Eigentlich sollte am 21. Februar 1962 eine große Eröffnungsfeier für den neu erbauten Stammsitz der 1890 in Bremen gegründeten Spedition Kühne & Nagel stattfinden, die inzwischen auf vier Kontinenten tätig war. Bürgermeister Wilhelm Kaisen hatte sein Erscheinen zugesagt. Nach der Sturmflutkatastrophe, die in der Nacht zum 17. Februar an der deutschen Nordseeküste sowie an Elbe und Weser große Schäden verursacht und zahlreiche Menschenleben gefordert hatte, war aber niemandem mehr zum Feiern zumute.

Blick aus der Wachtstraße auf das Kühne-Haus: der Neubau als Fluchtpunkt.
Foto: Hermann Ohlsen/Archiv b.zb

Statt feierlicher Eröffnung gab es einen Pressetermin am Tag zuvor. Doch auch abgesehen von dem tragischen Ereignis lag ein Schatten über dem Neubau. Der Bauherr, Firmenpatriarch Alfred Kühne, Sohn der Firmengründers August Kühne, nach dem das Haus benannt wurde, war über die Zusammenarbeit mit den bremischen Behörden unzufrieden. Seit 1910 hatte die Firma ihren Hauptsitz im von-Kapffschen-Haus, einem historistischen Gebäude im Tudor-Stil, das direkt an der damaligen Großen Weserbrücke lag und bei einem Luftangriff 1944 zerstört wurde. Hier sollte die neue Firmenzentrale in Form eines modernen Bürogebäudes entstehen. Doch durch die Verlegung der neuen Großen Weserbrücke weiter stromauf und den Ausbau der Martinistraße mussten erst eine komplizierte Verlegung und ein neuer Zuschnitt des Grundstücks beschlossen und der Brückenneubau abgewartet werden.

Kummer bereitete dem Bauherrn zudem eine Gestaltungsauflage. Die Weserfront galt vor dem Weltkrieg neben dem Marktplatz als eine der Hauptsehenswürdigkeiten Bremens. Zwar ließ sich das stark zerstörte alte Stadtbild mit seinen zahlreichen Packhausgiebeln nur schwer rekonstruieren, doch strebten Senatsbaudirektor Franz Rosenberg und der vom Senat eingesetzte „Ausschuß für Stadtbildgestaltung“ den Erhalt eines einheitlichen Erscheinungsbildes der Weserfront durch Verwendung von Backstein, Steildächern und einer Höhenbeschränkung auf vier oder fünf Stockwerke bei Neubauten an. Aufgrund der Lage am Brückenkopf der Großen Weserbrücke billigte der Ausschuss dem Kühne-Neubau Sonderkonditionen zu, aber mehr als sieben Stockwerke sollten es auch hier nicht sein, damit keine optische Konkurrenz zur nahen Martinikirche entstehe. Alfred Kühne wollte aber ein richtiges Hochhaus mit zehn Geschossen und stieß damit trotz der Drohung, seine Steuern zukünftig in Hamburg zu zahlen, auf Ablehnung.

Der Architekt: biegsam bis zur Selbstverleugnung?

Vorausgegangen war 1958 ein Architekturwettbewerb, den der Bremer Architekt Bernhard Wessel für sich entschied. Dem Bauherrn gelang es aber, den Entwurf des zweiten Preisträgers durchzusetzen. Das war der Hamburger Architekt, Innenarchitekt und Schiffsgestalter Cäsar Pinnau, der nicht nur der Hausarchitekt von Kühne, sondern auch zahlreicher anderer Wirtschaftsgrößen der Nachkriegszeit wie Rudolf Oetker und Aristoteles Onassis war. Dass Pinnau in der NS-Zeit an der Innengestaltung der Neuen Reichskanzlei und der Planung von Bauten für das Projekt Nord-Süd-Achse in Berlin beteiligt war, tat seiner Karriere in den Nachkriegsjahrzehnten keinen Abbruch.

Der Neubau der 10-geschossigen Versicherungsbörse an der Herrlichkeit von 1967 steigerte den Wunsch zur Aufstockung des Kühne-Hauses.
Foto: Kurt Barthel/Archiv b.zb

Was Pinnau von andern Architekten mit ähnlichem Berufsweg unterschied, die sich architektonisch zu Modernisten wandelten: er bediente stilistisch eine große Bandbreite.

Das aufgestockte Kühne Haus 2014.
Foto: Özkan Acar/Archiv b.zb

Seine meist für eine wohlhabende Klientel gebauten Eigenheime, darunter auch das für Kühne, waren meist im vormodernen, gern auch neoklassizistischen Stil ausgeführt. Bei seinen Fabrik- und Verwaltungsgebäuden orientierte er sich dagegen an der klassischen Moderne der 1920er-Jahre oder an Entwicklungen der Nachkriegsmoderne in den USA. Sein etwa zeitgleich zum Kühne-Haus realisiertes 15 geschossiges Hamburg-Süd-Hochhaus an der Hamburger Ost-West-Straße ist hier zu nennen. Sogar einen echten Wolkenkratzer hatte er entworfen: den 52-stöckigen Olympic Tower in der New Yorker 5th Avenue für den Bauherren Onassis. 1972 wurde er vom US-amerikanischen Büro Skidmore Owings & Merrill realisiert.

Als man ab den 1970er-Jahren damit begann, die ungebrochenen Laufbahnen der in der NS-Zeit und Nachkriegsdeutschland erfolgreichen Architekten kritisch zu beleuchten, wurde Pinnaus Schaffen neu bewertet. Seine stilistische und ideologische Wandlungsfähigkeit galt nun als exemplarisch für „das Bild jenes Architekten, der, allen beschönigenden Berufsbildern zum Trotz, abhängig ist von der Macht und biegsam bis zur Selbstverleugnung“, so der Hamburger Architekturhistoriker Gerd Kähler.

Fachlich unstrittig blieb allerdings die architektonische Qualität seiner Bauten, gleich ob neoklassizistisch oder modern. Das gilt auch für das August-Kühne-Haus. Die quer zum Fluss gestellte Gebäude-Scheibe wurde im transparent gehaltenen Erdgeschoss an drei Seiten von einer Kolonnade umfasst. Das und die weite Auskragung an der Weserseite verliehen dem Baukörper Eleganz und eine gewisse Dynamik. Die sechs Bürogeschosse besaßen umlaufende Fensterbänder und, passend zum Umfeld, Brüstungen aus holländischen Handstrichziegeln. Ein viergeschossiger Seitenflügel gab den Maßstab für die noch nicht realisierte Nachbarbebauung vor.

Aufstockung nach zehn Jahren

Das Ende: Abriss der Gebäudes 2017.
Foto: Archiv b.zb

Die Meinungsverschiedenheit zwischen Bauherren und Gestaltungsbeirat über die Höhe des Gebäudes war damit aber noch nicht beendet. Nach dem Amtsantritt von Stefan Seifriz als Bausenator 1970 wurde Senatsbaudirektor Rosenberg in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet. Eine gute Gelegenheit für Kühne, eine Aufstockung des Bauwerks um drei Etagen ins Spiel zu bringen. Die statischen Voraussetzungen waren dafür schon 1960 weitsichtig geschaffen worden. Zur besseren Anschauung der Baumaßnahme wurde mit einem provisorischen Gerüstbau die optische Wirkung einer Aufstockung auf die Stadtansicht simuliert, worauf die Zustimmung einer Kommission des Bausenators erfolgte. 1972, zehn Jahre nach der Eröffnung hatte Kühne sein Gebäude so, wie er es sich schon immer wünschte. Kleiner Schönheitsfehler: Die Ziegelfarbe des Unterbaus wurde nicht ganz getroffen, sodass die nachträgliche Aufstockung für den geschulten Blick sichtbar blieb. „Auf einen kastenförmigen Aufbau auf dem Dach für den Fahrstuhl verzichtete die Firma, um das Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen“, hieß es im WESER-KURIER zu dem Projekt.

Ironie der Geschichte: Als der Konzern Ende der 2010er-Jahre das Gebäude abreißen und durch einen weiter an die Brücke heranrückenden Neubau – zum Ärger der Öffentlichkeit diesmal ganz ohne Wettbewerb – ersetzen ließ, waren es gerade die im Projektschaubild nicht dargestellten technischen Aufbauten, die das Gesamtbild erheblich störten. Inzwischen werden sie – architektonisch mehr schlecht als recht gelöst – von einem halbtransparenten Streckgitterzaun verborgen.

Der Neubau des August-Kühne-Hauses. Das angrenzende Grundstück zur Martini-Kirche hin ist noch unbebaut.
Foto: Hed Wiesner/Archiv b.zb

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