Dr. Karl-Ludwig Sommer (65) ist Verfasser des Standardwerks „Wilhelm Kaisen. Eine politische Biographie“ (2000). Zuletzt hat er mit einer Studie über die NS-Vergangenheit Bremer Bürgerschaftsabgeordneter auf sich aufmerksam gemacht.
Bildvorlage: Karl-Ludwig Sommer

Vor 50 Jahren: Am 17. Juli 1965 trat Bürgermeister-Legende Wilhelm Kaisen zurück / Interview mit Dr. Karl-Ludwig Sommer

Seinen Abgang hatte sich Bürgermeister-Legende Wilhelm Kaisen sicher anders vorgestellt. Trotz der gelungenen Inszenierung seines Rücktritts im Juli 1965 lässt sich kaum leugnen, dass es im Vorfeld nicht nur hinter den Kulissen mächtig gekracht hatte. Von „sehr hässlichen“ Begleitumständen spricht einer, der es wissen muss: sein Biograf Dr. Karl-Ludwig Sommer. Im Interview mit Bremen History äußert sich der 65-Jährige zu den letzten Amtsjahren Kaisens ebenso wie zu dessen patriarchalischem Selbstverständnis. Und erklärt, warum Kaisen trotzdem noch als Vorbild taugt.  

Bremen History: Herr Sommer, vor 50 Jahren ist Wilhelm Kaisen vom Amt des Bürgermeisters und Senatspräsidenten zurückgetreten. Zwei Jahrzehnte lang hatte er die Geschicke der Stadt geführt, bis heute genießt er eine ungeheure Popularität. Bei allen Verdiensten: Besteht da nicht die Gefahr der Verklärung? 

Dr. Karl-Ludwig Sommer: Davor muss man sich immer hüten, in der Rückschau wird sicher das eine oder andere überzeichnet. Bei einigen seiner Ministerpräsidenten-Kollegen ist das nicht anders. Denken Sie nur an Hinrich Kopf in Niedersachsen oder Karl Arnold in Nordrhein-Westfalen. An ihnen machen sich die großen Leistungen nach dem Krieg fest: der Wiederaufbau und die Konstituierung der Länder. Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gab es ja vorher nicht. Und bei Bremen ging es um die Wiederherstellung der Eigenständigkeit, die während der NS-Zeit verlorengegangen war.

Aber das wird kaum alles gewesen sein. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass Kaisen als absolut integre Persönlichkeit galt.

Das war er auch, kein Zweifel. Im Unterschied zu vielen heutigen Politikern war er bescheiden, fast unscheinbar. Er hat sein Amt genommen wie Eintopf, nicht wie ein Luxus-Menü. Demokratie hat er als Person vorgelebt.

Sein Amt hat er aber doch sehr patriarchalisch geführt.

Auf jeden Fall, da beißt die Maus keinen Faden ab. Man könnte sogar von einem autoritären Charakter sprechen. Das wurde in der Außenperspektive bloß nicht wahrgenommen. Als Widerspruch empfand man das damals aber nicht. Nehmen Sie Adenauer, der ein ähnliches Amtsverständnis hatte.

„Er hat sein Amt genommen wie Eintopf, nicht wie ein Luxus-Menü“

Patriarchalisch, auch autoritär, aber immer der fürsorgliche Landesvater. Einer, der über dem gemeinen Gezänk der Parteien steht. Ein Selbstläufer war das sicher nicht.

Schon in Zeiten der Weimarer Republik hat er sehr gute Drähte zu anderen Parteien gehabt. Heute würde man sagen: Er war gut vernetzt. Das hat sich nach 1945 fortgesetzt. Und das hat ihn weit über den Kreis eingefleischter SPD-Anhänger populär gemacht. So wie später Koschnick. Es gibt überhaupt einige Parallelen zwischen Kaisen und seinem Ziehsohn Koschnick. Beide ernteten die größte Zustimmung in ihren ersten Amtsjahren.

Wilhelm Kaisen überlebensgroß: Im Wahlkampf von 1959 zog die Bremer SPD alle Register. Die Wahlkampfmethoden an der Weser galten als vorbildhaft, auch der Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt reiste an, um sich über das Erfolgskonzept ein Bild zu machen.
Bildvorlage: Staatsarchiv Bremen

Bezeichnend genug, dass Kaisen ab 1955 trotz eigener Mehrheiten mehrere Koalitionsregierungen führte.

Er legte eben Wert auf einen breiten politischen Konsens, die großen Aufgaben waren in seinen Augen nur zu bewältigen durch das vielbeschworene Bündnis von „Kaufleuten und Arbeitern“. Bremen sollte wieder so sein wie vor dem Krieg, diese Stellung sollte die Stadt wiedererlangen. Das parteiübergreifende Bündnis betrachtete er als Erfolgsgarant, dabei griff auf seine eigenen Senatserfahrungen von 1928 bis 1933 als Mitglied einer Koalitionsregierung zurück.

Weniger harmonisch waren die Begleitumstände seines Rücktritts im Juli 1965. Die öffentliche Aufforderung seines Fraktionschefs Richard Boljahn, endlich einen Rücktrittstermin zu nennen, hat ihn tief getroffen. Nach seinem Abgang herrschte dann erst mal Eiszeit zwischen ihm und der Partei. Woher diese Reibereien?

Das Drama begann ausgerechnet mit dem triumphalen Wahlsieg von 1959. Auch „Kaisen-Wahl“ genannt, weil die SPD damals im Rahmen eines modernen Wahlkampfs voll auf seine Person setzte. Doch er war damals schon 72 Jahre alt, weshalb unmittelbar danach die Diskussion um seine Nachfolge anfing…

… verständlich, oder nicht?

Überall Plakate, aber mit System: Im Wahlkampf 1959 setzte die SPD auf neue Methoden.
Bildvorlage: Staatsarchiv Bremen

Natürlich, Kaisen selbst klebte auch keineswegs an seinem Sessel. Ihm war völlig klar, dass er früher oder später Platz machen musste für einen Jüngeren. Der stand mit Adolf Ehlers auch relativ schnell fest, sein Wunschkandidat. Nur diese eine Legislaturperiode sollte Kaisen noch die Amtsgeschäfte wahrnehmen, an sich ein gut durchdachter Plan. Aber dann wurde Ehlers plötzlich schwer krank und verzichtete Anfang 1963 auf alle politischen Ämter. Plötzlich stand die SPD ohne Spitzenkandidaten da, und das sieben Monate vor den Wahlen.

„Plötzlich stand die SPD ohne Spitzenkandidaten da“

In dieser Situation hat sich Kaisen doch noch einmal aufstellen lassen.

Und sogar das hervorragende Wahlergebnis von 1959 mit über 54 Prozent so gut wie bestätigt. Trotzdem war seine Zeit abgelaufen. Die Idee war: Kaisen tritt als Notlösung noch einmal an, räumt seinen Posten aber zur Mitte der Legislaturperiode. Aber das ist dann sehr hässlich abgelaufen…

… Sie meinen, weil Boljahn ihn unter Druck gesetzt hat?

Das fing schon in der Wahlnacht von 1963 an, als Kaisen von einem Journalisten gefragt wurde, wann er denn nun zurücktreten wolle. Seine etwas schnoddrige Antwort: Wieso? Er sei doch eben erst für weitere vier Jahre gewählt worden. Das wollte Boljahn so nicht stehen lassen, darum seine Aufforderung auf dem Landesparteitag im März 1964, endlich einen verbindlichen Rücktrittstermin zu nennen, damit sein designierter Nachfolger Willy Dehnkamp noch Zeit genug zum Einarbeiten habe.

Kaisen beugte sich, wenige Tage später nannte er den geforderten Rücktrittstermin und hielt ihn auch ein.

Der aufstrebende SPD-Politiker: Der 34-jährige Hans Koschnick 1963 kurz nach seiner Wahl zum Innensenator.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Aber er ließ auch durchblicken, wie verärgert er über Boljahns Aktion war. Seitdem war er nur noch Senatspräsident auf Abruf. Allerdings begann damit auch die Demontage von Boljahn. Parteiintern herrschte die verbreitete Ansicht, er sei mit seinem Ultimatum zu weit gegangen, so könne man mit einem Denkmal wie Kaisen nicht umspringen. Sein Versuch, sich auf dessen Kosten zu profilieren, erwies sich als absolute Fehlkalkulation.

„Seit 1964 war Kaisen nur noch Senatspräsident auf Abruf“

Ab diesem Zeitpunkt war es dann aber doch ein geordneter Abgang von Kaisen?

Das kann man so sehen. Seitdem verlief alles nach einer festgelegten Dramaturgie. Die Öffentlichkeit war vorbereitet auf seinen Rücktritt, und der Rücktritt selbst wurde durch mehrere Veranstaltungen öffentlich inszeniert.

Würden Sie ihm auch heute noch eine Vorbildfunktion zubilligen?

O ja, so wie er sollten Politiker ihre Aufgabe grundsätzlich begreifen. Es geht nicht nur darum, Macht zu verwalten. Sondern auch darum, bestimmte Prioritäten zu setzen. Dazu gehört, den sprichwörtlichen „kleinen Mann“ im Auge zu behalten. Sich immer zu fragen: Was bedeutet für den „kleinen Mann“, was wir tun?

von Frank Hethey

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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