Vor 50 Jahren
„Wir können diese Entwicklung nicht mehr mittragen, wenn wir ein gutes Gewissen behalten wollen.“ Mit dieser Feststellung wartete gestern nachmittag in einer überraschend einberufenen Pressekonferenz FDP-Landesvorsitzender Dr. Ulrich Graf auf und kündigte an, er werde am Montag in einer Sondersitzung des Landesparteiausschusses für eine Auflösung der langjährigen Bremer Regierungskoalition mit der SPD plädieren. FDP-Fraktionsvorsitzender Harry John beeilte sich, seine Solidarität zu bekunden, nachdem auch er festgestellt hatte, die Senatoren und Bürgerschaftsabgeordneten der FDP wollten nicht „sehenden Auges“ eine Entwicklung unterstützen, die eine Konzentration von Hochschullehrern in Bremen ermöglicht, deren öffentliche Äußerungen und Artikel sich gegen den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat richten. (WESER-KURIER, 22./23. Mai 1971)
Hintergrund
Schon länger hatte es in der sozial-liberalen Senatskoalition gegärt. Streitpunkt war die aus FDP-Sicht zu linkslastige Berufungspolitik für die neue „Reformuniversität“. Seit Jahresfrist habe der Senat bei diesem Thema immer am Rande einer Koalitionskrise gestanden, erklärte Landeschef Ulrich Graf, zugleich Justizsenator im Kabinett von Bürgermeister Hans Koschnick (SPD). Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Anstellung des Berliner Soziologieprofessors Wilfried Gottschalch, für den sich noch nicht einmal alle SPD-Senatoren erwärmen konnten.
Tatsächlich war der damals 42-jährige Gottschalch höchst umstritten. Sein Faible für die Rätedemokratie und seine kritischen Auslassungen über die Demokratie-Tauglichkeit des Kapitalismus machten ihn zu einem roten Tuch für bürgerliche Parteien. „Im Senat gilt offenbar nur noch das Wort linksextremer Experten“, polterte Graf auf der eigens einberufenen Pressekonferenz am 21. Mai 1971. Zehn Tage später war es dann um die Koalition geschehen, am 1. Juni 1971 platzte das Regierungsbündnis mit dem Rücktritt der FDP-Senatoren Graf, Georg Borttscheller und Rolf Speckmann. Damit endete nur wenige Monate vor der Bürgerschaftswahl eine Zusammenarbeit, die noch zu Zeiten von Bürgermeister-Legende Wilhelm Kaisen (SPD) begonnen hatte.
Seit 1945 hatten immer liberale Politiker im Senat gesessen, zeitweise als Teil einer „ganz großen Koalition“ unter Einschluss der CDU, ab 1959 nur noch in trauter Zweisamkeit mit der SPD. Und das sogar in Jahren, da die Sozialdemokraten dank ihrer Wahlsiege 1959 und 1963 auch locker allein hätten regieren können. Erst 1967 hatte die SPD ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Koschnick bedauerte denn auch den FDP-Rückzieher „im Interesse Bremens als auch persönlich“.
Sollte die FDP freilich darauf gehofft haben, bei der anstehenden Wahl zu punkten, ging die Rechnung nicht auf. Bei der Wahl im Oktober 1971 fuhr die SPD mit 55,3 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis ein, während die FDP abgestraft wurde und 3,4 Punkte verlor. Gleichwohl gab es ganz im Geiste Kaisens abermals sozial-liberale Koalitionsverhandlungen, die allerdings im November 1971 scheiterten – weil man sich in Sachen Universität nicht einigen konnte.