Vor 50 Jahren
Die Anzahl der illegalen Abtreibungen in der Bundesrepublik während eines Jahres liege nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 80.000 und 500.000. Das erklärte Bundesjustizminister Gerhard Jahn auf einer SPD-Wahlkundgebung in Bremen-Osterholz. So war der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches – der eine Abtreibung generell verbietet – ein bevorzugtes Diskussionsthema im voll besetzten Versammlungssaal der Gaststätte Weidenhöfer. (WESER-KURIER, 18. September 1971)
Hintergrund
Schon 1971 wurde der Paragraf 218 – in leicht modifizierter Form – ein ganzes Jahrhundert alt. Eingeführt im Deutschen Kaiserreich bestrafte er Schwangerschaftsabbrüche mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus. Vorausgegangen war ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel: Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Vereinigung von Ei und Samenzelle als Vorstufe zum Menschsein gewertet. Vorher hatte die Kirche noch angenommen, dass die Beseelung und damit Menschwerdung des Embryos erst ab einem bestimmten Schwangerschaftstag erfolgt.
Kontroversen folgten dem Paragrafen schon in seinen Anfängen. So formierte sich bereits bis 1931 organisierter Widerstand. In Arbeiterfamilien führte ungewollter Familienzuwachs mehrheitlich zu zusätzlicher finanzieller Belastung und steigender Armut. Eine Massenbewegung forderte daher die ersatzlose Streichung des Paragrafen. Ab 1927 blieben immerhin Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischen Gründen, also bei Gefahr für das Leben der Mutter, straffrei. Allen anderen Frauen drohten nach einem Abbruch weiterhin Geld- und Gefängnisstrafen. Abgetrieben wurde trotzdem: bei dubiosen Engelmachern oder Kurpfuschern. Viele Frauen bezahlten die Behandlung mit ihrem Leben.
Nach einer Verschärfung des Abtreibungsverbotes im Dritten Reich nahm in den 70ern die Frauenrechtsbewegung an Fahrt auf. Unter der Parole „Mein Bauch gehört mir!“ versammelten sich 1971 Tausende Frauen auf der Straße, verteilten Flugblätter und sammelten Unterschriften zur Abschaffung des Paragrafen 218. Als „Mobilisierungsschub“ für die Frauenbewegung gilt dabei die Titelgeschichte des Stern vom 6. Juni 1971. Mehr als 300 Frauen erklärten öffentlich, Schwangerschaften beendet zu haben – darunter Schauspielerinnen wie Romy Schneider und Senta Berger.
Auch in Bremen machten im Juni desselben Jahres rund 50 Frauen ihre Entscheidung gegen ein Kind publik, das Bremer Bündnis „Aktion 218“ organisierte Demonstrationen und Unterschriftenaktionen. Trotz Solidaritätswelle und Gründung zahlreicher aktivistischer Ortsgruppen wurde eine Reform des Paragrafen erst 1976 juristisch wirksam.
Bis heute ist der Paragraf 218 in Kraft, Abtreibungen bleiben damit per Gesetz eine Straftat. Straffrei sind Schwangerschaftsabbrüche, wenn sie in den ersten zwölf Wochen durch einen Arzt erfolgen, vorher eine offizielle Beratung stattgefunden und drei Tage Bedenkzeit vergangen sind. Ausnahmen gelten unter speziellen medizinischen oder kriminologischen Voraussetzungen.