Etwas unbeholfen: Illustration aus dem Deneken-Buch zur Geschichte des Roland.
Quelle: Deneken, Die Rolands-Säule in Bremen

Angeblich sollte die Roland-Statue im Louvre landen – eine Legende und ihre Geschichte

Zum 610. Geburtstag der Roland-Statue erklärte die BILD Bremen ihren Lesern mal eben, was es mit der berühmten Ritterfigur auf sich hat. Dabei kam auch eine spektakuläre Begebenheit aus dem frühen 19. Jahrhundert zur Sprache. „Wussten Sie“, hieß es im November 2014, „dass Napoleon unser Wahrzeichen 1810 mit nach Paris nehmen und im Louvre aufstellen wollte?“ Dass nichts aus dem frevelhaften Ansinnen wurde, hatte laut BILD allein mit einem raffinierten Trick zu tun. „Zum Glück überzeugten ihn die Bremer von der künstlerischen Wertlosigkeit der Skulptur.“

Der raffgierige Kunsträuber Napoleon – übers Ohr gehauen von den schlauen Bremern. Das klingt gut, derlei lässt sich trefflich als Anekdote erzählen. Und doch ist nichts dran an der schönen Geschichte. Im Gegenteil, erst umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht die Bremer retteten die Roland-Statue vor den Franzosen. Sondern den Franzosen ist es zu verdanken, dass die Statue an ihrem angestammten Platz blieb statt als Schotter auf dem Marktplatz verteilt zu werden.

Wirklich neu ist diese Erkenntnis noch nicht einmal. Bereits 1994 verwies Rolf Kirsch, Mitarbeiter des Landesamts für Denkmalpflege, die gern kolportierte Geschichte vom drohenden Abtransport nach Paris ins Reich der Legende. Es fehle „jeder Hinweis“ auf Widerstand seitens der Bremer. Auch der Roland-Kenner Andreas H. Frenzel räumt in seiner „Kleinen Geschichte des Bremer Roland“ mit dem Märchen auf. Für ihn hat die „lokalpatriotische Auslegung“ die Legendenbildung befördert.

Hartnäckig hält sich die Legende

Fragt sich nur, wie das Märchen vom Beinahe-Klau des Roland überhaupt zustande kommen konnte. Und wie es sein kann, dass sich die Geschichte so hartnäckig hält. Dem nachzugehen ist eigentlich viel spannender als die plumpe Legende vom bösen französischen Langfinger und den edlen bremischen Rettern. Zeigt der Blick zurück doch, dass die Roland-Statue sich keineswegs schon immer der Hochachtung erfreute, die ihr heute als Zeugnis spätmittelalterlicher Kunstfertigkeit entgegengebracht wird.

Die ganze Geschichte beginnt 1811 – nicht 1810, wie die BILD irrtümlich behauptet. Bereits 1806 hatten französische Truppen Bremen besetzt, zum 1. Januar 1811 wurde die Stadt in das napoleonische Empire eingegliedert. Als Hauptstadt des Departements der Wesermündungen war Bremen fortan ein Teil Frankreichs. Von einem „Schock“ spricht der Leiter des Staatsarchivs, Konrad Elmshäuser. Geschockt waren die Bremer aber weniger aus gekränktem Nationalstolz, sondern vielmehr wegen des Verlusts der Eigenständigkeit.

Ein Dauerbrenner: BILD-Beitrag zum 610. Geburtstag der Roland-Statue im November 2014.

Im Februar 1811 wurde der Senat aufgelöst, ab August 1811 bekleidete der Gymnasialprofessor Wilhelm Ernst Wichelhausen den Posten des Maires, wie der Bürgermeister nun genannt wurde. Wie man ihn einzuschätzen hat, ist nicht ganz klar. Muss man Wichelhausen als finsteren Kollaborateur sehen? Oder vielmehr als verantwortungsvollen Mann, der in schwerer Zeit die Bürde der Amtsgeschäfte eines Maire auf sich nahm? Die Geschichtsschreibung verhält sich auffällig zurückhaltend bei seiner Beurteilung.

Der Maire wollte den Marktplatz entrümpeln

Wie auch immer es sich mit ihm verhalten mag, Wichelhausen war offenbar beseelt von Reformeifer, er hatte Ambitionen. Schon kurz nach seinem Amtsantritt entfaltete der damals 42-Jährige eine hektische Betriebsamkeit. Eines seiner ersten Projekte scheint die Neugestaltung des Marktplatzes gewesen zu sein. Der galt in seiner bisherigen Form als überholt. Das Wachlokal, die Marktmauer und auch die Rolandstatue wollte Wichelhausen ganz offenbar loswerden, um freie Hand zu haben für eine gründliche Umgestaltung des Marktplatzes. Womöglich schwebte ihm schon damals der Bau einer großen Markthalle vor. Der Fleischverkauf unter freiem Himmel galt als unhygienisch, man wollte die Händler in einem massiven Gebäude unterbringen.

Hatte angeblich einen Blick auf die Roland-Statue geworfen: der französische Kaiser Napoleon.

Freilich konnte der Maire nicht einfach schalten und walten wie er wollte, es bedurfte der Abstimmung mit vorgesetzten Behörden, nicht zuletzt mit dem Präfekten Philipp Karl von Arberg. Dem teilte Wichelhausen im November 1811 mit, die Statue des Stadtpatrons St. Roland sei „ohne jeden ästhetischen Wert“. An sich eine klare Aussage, die keinen Raum lässt für irgendwelche Interpretationen. Zumal sie auch völlig zu seinen Neugestaltungsplänen passt. Der Roland sollte fallen, um den Weg frei zu machen für einen modernen Marktplatz.

Und doch dient genau diese Stellungnahme als Beweis des Gegenteils. Es heißt, die geringschätzige Beurteilung des Roland sei ein gewiefter Kniff des Maire gewesen. Ganz bewusst habe er die Bedeutung der Statue heruntergespielt, um sie vor dem französischen Zugriff zu bewahren. Darum angeblich auch die so sonderbar anmutende Bezeichnung als Heiligenfigur – damit habe er den atheistischen Franzosen die Lust auf den Roland austreiben wollen. Ein geradezu genialer Einfall des wackeren Wichelhausen.

Die Quadriga landete in Paris

Keine Frage, Waisenknaben waren die „welschen Eroberer“ ganz gewiss nicht. Auf dem Höhepunkt der napoleonischen Herrschaft durchstreiften französische Kunstkenner den Kontinent, um auswärtige Kunstschätze zu requirieren. Ein berühmtes Beispiel: die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die 1806 nach dem Sieg über Preußen kurzerhand nach Paris geschafft wurde. Die Kunstschätze der Welt für die ganze Welt im Louvre – das war das Ideal, das dahinter steckte.

Merkwürdig nur, dass es nicht den geringsten Hinweis auf den Roland als begehrtes Raubobjekt gibt. Zwar habe die Statue durchaus ins Beuteschema gepasst, sagt Reinhard Kaiser, Autor einer kürzlich publizierten Biografie über Vivant Denon, den Chefbeauftragten Napoleons für die Beschlagnahme von Kunstgegenständen. Doch im umfangreichen Briefwechsel zwischen Denon und dem französischen Kaiser spielt der Roland keine Rolle. Sein Urteil: „Offenbar hatte Napoleon nichts mit dem Roland zu schaffen.“

Bekundete kein Interesse an der Roland-Statue: der französische Kunstsammler Vivant Denon.
Quelle: Robert Lefèvre

Mit anderen Worten, für Wichelhausen gab es überhaupt keinen Grund, den Franzosen den Roland abspenstig zu machen. „Das Verdikt des Maire, der Roland sei ohne jeden ästhetischen Wert, wird Wichelhausens ehrlicher Überzeugung entsprochen haben“, so Kirsch. Deshalb ist auch anzunehmen, dass der Chefingenieur des Departements, Louis Eudel, in voller Übereinstimmung mit dem Maire handelte, als er im Mai 1812 in seinem Maßnahmenkatalog den Abriss der Roland-Statue forderte. Sozusagen im vorauseilenden Gehorsam reichte der Architekt Jacob Ephraim Polzin schon einmal den ambitionierten Entwurf einer raumgreifenden Ringhalle auf dem Marktplatz ein. Den Roland sucht man auf dem Bild vergebens.

Und wer legte sein Veto ein? Ausgerechnet das französische Innenministerium. Als die Eudel-Pläne in Paris vorgelegt wurden, segnete die Behörde zwar die Umgestaltung des Marktplatzes ab, machte aber zur Auflage, dass der Roland und die Marktmauer erhalten bleiben müssten. Vergebens wetterte Eudel im Oktober 1813 gegen die Entscheidung, nur widerstrebend fand er sich bereit, den Roland als überdimensionale Brunnenfigur bei seinen Plänen für den Umbau des Marktplatzes zu berücksichtigen. Nur einen Monat später hatte sich die Sache mit dem Ende der „Franzosenzeit“ dann ohnedies erledigt.

Ein „mysteriöses Gebilde einer grotesken Phantasie“

Dass Wichelhausen mit seiner schlechten Meinung über den Roland nicht allein stand, belegt ein Blick in die zeitgenössische Literatur. Noch 1828 frotzelte Senator Arnold Gerhard Deneken über „diese seltsame colossale Bildsäule“, dieses „mysteriöse Gebilde einer grotesken Phantasie“. Für den klassisch geprägten Zeitgeschmack war der Roland als Kunstwerk offenbar indiskutabel. Wer den Apoll von Belvedere vor Augen hatte, konnte eben nichts finden am „abentheuerlichen Geschmacke des Gothischen“, an einer Figur, die „steif und schwerfällig“ wirkte.

Klobig und schwerfällig: das zeitgenössische Urteil über den Roland im frühen 19. Jahrhundert fiel nicht eben günstig aus.
Foto: Frank Hethey

Wie aber konnte da die Legende entstehen, die Franzosen und speziell Napoleon hätten den Roland wegschaffen wollen? Laut Kirsch war davon zum ersten Mal in einem Buch die Rede, das 1862 erschien. Mithin in einer Zeit eines immer stärker hervortretenden Nationalbewusstseins. In einer Zeit, in der die Deutschen ihre nationale Identität gern im Mittelalter suchten und fanden. Nicht umsonst erfreute sich der neugotische Baustil gerade in jenen Jahren großer Beliebtheit. Ungemein bezeichnend, dass ein Architekt wie Heinrich Müller meinte, in der Neugotik endlich den „deutschen Stil“ gefunden zu haben. Kein Wunder, dass man damals auch den Roland mit anderen Augen sah. Nicht mehr als Ausgeburt einer „grotesken Phantasie“, sondern als Zeugnis einer unverfälschten deutschen Kunstgesinnung.

Da durfte eben nicht sein, was nicht sein konnte. Ein aufrechter Mann wie Wichelhausen als Verächter der Roland-Statue? Ein undenkbarer Gedanke. Wenn er so abfällig über den Roland gesprochen hatte, so gewiss nur, um ihm einen Dienst zu erweisen. Die Strategie des Maire erklärte man sich so: das eine sagen, aber das andere meinen. Eine Interpretation, die dankbare Aufnahme in der regionalen Geschichtsschreibung fand. Bis hin zum bekannten Historiker Herbert Schwarzwälder, der in seiner Geschichte Bremens versicherte, Wichelhausen habe den Roland nur schlecht gemacht, um ihn vor der drohenden Gefahr zu retten.

Eine schmeichelhafte, aber offenbar keineswegs zutreffende Deutung der Worte Wichelhausens. Die vermeintliche Raublust als Räuberpistole.

von Frank Hethey

Schon fast auf dem Weg nach Paris? Hartnäckig hält sich die Legende, Napoleon habe Gefallen an der Roland-Statue gefunden.
Foto: Frank Hethey

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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