Jugendliche setzten im Mai 1951 ein Zeichen pro Europa / Bürgermeister Kaisen als überzeugter Europäer 

Klammheimlich schlich sich am 1. Mai 1951 eine Gruppe Jugendlicher ins Parkhaus, dem Vorgängerbau des heutigen Park Hotels im Bürgerpark. Ihr Ziel: die mächtige Kuppel des Gebäudes, auf dem Dach wollten sie ein weithin sichtbares Zeichen setzen. Und tatsächlich, die Aktion glückte, pünktlich zur Ankunft des Mai-Umzugs flatterte auf dem Parkhaus neben der schwarz-rot-goldenen Flagge die Europaflagge. Ein grünes E auf weißem Grund, weshalb Spötter auch von „Churchills Unterhose“ sprachen.

Mit ihrer Kletteraktion eiferten die Jugendlichen dem Vorbild zweier Studenten nach, die nur wenige Monate zuvor am 20. Dezember 1950 auf dem menschenleeren Helgoland schon einmal beide Flaggen gehisst hatten. Ein weithin beachteter Prostest nicht nur gegen die deutsche Wiederbewaffnung und die Verunstaltung Helgolands als Ziel britischer Bombenabwürfe. Sondern auch ein Plädoyer für die europäische Einigung.

„Ein einiges Europa war damals der Traum der Jugend, ein leuchtender Horizont“, sagte einer der beiden Helgoland-Besetzer, René Leudesdorff, vor einigen Jahren im Interview mit dem Autor dieser Zeilen. Und nicht nur die Jugend, auch gewichtige Vertreter älterer Generationen setzten auf den europäischen Traum. Unter ihnen Bremens Bürgermeister Wilhelm Kaisen, der sich unentwegt stark machte für die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Fernziel.

Nach der Doppel-Katastrophe des Ersten und Zweiten Weltkriegs bestand weithin Einigkeit über die Notwendigkeit einer europäischen Union, um einen nochmaligen Krieg ein für allemal auszuschließen. Kein einfacher Weg, dass war den Menschen auch schon damals klar. Eine Politik der kleinen Schritte sollte zum Ziel führen: erst die wirtschaftliche, dann die politische Einheit.

Doch der Gedanke einer europäischen Einheit wurde nicht erst im 20. Jahrhundert geboren, er schwirrt schon lange in den Köpfen herum.

Europa-Gedanke schon in der Antike

Im Grunde lässt er sich zurückverfolgen bis in die Antike. Bis in die Zeiten des Römischen Reichs als Garant einer stabilen Friedensordnung, der Pax Romana. Nur allzu leicht gerät in Vergessenheit, dass das mittelalterliche Kaiserreich diese Traditionslinie fortsetzte. Dass es kein deutsches Kaiserreich war, sondern sich als Rechtsnachfolger des untergegangenen Römischen Reichs sah, als dessen Neugründung. Unmissverständlich klar macht das die offizielle Eigenbezeichnung als „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“.

Churchills Unterhose: die alte Europaflagge.
Quelle: Wikimedia Commons

Nicht nur bis zum Ende dieses Kaiserreichs 1806 lebte die Idee einer staatlichen Ordnung für ganz Europa im Gewand eines friedensstiftenden Imperiums fort. Auch das napoleonische Frankreich sah sich in der Tradition eines Staatswesens, das zwar von einer Nation dominiert wird, aber zugleich als Vielvölkerstaat eine gemeinsame, übernationale Idee als Grundlage hat.

Noch nicht einmal der aufkeimende Nationalismus vermochte die Attraktivität des Europa-Gedankens zu brechen. Im der guten alten Biedermeier-Zeit versuchten junge Revolutionäre sogar, den europäischen und den nationalen Gedanken unter einen Hut zu bringen. Ein Geheimbund namens „Junges Europa“ sollte nationale Befreiungsbewegungen koordinieren, unter seinem Dach gab es ein „Junges Deutschland“, ein „Junges Frankreich“.

Im 19. Jahrhundert nicht mehr an Europa zu denken 

Freilich entfaltete der Nationalismus als neues Identitätsangebot im 19. Jahrhundert eine so unheilvolle Dynamik, dass an Europa nicht mehr ernsthaft zu denken war. Zwar bot die Arbeiterbewegung als Ersatz eine Internationale an, aber die definierte sich nur über den Klassenkampf und kannte eine übernationale Gemeinschaft lediglich als Waffe gegen den kapitalistischen Klassenfeind.

Mit alledem sollte nach dem Zweiten Weltkrieg Schluss sein, die europäische Idee blühte wieder auf als einzige wirkliche Alternative zum „Katastrophenweg“ nationaler Egoismen. „Nur eines kann Europa nicht brauchen“, warnte Bürgermeister Kaisen schon damals, „einen neuen Nationalismus.“

Aufs Dach gestiegen: eine Gruppe Jugendlicher hisste auf dem Dach des Parkhauses 1951 die Europaflagge. Quelle: Peter Strotmann

Aufs Dach gestiegen: eine Gruppe Jugendlicher hisste auf dem Dach des Parkhauses 1951 die Europaflagge.
Quelle: Peter Strotmann

Nach dem Brexit hat der Europa-Gedanke keinen leichten Stand mehr. Vielleicht war die europäische Idee noch nie so sehr in Frage gestellt seit dem Neuanfang nach 1945. Zumal sich jetzt Europa-Skeptiker auch in anderen EU-Staaten ermutigt fühlen, dem britischen Beispiel zu folgen. Eine fatale Perspektive.

Ein Europa ohne die Briten fühlt sich schon jetzt an wie ein Rumpf-Europa. Und wirkt wie eine Abkehr von den Anfängen kurz nach Kriegsende, als der Europa-Gedanke mit Ex-Premier Winston Churchill einen gewichtigen Fürsprecher hatte. Auch ein Grund, weshalb die Europaflagge mit seiner Unterwäsche in Verbindung gebracht wurde.

Womöglich ist das Problem des Europa-Gedankens, dass er auf Einsicht und Reflexion beruht und damit keine Sache emotionaler Reflexe ist. Schon Wilhelm Kaisen war sich deshalb keineswegs sicher, ob das geeinte Europa wirklich die Kraft hat, sich durchzusetzen. Zweifelnd fragt er bei seinen Überlegungen „zum Europa-Problem“ mit Hinweis auf die beiden Weltkriege: „Werden die Menschen diese Lehre beherzigen?“

Man kann es nur hoffen.

von Frank Hethey

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