Einen Monat im Jahr 2014 hat Jürgen Hinrichs, Chefreporter des WESER-KURIER, im Aalto-Hochhaus in der Neuen Vahr gelebt und darüber berichtet. Für die Serie bekam er 2015 den Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Kategorie Alltag verliehen. In einem Interview von 2015 kommt er jetzt selbst zu Wort – wie er überhaupt zu der Idee kam, zu seinen Erwartungen und den Reaktionen der Bewohner.
Sie haben im vergangenen Jahr 30 Tage im Aalto-Hochhaus gewohnt. Wie entstand die Idee zu „Hinrichs im Hochhaus“?
Jürgen Hinrichs: Die Idee kam mir nach einem Reportage-Besuch im Aalto. Ich war sofort angetan von dem Haus. Und weil ich in meinem Beruf immer den Weg zu den Menschen und ihren Geschichten suche, keimte der Gedanke in mir auf, für eine begrenzte Zeit dort einzuziehen.
Wie haben Sie sich auf Ihre Zeit dort vorbereitet – was wussten Sie über das Gebäude?
Ich habe mich natürlich mit der Geschichte befasst. Ich wusste, dass es mal als „Selbstmörderhaus“ verschrien war, weil sich mehrmals Leute hineingeschlichen haben, um in den Tod zu springen. Mehr aber interessierte mich der Architekt Alvar Aalto.
Welche Erwartungen hatten Sie vor dem Einzug?
Erwartet habe ich zunächst einmal nichts, und das war mir wichtig: keine Themen und keine Kontakte im Vorfeld. Einfach warten, was passiert, einziehen und gucken.
Wie haben die Bewohner auf Sie reagiert?
Ich wurde nach meinem Einzug sofort gegrüßt und angesprochen – obwohl die Leute zuerst nicht wussten, dass ich von der Zeitung bin. Das machte natürlich schnell die Runde und die Arbeit wurde zum Selbstgänger. Die Geschichten – ob große oder kleine – kullerten mir nur so vor die Füße.
Was macht das Aalto-Hochhaus Ihrer Meinung nach aus?
Es ist eine Mischung aus Nähe und Distanz. Es gibt dort Menschen, die sind ganz für sich und werden in Ruhe gelassen. Andere, das Ehepaar Diehl zum Beispiel, kennen alle und wissen alles. Im Aalto ist alles vertreten – vom Hartz-IV-Empfänger bis zur Professorin. Und dann ist es natürlich die Architektur. Jede Wohnung auf einer Etage ist anders geschnitten. Und die großen Fenster erst!
Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Als die Gewoba alle Mieter zur Weihnachtsfeier eingeladen hat und einige Mieter darauf drängten, dass ich auch eingeladen werde. Ich könnte heute hingehen und weitermachen, so nahe sind mir die Menschen noch und ich ihnen wahrscheinlich auch.
Ihr nächster Wohnort ist also das Aalto?
Tatsächlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, die Wohnung zu behalten – als Zweitwohnung, denn teuer ist sie ja nicht. Die Zeit dort war aber so intensiv, dass ich erst einmal Abstand brauchte.
21 geschützte Stockwerke
Die Bauarbeiten an dem Hochhaus, das der Architekt Alvar Aalto (1898 bis 1976) entworfen hat, begannen im September 1959, Auftraggeber war die Gewoba, damals eine Tochter der Neuen Heimat Hamburg. Das Ende 1961 fertiggestellte Gebäude, Berliner Freiheit 9, ist 65 Meter hoch und bietet insgesamt 7860,30 Quadratmeter Wohnfläche. 189 Wohnungen verteilen sich auf 21 Stockwerke. 1974 wurde das Bauwerk mit dem Bund-Deutscher-Architekten-Preis Bremen ausgezeichnet, seit 1995 steht es unter Denkmalschutz. Das Besondere an dem Hochhaus ist, so hat es Aalto geplant und umgesetzt, dass jede Wohnung eine individuelle und eigene Einheit bildet. Daher hat jede der neun Wohnungen pro Etage einen anderen Grundriss. Auf den Balkonen lässt sich – je nach jahreszeitlich bedingtem Stand – von Mittag an die Sonne genießen. Deshalb wird das Haus in Fachkreisen auch Feierabendhaus genannt. Damals wie heute interessieren sich Architekturliebhaber für das Aalto. Beliebt ist das Haus auch bei potenziellen Mietern: Wer hier eine Wohnung ergattern möchte, muss bis zu zwei Jahre warten.
von Sonja Gersonde