutung hatte, schlug der SV Werder den FC Bayern 3–1 im Münchner Olympiastadion, um schon am drittletzten Spieltag deutscher Meister zu werden.
Das Spiel sah ich im Irish Pub im Schnoor, normalerweise ein kleines Stück alte Heimat in Deutschland, heute aber – innen drin – ein riesiges Stück Bremen in Irland. Zu spät gekommen, mussten wir während der ersten Halbzeit am Eingang stehen. Bei besagtem Tor von Klasnić schwoll die Menschenmenge in der Kneipe so schlagartig an, dass ich mit drei anderen Leuten rücklings auf dem Bürgersteig landete. Bei der sich immer wieder genüsslich wiederholenden Wiederholung hielt ich mich am Türrahmen fest.
Dank des Videoclips zum Lied Lebenslang Grün-Weiß kannte bald die halbe deutsche Bevölkerung nicht nur die Abfolge der Tore und die Torschützen auswendig [1], sondern auch den Fernsehkommentar von Marcel Reif: Riesenpatzer von Olli Kahn! … Tor von Micoud! … Sie lassen ihn zielen, sie lassen ihn schießen! [2] Werder-Fans kennen das alles noch heute. Dann am Abend ging es zum Flughafen …
Ich treffe unsere Tochter, die aus dem Steintorviertel kommt. Wir marschieren los, von der Stadtmitte über die Wilhelm-Kaisen-Brücke, Richtung Flughafen. Das ist auch etwas Schönes in Bremen: Andere Bundesligisten – die Mainzer, die Herthaner, der Eff Zeh in Köln – haben ihre Brücken nach Kaisern benannt, aber bei uns heißt die Hauptverbindung zwischen den beiden Stadthälften nach einem sozialdemokratischen Bürgermeister. Wir marschieren weiter nach Südwesten, durch die Neustadt.
Plötzlich Henning Scherf neben mir
Und plötzlich läuft der sozialdemokratische Bürgermeister neben mir – nicht derjenige mit der Brücke, sondern der aktuell regierende, Henning Scherf, umringt von Kindern wie der Rattenfänger der Spielvereinigung Preußen 07 Hameln, Stirn und Wangen grün-weiß bemalt. Wir sind das Volk, wir sind die grün-weiße Revolution, der Aufstand gegen die satte Dekadenz des Königreichs Bayern.
Plötzlich verliere ich meine Tochter – erst eine Stunde später sollte ich sie aus der Ferne wieder sehen, inmitten feiernder Freunde auf der Rollbahn. Inzwischen ist auch der Bürgermeister im Gedrängel verschwunden. Ich werde nun mehr geschoben, als dass ich laufe.
Und dann darf ich den Hooligan geben. Nachdem das kleine Flugzeug eine Landung vortäuscht und schließlich doch weiter fliegt – ein erschreckendes Manöver, das mir den Magen umdreht und mich an München 1958 denken lässt – , landen unsere Helden. Wir stehen da wie Kinder bei der Fütterungszeit im Zoo, ich in der geschätzt fünften Reihe hinter dem hohen Maschendrahtzaun, der anfängt, Wellen zu schlagen. Mir wird klar, dass die Jungs ganz vorne versuchen, ihn niederzutrampeln.
Plötzlich ist es so weit: Der Zaun kippt aufs Rollfeld, Hunderte – darunter ich – drängeln hinüber. Schon steigen die Spieler die enge Treppe aus der Maschine herunter und machen sich auf den Weg zu den Abholbussen. Als sie uns kommen sehen, bleiben sie erstaunt stehen. Plötzlich steuert der Mittelstürmer, die heiß geliebte Nummer 17, der Schütze des ersten Tores, auf mich zu. Er drückt mich wie einen lange verschollenen Bruder, obwohl wir uns noch nie begegnet sind. Haste gedacht, wir schaffen das?, fragt er. Ich rieche Champagner – echten. Nachher steige ich die Treppe hoch und küsse das Flugzeug. Es ist noch warm.
In meinem Kopfkino läuft der Film immer noch ab. Und jedes Mal zappeln der Ball und Kahns Netz.
[1] Nur für Besucher vom Mars oder Volleyball-Fans aus Neuseeland: Klasnić (19.); Micoud (26.); Ailton (35.) Irgendwann haben die Bayern ein Tor geschossen – but who cares?
[2] Und überhaupt: Marcel Reif, Werder-Verächter und großer Schwätzer vor dem Herrn, der allerdings einmal richtig bemerkt hat: Fußball ist kein Menschenrecht, sondern ein Grundnahrungsmittel. Na ja, er soll auch gesagt haben: Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit bleibt. Dagegen einer meiner Lieblingsfußballsprüche: Das Schweigen von Ottmar Hitzfeld wird lauter…
Abdruck aus Ian Watson, Spielfelder: eine Fußballmigration. Edition Falkenberg | ISBN 978-3-95494-097-4 | lieferbar ab 2. Juni 2016
von Ian Watson