Vor 50 Jahren
Nicht einmal hundert Bremer Bürger hatten sich gestern vormittag vor dem Haus der Bürgerschaft eingefunden, als der Vorsitzende des Bremer Landeskuratoriums Unteilbares Deutschland, Hermann Lingens, einen Kranz „zu Ehren der Toten an der Berliner Mauer 1961-1971“ niederlegte. In einer sich anschließenden kurzen Feierstunde appellierte Bürgerschaftspräsident Dr. Dieter Klink an die Machthaber in der DDR, „die Unvernunft des Schießens an der Mauer durch die Vernunft der Politik“ zu ersetzen. Klink erinnerte aber auch an die „Wahnsinnspolitik der Nazis“, die für die Grenze quer durch Deutschland verantwortlich sei. (WESER-KURIER, 14./15. August 1971)
Hintergrund
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist das Kuratorium „Unteilbares Deutschland“. Dabei war der überparteiliche Verein in den Nachkriegsjahren ziemlich präsent, mit verschiedenen Aktionen sorgte das Kuratorium immer wieder für öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht wegzudenken war die Beteiligung an den Kundgebungen zum Tag der Deutschen Einheit am 17. Juni. Doch auch darüber hinaus legte das Kuratorium beharrlich den Finger in die Wunde der deutschen Teilung, die mit der doppelten Staatsgründung 1949 handfeste Gestalt angenommen hatte.
Gegründet wurde das Kuratorium als „Volksbewegung für die Wiedervereinigung“ im Juni 1954. Unmittelbarer Anlass war die verbreitete Ernüchterung nach der gescheiterten Berliner Konferenz zu Jahresanfang, die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit hatte sich damit zerschlagen. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die Westbindung der Bundesrepublik über die deutsche Einheit zu stellen. Auf Einladung seines Gegenspielers, des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser (CDU), fanden sich prominente Politiker unterschiedlicher Couleur zusammen, unter ihnen von der SPD der Parteivorsitzende Erich Ollenhauer und Fraktionschef Herbert Wehner sowie der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler.
Die parteiübergreifende Ausrichtung spiegelt sich auch in der Geschichte des Bremer Landesverbands wider, des Landeskuratoriums „Unteilbares Deutschland“. Als erster Vorsitzender wurde der frühere Schulsenator Christian Paulmann (SPD) gewählt, damals Landesvorsitzender seiner Partei. Danach kam 1964 mit Werner Ehrich der Chef der FDP-Bürgerschaftsfraktion ans Ruder, ihm folgte mit Hermann Lingens der langjährige Geschäftsführer des Landeskuratoriums, ein Christdemokrat.
Mit der Wiedervereinigung war damals mehr gemeint als nur der Zusammenschluss von Bundesrepublik und DDR. Es ging darum, Deutschland in den Vorkriegsgrenzen von 1937 wiederherzustellen, also inklusive der verlorenen Ostgebiete, die unter polnischer und sowjetischer Verwaltung standen. Zu einiger Bekanntheit gelangten Schilder mit der Parole „3geteilt? – niemals!“, in Bremen wurden sie von 1961 bis 1963 sogar auf behördliche Anordnung aufgehängt. Eine Konzession an den starken Vertriebenenanteil in der Bevölkerung, wie der Historiker Christoph Meyer meint.
Zu den bundesweiten Aktionen gehörte am 18. Juli 1955 eine zweiminütige Arbeits- und Verkehrsruhe, „um den Willen des deutschen Volkes zur Wiedervereinigung zu bekunden“. In Bremen heulten damals die Sirenen, in Berlin läutete die Freiheitsglocke. Viele Menschen folgten ab 1959 dem Anruf, an Heiligabend Kerzen in die Fenster zu stellen, um die innere Verbundenheit aller Deutschen über die „Zonengrenze“ hinweg zu demonstrieren. Ein echter Renner waren millionenfach verkaufte Anstecknadeln mit dem Symbol des Brandenburger Tors, die Jugend wurde alljährlich mit Fahnenstafetten und Wettbewerben mobilisiert.
Mit solchen Aktionen und Feierlichkeiten knüpfte das Kuration an Traditionen aus dem 19. Jahrhundert an, schon mit dem Hambacher Fest (1832) oder den Schillerfeiern (1859), in Bremen auch dem Zweiten Deutschen Bundesschießen (1865) hatte eine breite Bewegung von unten den Wunsch nach einem einigen und freien Deutschland artikuliert.
Seine Glanzzeit erlebte das Kuratorium „Unteilbares Deutschland“ von den späten 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre. Danach bröckelte der Zuspruch, erst recht nachdem die neue Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD) ab 1969 den Ausgleich mit der DDR suchte. Auch innerhalb des Vereins brachen Gegensätze auf. Hatte der stellvertretende Bundesvorsitzende Gerhard Honsalek (SPD) beim Sachsentag in Bremen im Oktober 1961 noch den „Bolschewismus“ auf deutschem Boden angeprangert, forderte der Landesvorsitzende Ehrich bereits im März 1966 einen realistischeren Umgang mit der DDR.
Im Herbst 1967 erklärte der Bundesvorsitzende Wilhelm Wolfgang Schütz, die Zweistaatlichkeit wie auch die Einheit der Nation seien nicht zu leugnen. Bei der Jahrestagung im Dezember 1967 kam es zu hitzigen Diskussionen, nach Einschätzung Meyers markiert das Jahr 1967 den Wendepunkt in der Geschichte des Kuratoriums. Für Aufregung sorgte der damalige SPD-Landesvorsitzende Henning Scherf, als er im März 1973 mit seinem Austritt drohte, wenn das Landeskuratorium nicht die Konsequenzen aus dem Grundlagenvertrag mit der DDR ziehe. Dazu gehörte, den Rechtsanspruch auf die verlorenen Ostgebiete aus der Satzung zu streichen. Das geschah denn auch, in der neuen Fassung bekannte sich das Landeskuratorium zur Arbeit „auf den bestehenden politischen Grundlagen“.
Parallel zum öffentlichen Interesse sank auch die finanzielle Förderung durch den Senat, statt 20.000 Mark wie 1967 flossen 1972 nur noch 4400 Mark in die Schatulle des Kuratoriums. Mehr und mehr verabschiedete sich das Kuratorium von seinen publikumswirksamen Auftritten. Zu den wenigen noch durchgeführten Veranstaltungen unter freiem Himmel gehörte die Kundgebung zum zehnten Jahrestag des Mauerbaus auf dem Marktplatz am 13. August 1971 mit Bürgerschaftspräsident Klink, einem gebürtigen Oberschlesier.
Im Zeichen der Neuen Ostpolitik habe die Organisation ihren Schwerpunkt auf wissenschaftliche Arbeit und politische Bildung gelegt, konstatiert Meyer. Bereits 1973 merkte der damalige Bürgerschaftsabgeordnete Reinhard Metz (CDU) an, das Kuratorium entwickele sich „allmählich zu einer Art Landeszentrale für politische Bildung“. Das historische Verdienst des Kuratoriums sieht Meyer in seinem „Beitrag zum Erhalt eines gesamtdeutschen Nationalbewusstseins“, daran habe 1989/90 angeknüpft werden können. Nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sah das Kuratorium seine Aufgabe als erfüllt an, 1992 folgte die offizielle Auflösung.