Ein Blick in die Geschichte (122): der Blick vom Schiff auf die Abfertigungsanlagen des Norddeutschen Lloyd in Bremerhaven
In den Unterlagen der Familie Buhr, die zur umfangreichen Rekonstruktion der Auswanderung der Eitmann-Brüder aus Arbergen nach Amerika dienten (s. Bremen-History vom 20. und 29. November 2016), findet sich auch dieses Foto von den Abfertigungsanlagen des Norddeutschen Lloyd in Bremerhaven. Es zeigt die Kantine mit dem Hinweis auf den Esssaal A & B über dem Eingang links.
Nachdem der Norddeutsche Lloyd bis in die 1890er Jahre seinen Passagierverkehr in Nordenham betrieben hatte – und Bremen und Bremerhaven merkten, welch enormes Geschäft ihnen dadurch entging – , wurden die Hafenanlagen in Bremerhaven ausgebaut, um eine Infrastruktur für die neuen großen Ozeandampfer zu schaffen.
Die Kaiserhäfen I bis III wurden zwischen 1872 bis 1909 gebaut, die Kaiserschleuse zeitgleich mit der neuen Lloydhalle 1897 auf dem Deichvorland an der westlichen Kaje zum Vorhafen fertig gestellt. Diese neuen Anlagen machten die Bremerhavener Häfen für die damals größten Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd (NDL) wieder benutzbar. Die neue Lloydhalle besaß mehrere Wartesäle, eine Zollabfertigungs- und Gepäckhalle, eine Telegraphenstation sowie einen Bahnsteig mit Überdachung. Die Gleise kann man auch auf dem obigen Bild sehen.
Wahrer Auswandererboom nach 1900
Bremen war zusammen mit Bremerhaven in dieser Zeit der größte Auswandererhafen. Mehr als sieben Millionen Menschen verließen von hier Europa, um in der Neuen Welt ihr Glück zu suchen. 1854 wanderten bereits 75.000 Menschen über Bremen aus. Ein wahrer Boom setzte dann nach 1900 ein, vor allem aus Osteuropa, aus Polen, Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland kamen nun die Auswanderer. Das Spitzenjahr war 1913 mit 240.000 Auswanderern, das waren pro Tag ungefähr 660 fremde Menschen, mit anderer Sprache, anderer Kleidung, anderer Sitten, die in Bremen und Bremerhaven abgefertigt wurden.
Diese riesigen Menschenmassen waren natürlich ein ungeheures Geschäftspotential. Und die Stadt wurde reich durch die Auswanderer: die Auswandereragenten, die Expedienten, die Ausrüstungsgeschäfte, Wirte und Gasthöfe, vor allem die Reedereien, allen voran der Norddeutsche Lloyd, der 1857 von Kaufleuten wie H.H. Meier und Eduard Crüsemann gegründet worden war. Die Bilanzen des Unternehmens weisen für den Zeitraum von 1880 bis 1924 – da wurden in den USA Quoten eingeführt, die die Einwanderung drastisch reduzierten – einen Umsatz allein im Auswanderergeschäft von 325 Millionen Mark aus.
Zum Vergleich: Ein Arbeiter verdiente ungefähr 150 Mark im Monat. Und für sechs Millionen Mark konnte man eine ganze Fabrik gründen. Was der Norddeutsche Lloyd dann auch kräftig tat: 1905 AG Weser: Schiffbau; 1908 Norddeutsche Hütte: Stahlproduktion (das war die mit dem Gründungskapital von sechs Millionen Reichsmark); 1906 Norddeutsche Automobil und Motoren AG: Autobau; 1902 Norddeutsche Maschinen und Armaturenfabrik: Motoren; 1911 Atlas Werke: Maschinen – alles Industriegründungen auf Initiative und unter Beteiligung des Norddeutschen Lloyd.
Das Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven hat berechnet, dass in den Schiffen der sogenannten Barbarossa-Klasse, die ab 1896 vom NDL eingeführt wurde, die Auswanderer im Zwischendeck die Haupteinnahmequelle waren. Auf der Friedrich der Große brachten 459 Passagiere der I. und II. Klasse 144.000 Mark in die Kasse, die 1671 im Zwischendeck hingegen 268.000 Mark. Bei der Königin Luise verhielt es sich ähnlich: 460 Passagiere der I. und II. Klasse: 145.000 Mark, 1564 im Zwischendeck: 250.000 Mark.
Es spricht also einiges für die Einschätzung, dass die armen Auswanderer die Industrialisierung Bremens zum großen Teil finanziert haben und ohne die Auswanderung die Geschichte Bremens ganz anders verlaufen wäre, vielleicht so wie die Lübecks: eine große Handelstradition, aber keine wirtschaftliche Fortsetzung in der Industrialisierung.
von Dr. Diethelm Knauf