Erinnerungen an das verhängnisvolle Werderjahr 1980 / Geschichte, die sich nicht wiederholen darf

Aus völlig unerklärlichen Gründen prägen sich manche Erinnerungen tief ins Gedächtnis ein. Es müssen gar nicht einmal besondere Erinnerungen sein, oft genug bewahren wir ganz belanglose Szenen in unserem Gedächtnis auf. Merkwürdige Standbilder, die wirken wie Momentaufnahmen aus einer längst versunkenen Zeit.

So eine Momentaufnahme ist die Erinnerung an Fritz Langner, den dreimaligen Werdertrainer.

Gestochen scharf sehe ich ihn vor mir, wie er an einem schönen Frühlingstag des Abstiegsjahres 1980 vor der Kulisse des Weserstadions an einem der Trainingsplätze steht.

Als junger Nachwuchskicker werde ich auf dem Weg zum Training gewesen sein, als ich Langner erkannte und für einen kurzen Augenblick innehielt. Aber nicht, weil er mich als Prominenter faszinierte. Auf Prominenz an sich habe ich nie etwas gegeben, niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, ein Autogramm zu verlangen. Weder von ihm noch von irgendeinem Werderspieler.

Nein, es war seine Haltung, die mich berührte. Tadellos gekleidet in einem dunklen Anzug stand er da, den Blick auf den Platz gerichtet, auf irgendwelche Jugendspieler, die um Punkte kämpften. Er wirkte in sich gekehrt, nachdenklich, fast melancholisch. Kein Mensch achtete auf ihn, keiner suchte seine Nähe. Für mich ein Sinnbild des Scheiterns, es war einsam geworden um Fritz Langner. Um den Mann, dessen Namen sich untrennbar mit dem Bundesliga-Abstieg des SV Werder verknüpft.

Eine fast tragische Geschichte.

Fritz Langner, ein „Strohmann“ aus alter Verbundenheit

Denn der damals schon 67-jährige Langner hatte nur aus alter Verbundenheit seinen guten Namen hergegeben oder besser gesagt: seine Trainerlizenz. Die fehlte nämlich Manager Rudi Assauer, der am 29. Januar 1980 dem glücklosen Wolfgang Weber gefolgt war. Langner also als „Strohmann“, als Lückenbüßer. Gemeinsam mit Assauer saß er auf der Trainerbank und stand doch in seinem Schatten. Ein Modell, das Werder sehr zum Missfallen der DFB-Oberen bereits 1977/78 mit dem Tandem Assauer/Schulz erfolgreich praktiziert hatte.

Langner und den Verein verband eine enge Beziehung. In jüngeren Jahren hatte der als „Feldwebel“ gefürchtete Coach an der Weser zweimal das Sagen gehabt. Zuletzt zum Saisonfinale 1972 und davor von 1967 bis 1969, als der gebürtige Breslauer den Meister von 1965 sogar auf den zweiten Platz führte. Der damalige Werderspieler Gerd Zebrowski trauert der vertanen Titelchance bis heute nach. „Hätten wir nicht so einen blöden Start gehabt, wären wir vielleicht wieder Meister geworden“, sagte er.

Anfangs schien die Rechnung aufzugehen, Werder stabilisierte sich. Zwar blieb es bei der katastrophalen Auswärtsbilanz, dafür siegte die Mannschaft aber vor heimischer Kulisse. Nach meiner Erinnerung immer mit 4:0 – was nicht ganz stimmt, eine kleine Recherche ergibt, dass Werder in der Rückrunde zwar mehrfach vier Tore erzielte, dafür aber auch schon mal ein oder zwei kassierte.

Doch auf den obligatorischen Heimsieg folgte in schöner Regelmäßigkeit die Auswärtspleite. Solange Werder wenigstens zu Hause punkte (damals nur zwei und nicht drei wie heute), rangierte der Verein noch vor den Abstiegsplätzen. Als aber auch im Weserstadion die Erfolgsserie riss, nahm das Unglück seinen Lauf. Werder rutschte auf den 17. Tabellenplatz ab und verließ ihn auch nicht mehr.

Die Woodcock-Gala als absoluter Tiefpunkt

Als absoluten Tiefpunkt habe ich die schmachvolle 0:5-Niederlage gegen den 1. FC Köln in Erinnerung. Eine wahre Tony-Woodcock-Gala. Der englische Stürmer schoss Werder mit seinen vier Treffern endgültig in die Zweite Liga.

Auch mein Schwiegervater war bei diesem Spiel zugegen. Bis heute ärgert er sich über die Ordner, die sich stur stellten, als ein Großvater seinen kleinen Enkel mit ins Stadion bugsieren wollte. Zumal gleichzeitig Schnapsflaschen an den Ordnern vorbeigeschleust worden seien.

„Das war schon damals verboten“, ereifert er sich. Die Quittung: Die leeren Schnapsflaschen flogen in die Menge, mehrere blutüberströmte Zuschauer mussten behandelt werden. „Und dann gerieten sich auch noch die Fans in die Klamotten!“ Ein Bremer habe die Stange seiner Fahne entzweigebrochen – „und plötzlich hatte der einen Knüppel in der Hand!“

Kurz danach muss ich Langner gesehen haben.

Der einstige Erfolgstrainer als Verlierer am Spielfeldrand. Ein Lizenzträger, aber kein Glücksbringer. War es am gleichen Tag, als ich auch den gleichmütigen Spruch des Platzwarts hörte? Der ist mir ebenso gut in Erinnerung geblieben wie die kontemplative Gestalt Langners. Als der Platzwart, ein knorriger Mann im fortgeschrittenen Alter, über seine Meinung zum Abstieg gefragt wurde, antwortete er mit wegwerfender Geste: „Mir egal, meinen Arbeitsplatz behalte ich auch in der zweiten Liga.“

Mit Kuno Klötzer startete Werder in seine erste und bisher auch einzige Zweitliga-Saison, nach dessen Rückzug infolge eines Autounfalls stand ab Frühjahr 1981 Otto Rehhagel am Spielfeldrand. Es war das letzte Jahr der zweigeteilten zweiten Liga mit jeweils 20 Vereinen in der Nord- und Südstaffel.

Der Auftakt verlief ernüchternd.

Schwacher Start in die Zweitliga-Saison

Ich war damals mit meiner Familie im Sommerurlaub in Österreich, am Autoradio verfolgte ich entgeistert die ersten beiden Spiele. Als geradezu ehrenrührig empfand ich die 1:2-Heimniederlage gegen den 1. FC Bocholt, der Aufsteiger war die Überraschungsmannschaft der Hinrunde. In meiner Erinnerung eine desaströse Startbilanz, dabei war es in Wahrheit gar nicht so schlimm. Ab dem dritten Spieltag ging es spürbar aufwärts, seit dem 17. Spieltag führte Werder die Tabelle an und kehrte als Zweitliga-Meister souverän ins Oberhaus zurück.

Noch ganz genau vor Augen habe ich meinen Ausweis, der gleichzeitig als Eintrittskarte für die Ligaspiele diente. Ein geradezu schlichtes Ding ohne jeglichen Schnickschnack, die nackten Personaldaten mussten genügen.

Musste den Abstieg hilflos mit ansehen: Werderfan Frank Hethey, hier in kontemplativer Stimmung während einer Spielpause. Quelle: Frank Hethey

Musste den Abstieg hilflos mit ansehen: Werderfan Frank Hethey, hier in kontemplativer Stimmung während einer Spielpause.
Quelle: Frank Hethey

Jedes Jahr erhielt man einen neuen Ausweis mit der aktuellen Jahresangabe als Stempelaufdruck. So richtig nach Beamtenart wurde der Stempel ziemlich lieblos mitten auf das wertvolle Dokument geknallt, meist in einer für Stempel geradezu natürlichen leichten Schräglage.

Für mich war der Ausweis wie ein entree billet in eine bessere Welt. In die Welt echter Männer, die sich einen archaischen Kampf um den Ball lieferten. Das war eine andere Welt als die betuliche daheim, als die wohlgeordneten Verhältnisse einer gutsituierten Familie, deren Alltag kein Existenzkampf war wie auf dem grünen Rasen.

Als 13-Jähriger stand ich erst an der Schwelle zur pubertären Rebellion, noch nahm ich die elterlichen Anordnungen als quasi gottgegeben hin. Umso faszinierender die Welt des Fußballs, in der andere Gesetze herrschten als zu Hause.

Ein schlecht aufgelegter Ordner zerriss alle Träume

Es versteht sich von selbst, dass die jährlich ausgegebenen Ausweise für mich ein Sammelobjekt waren. Eine Art Trophäe, die meine Zugehörigkeit zu den Grün-Weißen augenfällig belegte. Deshalb traf es mich umso schwerer, als ein nicht sonderlich gut aufgelegter Ordner das geliebte Stück vor meinen Augen in vier etwa gleich große Teile zerriss. Einmal ritsch und einmal ratsch, ein hässliches Geräusch.

Der Grund: Ich hatte versehentlich die Karte aus dem Vorjahr vorgezeigt. Ein beliebter Trick, um sich widerrechtlich Zugang zum Stadion zu verschaffen: Man präsentierte einfach einen abgelaufenen Ausweis in der Hoffnung, dass die Eingangskontrolle es übersehen würde.

Ich glaube, mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich war fassungslos und zutiefst beschämt darüber, in aller Öffentlichkeit so bloßgestellt zu werden. Nur mühsam mein Schluchzen verbergend zog ich ab, tief erbittert über die ungerechte Willkür am Eingangstor zur besseren Welt.

Zu meinem Glück erholte ich mich von der Demütigung. Noch jahrelang spielte ich in den Jugendmannschaften des SV Werder, zuletzt in der 3. A-Jugend. Als linker Verteidiger musste ich immer meinen Kopf hinhalten, vorzugsweise bei Ecken oder gegnerischen Abschlägen. Mein sehnlichster Wunsch, auch einmal ein Tor zu erzielen, blieb zu meinem Leidwesen unerfüllt. Kaum verwunderlich, wenn man sich die Devise unseres Trainers in Erinnerung ruft. „Bis zur Mittellinie und nicht weiter!“ lautete seine gebetsmühlenartig wiederholte Anweisung.

Irgendwann war mir mein Kopf zu schade als bloßes Abwehrinstrument. Im Zuge meiner intellektuellen Selbstentdeckung wollte ich bleibende Schäden tunlichst vermeiden und nahm deshalb meinen Abschied.

Wie sich alsbald zeigte, konnte die Fußballwelt auf meine Mitwirkung verzichten.

Auf meine Fankarriere hatte das natürlich keinen Einfluss. Am morgigen Samstag werde ich das Spiel im Braugarten der Union-Brauerei verfolgen. Zusammen mit zwei von drei Söhnen und wohl auch meiner Frau. Das zu organisieren war gar nicht einmal so einfach, es mussten erst gewisse Widerstände überwunden werden.

Nun aber steht dem Fußballgenuss nichts mehr im Wege. Jedenfalls nicht von meiner Seite.

Hoffen wir, dass sich Geschichte nicht wiederholt.

von Frank Hethey

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