Ein Blick in die Geschichte (170): „Wätjens Schloss“ in Horn überdauerte kaum 50 Jahre

Die Temperaturen dürften um den Nullpunkt gelegen haben, als der Fotograf seine Kamera für diese Aufnahme zückte. Durch das kahle Geäst der Bäume fällt der Blick auf ein schlossartiges Bauwerk, zinnenbewehrte Mauern spiegeln den aus England importierten Stil der Tudor-Gotik wider. Auf der Straße liegt Schneematsch, deutlich zu erkennen sind die Schienen der Straßenbahn, die seit 1892 bis zur Endstation an der Horner Kirche fuhr.

Kein Mensch ist zu sehen an diesem Wintertag.

Auch in dem prächtigen Gebäude wird sich niemand aufgehalten haben. Der Hausherr, der vermögende Kaufmann Eduard Wätjen, pflegte nur den Sommer in seinem Landsitz zu verbringen, in der kalten Jahreszeit zog er sein Domizil an der Contrescarpe vor. Gleichwohl konnte er von seinem Herrenhaus an der Horner Heerstraße 16 nicht lassen. „Auch im Winter fuhr mein Vater zweimal in der Woche nach Horn, um nach dem Rechten zu sehen“, berichtet sein Sohn Theodor.

Mit dem Prachtbau scheint sich Wätjen einen Traum erfüllt zu haben. Nach dem Tod seines Vaters Diedrich Hermann Wätjen im September 1868 hatte er mit gerade einmal 20 Jahren die Geschäfte übernommen. Offenbar hatte er dabei ein glückliches Händchen, das Handelshaus schrieb schwarze Zahlen. Wobei anzumerken wäre, dass es sich nicht etwa um die gleichnamige Reederei handelte. Die wurde damals von seinem Cousin Christian Heinrich Wätjen geleitet.

Keine geschlossene Bebauung: das Landgebiet Horn auf einer Karte von 1860.

Ein Luxusanwesen als Visitenkarte

In der ländlichen Idylle von Horn, Oberneuland oder Rockwinkel einen hochherrschaftlichen Sommersitz zu errichten, gehörte in den frühen 1870er Jahren schon fast zum guten Ton. Wer wohlhabend war, hatte gleichsam eine gesellschaftliche Pflicht zum Repräsentieren. Gar nicht auszudenken, welche Gerüchte die Runde gemacht hätten ohne die Visitenkarte eines Luxusanwesens.

Als gerade einmal 25-Jähriger gab Wätjen den Bau 1873 in Auftrag. Wo vorher noch ein bescheidenes Sommerhäuschen gestanden hatte, wollte der Kaufmann einen standesgemäßen Prachtbau aus dem Boden stampfen lassen. Ein mächtiges Gemäuer, das weit mehr sein sollte als nur ein Landsitz. Ganz im prunkhaften Stil der Zeit sollte das Bauwerk den Charakter und die Ausmaße eines Schlosses haben.

Die Entwürfe lieferte der Architekt Johann Georg Poppe, damals ein höchst gefragter Mann, wenn es um Sommersitze für die Upperclass ging. Von solchen „bürgerlichen Schlossbauten“ (Uwe Schwartz) errichtete Poppe unmittelbar nach der Reichsgründung von 1871 gleich mehrere in Horn.

Das Geld saß locker in den Gründerjahren, dank der französischen Reparationszahlungen nach dem deutschen Sieg im Krieg von 1870/71 boomte die Wirtschaft. Nach Poppes Plänen entstand praktisch zeitgleich auch das noch weitaus größere „Schloss Kreyenhorst“ in nur wenigen hundert Metern Entfernung an der Vahrer Straße, heute Bürgermeister-Spitta-Allee.

Doch auch Wätjens Landsitz, das nicht umsonst „Wätjens Schloss“ oder „Schloss Alteneichen“ genannt wurde, brauchte sich nicht zu verstecken. Bis nach Worpswede sollte man vom achteckigen Turm blicken können. Die drolligen Zinnen waren ebenso wie der Turm ein unverzichtbarer Bestandteil der Tudor-Gotik – eigentlich erweckten Gebäude in diesem Stil nicht den Eindruck eines Schlosses, sondern eher einer Burg wie das Kapff’sche Haus an der Großen Weserbrücke. Der Poppe-Experte Uwe Schwartz spricht dem 1874 fertiggestellten Gebäude eine „ebenso malerische wie spektakuläre Wirkung“ zu.

Imposante Ausmaße: sommerlicher Eindruck von „Wätjens Schloss“.
Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Ein englischer Garten als Zierde

Genauso viel wie an dem Gebäude lag Wätjen an der Parkanlage im englischen Stil. „Alles war in äußerster Perfektion gehalten“, erinnerte sich sein Sohn. Die englischen Rasenflächen seien „peinlichst von jedem Unkraut“ reingehalten worden. Jeden Nachmittag habe sein Vater den Park mit seinen schönen Baumgruppen, Fußwegen und alten Eichen inspiziert. Und zwar zusammen mit seinem alten Hofmeier, der ein eigenes Hofmeierhaus „in elegantem Holzstil“ bewohnte.

Doch der Erste Weltkrieg und die sich anschließende Inflation beendete die pseudo-feudale Lebensweise. Als Realist machte sich Wätjen keine Illusionen, er wusste nach Angabe seines Sohnes, „daß solch ein reiner Luxusbesitz, nicht mehr aufrecht zu erhalten war“. Als konkreten Grund nennt Schwartz die hohe steuerliche Belastung durch die Hauszinssteuer – die habe das Ende für zahlreiche „bürgerliche Schlossbauten“ bedeutet. Auch das benachbarte „Schloss Kreyenhorst“ überstand die Krisenzeit nicht.

Schweren Herzens verkaufte Wätjen das Grundstück 1923 an eine Terraingesellschaft. Die fackelte nicht lange und riss sowohl das Herren- als auch das Hofmeierhaus ab – das Ende nach kaum 50 Jahren. 1926 wurde die frühere Parkanlage parzelliert und die Ringstraße Alten Eichen angelegt. In den 1930er Jahren begann die Bebauung mit Wohnhäusern.

Eduard Wätjen musste das nicht mehr mitansehen, er starb im Alter von 80 Jahren im Oktober 1928. So ganz vorbei ist das Kapitel freilich noch nicht – „in manchen Gärten stoßen die Bewohner noch heute auf Steine und die Grundmauern von Wätjens Schloss“, schreibt der Horner Stadtteilforscher Michael Koppel.

von Frank Hethey

Hinter kahlen Bäumen zu sehen: der Landsitz von Eduard Wätjen an der Horner Heerstraße, auch „Wätjens Schloss“ genannt.
Quelle: Landesamt für Denkmalpflege

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