Was auf den Teller kommt, wird auch gehört: Bill Haleys Scheiben waren heiß begehrt. Quelle: Wikicommons

Was auf den Teller kommt, wird auch gehört: Bill Haleys Scheiben waren heiß begehrt.
Quelle: Wikicommons

Vor 60 Jahren: Jugendunruhen hielten vom 2. bis 4. November 1956 die Stadt in Atem 

Einige waren sicher frustriert, andere wohl nur auf Krawall aus. Grölend verließen nach Ende der Kinovorstellung hunderte Jugendliche das „Palast-Kino“ am Ostertorsteinweg, vereinigten sich mit anderen, die sich bereits vor dem Gebäude versammelt hatten und zogen mit diesen Richtung Innenstadt. Auf ihrem Weg dorthin schlugen sie mit Schirmen und Stöcken auf Autodächer und warfen an Straßenbahnen oder später am Haus des Reichs Scheiben ein. Völlig überrascht erlebte das eher betuliche Bremen Anfang November 1956 Jugendkrawallen unbekannten Ausmaßes. Den Soundtrack hierzu lieferte Bill Haley mit seinen Comets, die sich zu den heimlichen Hauptakteuren des Kinostreifens „Außer Rand und Band“ entwickelt hatten.

Nahezu unvermittelt wurde die junge Bundesrepublik Mitte der 1950er Jahre von einem bis dahin unbekannten Phänomen überrascht. In zahlreichen Städten machten Gruppen von sogenannten „Halbstarken“ durch ein provozierendes und nicht selten gewaltbereites Auftreten auf sich aufmerksam. Zwischen 1956 bis 1958 wurden allein in Deutschland rund 350 derartige Vorkommnisse mit Teilnehmerzahlen von 50 bis zu 1000 Jugendlichen gezählt. Über drei Tage hielten Jugendliche in Köln die Polizei in Atem, zertrümmerten Schaufensterscheiben und plünderten Automaten. Ganz ähnlich verhielt es sich in Osnabrück, wo es zwischen der Polizei und 300 Jugendlichen zu Zusammenstößen kam, die nur unter „zurückhaltender Verwendung des Gummiknüppels“ zerstreut werden konnten. Und selbst das eher beschaulich anmutende Wiesbaden erlebte an drei aufeinanderfolgenden Tagen Unruhen durch hunderte Jugendliche.

Grölend durchs Viertel: Randalierende Jugendliche schreckten im November 1956 die Bremer auf. Quelle: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, Bd. 1, Bremen 2008

Grölend durchs Viertel: Randalierende Jugendliche schreckten im November 1956 die Bremer auf.
Quelle: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, Bd. 1, Bremen 2008

Lederjacke, Jeans oder auch Nietenhose, Entenschwanzfrisur, Motorrad und ein möglichst provozierendes Auftreten waren die unverzichtbaren Attribute der sogenannten Halbstarken. Kaum war die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit überstanden, begehrten viele junge Menschen auf gegen das elterliche Erziehungsregiment. Die Bremer Band Die Yankees verarbeitete das damalige Lebensgefühl ein paar Jahre später zu einem Superhit.

Kein Verständnis in autoritären Elternhäusern

Die Halbstarken waren somit Ausdruck eines neu entstandenen Lebensgefühls. In ihren Augen bestand das Leben in erster Linie nicht mehr nur aus Verpflichtungen, sondern sollte auch Spaß bereiten. Bei ihren Eltern trafen sie mit solchen Sätzen auf wenig Verständnis. Kopfschütteln war sicherlich noch die nachsichtigste Reaktion in den meist noch autoritär geführten Elternhäusern. Ein geradezu unbändiger Aufbauwille, um der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit zu entrinnen, bestimmte das Denken der meisten Eltern. Für jugendliche Wünsche nach mehr Freiräumen war da kein Platz. Den Adenauerstaat wussten die Eltern dabei auf ihrer Seite. Eigens wurde 1956 ein Gesetz erlassen, welches das zielloses Herumfahren nach Paragraph 30, Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung verbot.

Nomen est omen: Der Filmtitel traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf. Quelle: Wikicommons

Nomen est omen: Der Filmtitel traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf.
Quelle: Wikicommons

1956 hatten sich gleich mehrere Filme dem Phänomen der aufbegehrenden Jugend angenommen und damit diesen zugleich Gelegenheit gegeben, dem neuen Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen. Insbesondere der Film „Rock Around The Clock“, welcher unter seiner deutschen Bezeichnung „Außer Rand und Band“ Ende 1956 in die deutschen Kinos kam, sorgte dabei für erhebliche Unruhe.

In Bremen konnte man sich ab Anfang November 1956 von der aufputschenden Wirkung des Hollywood-Streifens überzeugen. Da halfen auch keine beschwichtigenden Filmankündigungen, wie jene in den Bremer Nachrichten: „Heiße und ganz schräge Musik ist Trumpf, die banale, mit Eifersüchteleien und Intrigen durchsetzte Handlung Nebensache“, hieß es da. Aber auch: „Dennoch: Kein Grund zur Aufregung.“

Welche Sprengkraft sich aber hinter dem Film und seiner Musik verbergen konnte, hatten Ereignisse in anderen Städten bereits durchblicken lassen. Vorsorglich hatte die Jugendbehörde daher im Vorfeld des Films die Jugendlichen zu einem Tanzabend im Berufsbildungszentrum eingeladen. Als dann am Freitag, 2. November 1956, der Film in den Kinos „Palast“ und „Apollo“ anlief, dauerte es nicht lange, bis die Situation außer Kontrolle geriet.

Streit um Eintrittskarten 

Für ersten Frust hatte bereits der Umstand gesorgt, dass viele der Eintrittskarten an Jugendliche gegangen waren, die nicht aus dem Viertel stammten und so manche der Ortsansässigen leer ausging. In größeren Trauben versammelten sich diese sodann vor dem „Palast“ und empfingen nach Filmschluss die Herauskommenden mit Schmährufen und Rempeleien.

Halbstarker Kaffee: auch für Karikaturisten ein gefundenes Fressen. Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Halbstarker Kaffee: auch für Karikaturisten ein gefundenes Fressen.
Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Insgesamt hielten sich die Ereignisse am Freitagabend aber noch in Grenzen.

Wirklich kritisch sollte es aber am darauffolgenden Tag werden. Bereits am Nachmittag konnte der aufmerksame Beobachter erste Anzeichen erahnen. Aufgeheizt und aufgeputscht durch die Musik und Gruppendynamik – die Betreiber wollten die Vorführung schon abbrechen, entschieden sich dann aber doch dagegen – trafen die herauskommenden Zuschauermassen erneut auf eine größere Gruppe Jugendlicher, die keinen Einlass mehr gefunden hatten. Bei diesen handelte es sich um Oldenburger und Delmenhorster, die ganz offensichtlich Randale machen wollten und den Kinozuschauern zahlenmäßig überlegen waren. Erst nachdem andere Bremer Gruppen hinzukamen, glich sich das Kräfteverhältnis aus und mit Schirmen und Stöcken bewaffnet zogen diese dann durch die Straßen.

„Als im Apollo der Film ‚Rock Around The Clock‘ mit Bill Haley lief, sind wir alle hin. Draußen war es voll von Menschen, die nicht mehr reingekommen waren. Als wir nach dem Film rauskamen, wurde Krawall gemacht, das war wie eine Lawine. Man hat sich mitschleifen lassen. Da wurden Autos umgekippt. Von der Polizei gab es viel Härte, die schlugen einfach drauflos“, berichtete später ein Zeitzeuge.

„Irgendwann standen auf dem Marktplatz hunderte von jungen Leuten, und die haben da gegrölt. Meine Vorgesetzten waren entsetzt, dass so etwas in der guten Stube Bremens los war“, erinnerte sich ein Bremer Streifenpolizist über das Auftreten der Jugendlichen.

Viel Werbepotenzial: Anzeige zum Haley-Film. Quelle: Sönke Ehmen

Viel Werbepotenzial: Anzeige zum Haley-Film.
Quelle: Sönke Ehmen

Die Polizei fackelte nicht lange

Lange wurde darum von Seiten der Polizei auch nicht mehr gefackelt. „Als sich nach der letzten Vorstellung des Palast-Theaters Hunderte ‚Rock’n Roll-Fanatiker‘ wieder zu ihrem Marsch in die Innenstadt formierten“, so die Bremer Nachrichten, „griff die Polizei am Ostertor mit dem Wasserwerfer ein. Die Gummiknüppel sprachen eine harte Sprache. Nach wenig mehr als einer halben Stunde war die Ruhe in Bremens Straßen wieder hergestellt. 23 Rädelsführer wurden vorläufig festgenommen.“

In seinem Buch Schlag auf Schlag. Die Bremer Rock- und Beatszene 1954-1968 weiß Autor Detlef Michelers sogar von einem Delmenhorster zu berichten, der aus dem väterlichen Betrieb einen Kleinbus mitsamt einer eigens konstruierten Radioanlage mitgebracht hatte. Ebenso war es ihm gelungen, annähernd 100 Eintrittskarten im Vorverkauf zu organisieren. Derart ausgestattet parkte er am Sonntagabend seinen Wagen vor dem „Palast-Theater“, beschallte die Umherstehenden mit lauter Musik und verteilte die mitgebrachten Kinokarten an ein ausgesuchtes Publikum. Welch’ elektrisierende Wirkung dies auf die Anwesenden hatte, lässt sich denken. In ausgelassener Stimmung zogen sie nach Ende der Vorstellung durch die Straßen und lieferten sich erneut mit der Polizei eine Verfolgungsjagd.

Als das Wochenende vorbei war, setzte aber eine merkliche Entspannung ein. Großen Anteil hieran hatte nicht zuletzt Bremens Jugendsenatorin Annemarie Mevissen, die am Montagabend nach der Kinovorstellung zu einer Diskussionsrunde auf dem Marktplatz eingeladen hatte und sich zugleich in einem Aufruf an die Eltern wandte.

„Eltern, schützt eure Kinder“

Nahm die Eltern in die Pflicht: Jugendsenatorin Annemarie Mevissen. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Nahm die Eltern in die Pflicht: Jugendsenatorin Annemarie Mevissen.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

„Auch Bremen mußte das traurige Schauspiel erleben, daß Jugendliche sich zusammenrotten, randalierend durch die Straßen zogen, Passanten belästigten, den Verkehr störten und Sachschäden anrichteten, so daß die Polizei trotz aller Zurückhaltung gezwungen war, einzuschreiten. Eltern, schützt eure Kinder davor, dass sie als Neugierige durch die notwendigen Maßnahmen der Polizei erfasst werden. Eure Jungen und Mädchen können morgen vor dem Richter stehen und müssen sich verantworten. Wollt ihr, dass es so weit kommt?“ hieß es ihrerseits. Und weiter: „Es ist der Jugend unwürdig, besonders im Hinblick auf die Ereignisse in Ungarn und dem Nahen Osten, sich jetzt an solchen Krawallen zu beteiligen.“

So rasch wie die Krawallen die Hansestadt ergriffen hatten, verschwanden sie auch wieder. Als Ende Januar 1957 eine Fortsetzung des Films gezeigt wurde, blieb es auf den Straßen ruhig. Gut möglich, dass sich die Jugendlichen vom rigiden Vorgehen der staatlichen Kräfte eingeschüchtert zeigten.

39 Jugendliche wurden am Anschluss an die Novemberereignisse vernommen und teils auch in Haft gesetzt. Am Ende ließ die Staatsanwaltschaft jedoch Milde walten. „Sie [die Staatsanwaltschaft] meint, dass die Jugendlichen im Verlauf des Verfahrens den Ernst der Situation erkannt haben und dass eine ernsthafte Verwarnung ihren erzieherischen Wert nicht verfehlen würde“, berichtete der Weser-Kurier.

von Sönke Ehmen

Die Verführer der Jugend: Bill Haley and the Comets im Jahre 1956. Quelle: Wikicommons

Die Verführer der Jugend: Bill Haley and the Comets im Jahre 1956.
Quelle: Wikicommons

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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