Nach Kriegsende strömten zahlreiche Flüchtlinge nach Bremen / Zuzugssperre weitgehend wirkungslos / Barackenlager sollten Abhilfe schaffen

Innerhalb von fünf Jahren kamen nach Kriegsende über 30.000 Flüchtlinge und Vertriebene nach Bremen. In eine Stadt, die zu zwei Dritteln zerstört war. Eine immense Herausforderung sowohl für Einheimische als auch Schutzsuchende. In der Rückschau stößt man auf erstaunliche Parallelen zu aktuellen Geschehnissen. Schon damals gab es Animositäten und Vorurteile. Aber auch private Hilfsinitiativen und den Willen, die Situation zu meistern.  

Von einer „Völkerwanderung“ sprach Sozialsenator Adolf Ehlers im Juli 1946. Der bisherige Flüchtlingszustrom sei nur der Anfang, es müsse noch mit vielen weiteren Neuankömmlingen gerechnet werden. Für ihn eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. „Notzeiten sind Zeiten der Bewährung“, lautete sein Appell an die einheimische Bevölkerung. In die gleiche Kerbe schlug auch Maria Rüthnick, Leiterin der Flüchtlingsfürsorge. Ihr dringender Wunsch: Es sei notwendig, „selbstsüchtige und engherzige Gedanken“ fallen zu lassen.

Das aktuelle Flüchtlingsdrama weckt Erinnerungen an die Geschehnisse kurz vor Kriegsende und vor allem danach. Auch damals kamen innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene nach Bremen. Und wie heute gab es nicht nur Hilfsbereitschaft und freiwilliges Engagement. Es gab auch Behördenwillkür und Animositäten, mitunter sogar rassistische Ressentiments gegenüber den Neuankömmlingen. Obgleich ganz überwiegend deutsche Staatsbürger, wurden sie schon mal als „Polacken“ verunglimpft.

Völlig neu ist das Phänomen in Bremen nicht. Bereits die Niederlage im Ersten Weltkrieg spülte Flüchtlinge aus Westpreußen und dem Sudetenland an die Weser. Freilich eine sehr überschaubare Zahl, insgesamt wurden in den frühen 1920er Jahren gerade mal 2327 Zuzügler registriert. Staatliche Hilfe bei der Unterbringung war da nicht erforderlich.

Erste Flüchtlinge im Spätherbst 1944

Anders in der Endphase der Zweiten Weltkriegs. Bereits im Spätherbst 1944 trafen die ersten Flüchtlinge ein. Zumeist Bewohner Ostpreußens, die vor der anrückenden Roten Armee geflohen waren. Oft noch mit einigen Habseligkeiten, die sie auf ihren Leiterwagen verstaut hatten. Untergebracht wurden die Flüchtlinge zumeist im unzerstörten Bremen-Nord. Für die Behörden kein ernsthaftes Problem, die Zahl der Schutzsuchenden war noch überschaubar.

Doch schon bald änderte sich das Bild, mit dem russischen Vormarsch schwoll der Flüchtlingsstrom zusehends an. Im März 1945 erreichten die ersten Flüchtlingszüge den Bremer Hauptbahnhof. Wohin nun mit den Menschen, immerhin mehrere Tausend? Das schwer kriegszerstörte Bremen bot nicht genügend Wohnraum.

Die Lösung war wiederum Bremen-Nord. In den weitgehend verschont gebliebenen Stadtteilen Vegesack, Blumenthal und Burglesum fanden sich noch genügend Privatunterkünfte.

Unmittelbar nach Kriegsende spitzte sich die Lage dann dramatisch zu. Wegen des Bombenkriegs hatten zahlreiche Bremer die Stadt verlassen. Die strömten nun zurück, auch erste Kriegsheimkehrer, dazu noch Flüchtlinge und Vertriebene. Am 2. Juli 1945 zog der Regierende Bürgermeister Erich Vagts die Notbremse. Mit sofortiger Wirkung verhängte er eine allgemeine Zuzugssperre. Und zwar ausdrücklich auch für sämtliche Bremer, die sichere Zuflucht auf dem Land gesucht hatten. Seine unmissverständliche Warnung an deren Adresse: „Rückkehrer laufen Gefahr, in Bremen obdachlos zu werden. Auf Hilfe der Behörden können sie nicht rechnen.“

Auch nach Verhängung der Zuzugssperre ebbte der Zustrom nicht ab

Freilich bedeutete das keineswegs, dass keine Flüchtlinge mehr nach Bremen gekommen wären. Das wird schon allein dadurch deutlich, dass gerade einmal zehn Tage nach Inkrafttreten der Zuzugssperre eine Betreuungsstelle für Flüchtlinge ihren Dienst aufnahm. Ihr Standort war die frühere Gepäckhalle des Norddeutschen Lloyd an der Gustav-Deetjen-Allee. Als erste Anlaufstation für Flüchtlinge sollte die Betreuungsstelle eine maximal zehntägige Unterkunft bieten. Und nach Erledigung der Formalitäten für die Weiterreise der Flüchtlinge ins Bremer Umland oder ein anderes Bundesland sorgen. Der Betreuungsstelle war mithin die Funktion einer Drehscheibe zugedacht. So im Falle einer vierfachen Mutter, die im Januar 1945 mit ihren Kindern aus Bromberg im heutigen Polen geflohen und kurz vor Weihnachten 1945 „nach langer und beschwerlicher Irrfahrt“ in Bremen eingetroffen war. „Jetzt ist Frau V. auf dem Wege nach Brake zu einer Schwester“, meldete der Weser-Kurier.

So weit die Theorie. In der Praxis sah es oft genug anders aus. Als Hauptumschlagplatz der Amerikaner übte die Wesermetropole eine starke Sogwirkung aus: Bremen, das gelobte Land. Man versprach sich Arbeit im Hafenbetrieb oder hoffte, eine Anstellung beim Wiederaufbau zu finden. Das trieb die Zahl der illegalen Zuwanderer in die Höhe. Doch nur wer beispielsweise als Bauhandwerker einen sogenannten Mangelberuf ausübte, hatte gute Aussichten, in den Genuss einer Aufenthaltsgenehmigung zu kommen. Die Folge: Trotz Zuzugssperre kletterten die Einwohnerzahlen unaufhörlich an – von 289.000 Personen im Sommer 1945 auf 385.000 im Oktober 1946 und 417.000 im Juli 1948. „Die Zuzugssperre war tatsächlich keine Sperre“, konstatiert der Historiker Nils Aschenbeck, „sondern die Ermöglichung eines kontrollierten Zuzugs.“

Einen stattlichen Anteil unter den Neu-Bremern machten Flüchtlinge und Vertriebene aus. Bereits im Oktober 1946 betrug ihre Anzahl 25.000, ein Bevölkerungsanteil von 5,1 Prozent. Die meisten von ihnen stammten aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern. Bis 1956 stieg die Zahl auf 120.000 Menschen an, ein Anteil von nunmehr 18,9 Prozent an der gesamten Einwohnerschaft. Ein rasanter Anstieg, der freilich auch mit der Aufhebung der Zuzugssperre am 27. Juni 1950 zu tun hatte.

Barackenlager als Unterkünfte

Und erneut erhob sich die Frage: Wohin mit den vielen Menschen? Noch immer herrschte Wohnungsnot im Stadtgebiet, allenfalls in bäuerlichen Randgebieten wie Borgfeld, Oberneuland oder Osterholz fanden sich Unterkünfte. Und natürlich in Bremen-Nord. Doch das reichte schon längst nicht mehr, es bedurfte größerer Barackenlager, um den Flüchtlingen ein Dach über den Kopf zu bieten.

Besonders berüchtigt war das Lager Riespott auf dem Gelände der Norddeutschen Hütte (heute Stahlwerke) in Grambke, ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager. Daneben gab es Sammelunterkünfte unter anderem in Aumund, Lemwerder, an der Vahrer Straße (heute Bürgermeister-Spitta-Allee) und in der Neustadt. Auch im gutbürgerlichen Schwachhausen wurden Flüchtlingsunterkünfte im Bürgerpark und an der Friedrich-Mißler-Straße eingerichtet. Hinzu kam die Unterbringung in früheren Kasernen in Huckelriede und in der Vahr.

Oft genug herrschten in diesen Lagern erbarmungswürdige Zustände, hinzu kamen die beengten Verhältnisse. Unter solchen Bedingungen konnten Spannungen und Konflikte unter den Lagerbewohnern kaum ausbleiben. Etwa im Lager an der Friedrich-Mißler-Straße, wo Flüchtlinge und Sinti- und Roma-Familien aneinandergerieten. Auch Diebstahlsdelikte waren keine Seltenheit. „Um weitere Einbrüche zu vermeiden, müssen die Drahteinzäunungen repariert werden“, hieß es im Mai 1946 in einem Bericht aus dem Lager Riespott.

Als besonders brennendes Problem galten schon damals unbetreute Jugendliche. „Zügellos, rauflustig, sittenlos, so tritt uns die entwurzelte, heimatlose Jugend heute entgegen“, so Maria Rüthnick von der Flüchtlingsfürsorge. Gemeint waren vor allem frühere Armeeangehörige im Jugendalter: entlassene Soldaten und Wehrmachtshelferinnen. Im September 1945 warnten besorgte Stimmen, es drohe sich „ein neuer Landstreichertyp zu entwickeln“.

Traumatisierte Flüchtlinge auch schon früher ein bekanntes Phänomen

Auch traumatisierte Flüchtlinge waren ein bekanntes Phänomen. Als es um die Wohnungsnot ging, warnte Senator Ehlers: „Viel schwerwiegender noch sind die moralischen Schäden, die dieser Krieg geschlagen hat, wenn sie auch nicht jedem sichtbar in Erscheinung treten.“

In dieser Situation halfen schon damals private Initiativen. Etwa eine Fürsorgestelle Am Steinernen Kreuz. Nach vergeblichen Bittgängen um Arbeit sei ihr hier wieder eine Beschäftigung ermöglicht worden, erklärte im Mai 1950 eine promovierte Juristin, nach eigenem Bekunden ein „Ostzonenflüchtling“ aus dem Gebiet der neu gegründeten DDR. „Ich wurde wieder aufgenommen in der Kreis der schaffenden Menschen“, lautete ihr Stoßseufzer der Erleichterung.

Doch wie den nicht abreißenden Flüchtlingsstrom bewältigen? „Eins steht jedoch“, erklärte im September 1945 der Leiter der Flüchtlingsbetreuungsstelle, „Hilfe muß auf jeden Fall kommen, und wenn alle Dörfer und Städte in Deutschland vielleicht unter einer zentralen Leitung zupacken würden, müßte auch diese schwere Frage, wenn auch vorerst nur primitiv, gelöst werden.“

von Frank Hethey

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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