Vor 50 Jahren

Im Alter von 66 Jahren starb am Freitag der Inhaber der Werbeagentur „Kogge-Werbung“ und langjährige Bürgerschaftsabgeordnete Karl Fichtner. Der gebürtige Bremerhavener erlernte ursprünglich den Beruf eines Schiffahrtskaufmanns und sattelte nach einem zweijährigen Auslandsaufenthalt in den Jahren 1936/37 in das Werbefach über. (WESER-KURIER, 11. September 1972)

Hintergrund

Ziemlich harmlos klingt, was der WESER-KURIER beim Ableben Karl Fichtners über dessen Vita zu berichten hatte. Erst im weiteren Verlauf der Meldung erfährt man, welche Parteien Fichtner in der Bürgerschaft vertreten hatte: erst die Deutsche Partei (DP), danach die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Gar keine Erwähnung findet seine braune Vergangenheit. Dabei war er der NSDAP schon lange vor Hitlers Machtübernahme beigetreten – ein „Alter Kämpfer“, der es in der SS bis zum Hauptsturmführer brachte.

Zu Fichtners Karriere im „Dritten Reich“ hat der Historiker Karl-Ludwig Sommer nähere Einzelheiten ermittelt. Seiner Studie zur NS-Vergangenheit früherer Bremer Bürgerschaftsabgeordneter ist zu entnehmen, dass Fichtner seit Mai 1930 Mitglied der NSDAP war. Schon damals hatte die Partei bei mehreren Landtagswahlen aufhorchen lassen, der Durchbruch gelang ihr aber erst bei den Reichstagswahlen im September 1930. Mit einem Stimmenanteil von 18,3 Prozent avancierte die NSDAP zur zweitstärksten Kraft hinter der SPD. Diesen Erfolg wiederholte die Partei kurz darauf im vermeintlich roten Bremen. Bei den Bürgerschaftswahlen im November 1930 kam die NSDAP auf 25,4 Prozent.

Der Roland als NS-Vorkämpfer: Am 6. März 1933 wurde die Statue mit einer Hakenkreuzflagge drapiert.
Quelle: Archiv

Was den 24-Jährigen zum Parteieintritt bewog, lässt sich erahnen: Die Weltwirtschaftskrise hatte Deutschland fest im Griff, die NSDAP präsentierte sich als anti-liberale, aber umso volksnähere Alternative zu den sogenannten Systemparteien. Nur kurzzeitig gehörte Fichtner der Prügeltruppe der SA an. Nach der NS-Machtübernahme 1933 machte Fichtner schnell Karriere in der SS, seit April 1936 im Rang eines Hauptsturmführers. Freilich mündete die ersehnte Beförderung zum Sturmbannführer wegen „wiederholter Geschwindigkeitsübertretungen mit Dienstwagen“ in einer Degradierung. Erst im September 1944 erlangte Fichtner seinen alten Rang in Anbetracht „hervorragender Leistungen“ in der SS-Wirtschaftsabteilung in Italien zurück.

Bis Juni 1948 war Fichtner erst in Kriegsgefangenschaft und dann interniert. Aus Brinkum siedelte er 1952 nach Bremen über und baute seine Werbeagentur auf. In die Bürgerschaft zog er erstmals 1963 als Abgeordneter der nationalkonservativen DP ein. Als politisch relevante Kraft hatte die vor allem in Norddeutschland verankerte DP damals eigentlich schon ausgespielt. Der Übertritt zweier Bundesminister zur CDU hatte ihr schwer zugesetzt, 1961 fusionierte die DP mit dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) zur Gesamtdeutschen Partei (GDP). Doch nach dem Desaster bei der Bundestagswahl im September 1961 war die neue Partei faktisch schon wieder am Ende.

Auch in Bremen spiegelten sich die Querelen wider. Nach heftigem Streit mit dem Bundesvorstand traten die Bremer GDP-Abgeordneten im Frühjahr 1962 aus der Partei aus, vier Abgeordnete der ehemals zwölfköpfigen DP-Fraktion fanden sich im September 1962 als wiederbelebte DP zusammen. Als solche gelang der DP im September 1963 mit 5,3 Prozent der Wiedereinzug in die Bürgerschaft, unter ihren vier Mandatsträgern war jetzt auch Fichtner. Eine wirkliche Zukunft hatte die Partei aber nicht mehr, in keinem anderen Landesparlament war die DP damals noch vertreten.

Doch eine Parteikrise heißt nicht, dass rechtes Gedankengut keine Anhänger mehr findet. Im Dezember 1964 formierte sich mit der NPD eine neue Kraft rechts von der CDU. Was heute weithin vergessen ist: Ein wesentlicher Impuls kam aus Bremen, die vier DP-Parlamentarier hatten maßgeblichen Anteil an der Parteigründung. Nach eigener Angabe hatte der Bremer DP-Landeschef und Bürgerschaftsabgeordnete Friedrich Thielen bereits seit September 1963 auf eine „nationale Sammlung aller rechtsstehenden Persönlichkeiten“ hingearbeitet, der WESER-KURIER bezeichnete ihn denn auch als „Initiator“ der NPD-Parteigründung. Wenig verwunderlich daher, dass Thielen zum ersten Bundesvorsitzenden der NPD gewählt wurde.

Zeigen Flagge: 2021 demonstrierte die NPD in der Bremer Neustadt.
Foto: Christina Kuhaupt

Das Kuriose: Die Bremer DP-Abgeordneten blieben DP-Abgeordnete, obwohl sie nun der NPD angehörten. Thielen begründete das mit dem Wählerauftrag. Eine Doppelmitgliedschaft sei zulässig. Die damalige NPD kritisierte die parlamentarische Demokratie, ein autoritärer Staat mit einem starken Bundespräsidenten und plebiszitären Elementen sollte es richten. Zwischen 1966 und 1968 zog die NPD in sieben Landesparlamente ein, ihr zweitbestes Ergebnis erzielte sie im Oktober 1967 mit 8,8 Prozent in Bremen. Als einer von acht NPD-Abgeordneten wurde der in Oberneuland lebende Fichtner wiedergewählt. In der Partei bekleidete er den Posten des stellvertretenden Landesvorsitzenden, einmal stellte er sich versehentlich als „Schatzmeister der NSDAP“ vor. Süffisant berichtete der WESER-KURIER von seinem Fauxpas.

Bei der Bundestagswahl im September 1969 bewarb sich Fichtner als Direktkandidat, dabei buhlte er insbesondere um die Gunst der Jugend. Für die NPD war das Ergebnis enttäuschend, mit 4,3 Prozent scheiterte sie deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde. Der anfängliche Elan war dahin, gegen die Popularität der neuen sozial-liberalen Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD) stand die NPD auf verlorenem Posten. Auch auf Länderebene vermochte die Partei nichts mehr auszurichten, bei der Bürgerschaftswahl im Oktober 1971 flog die NPD mit nur noch 2,8 Prozent in hohem Bogen aus dem Landtag. Bereits vorher war Fichtner desillusioniert, mit dem Wiedereinzug hatte er nach eigenem Bekunden ohnedies nicht mehr gerechnet. Kaum ein Jahr später starb er im Alter von 66 Jahren.

Früher SS-Mann, später NPD-Funktionär: der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Karl Fichtner. 
Foto: Unbekannt

 

 

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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