Bremen kaputt: Nach Kriegsende lag die alte Hansestadt in Trümmern, hier die Buchhandlung Leuwer an der Obernstraße. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Bremen kaputt: Nach Kriegsende lag die alte Hansestadt in Trümmern, hier die Buchhandlung Leuwer an der Obernstraße.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Vor 70 Jahren: erste freie Wahlen zur Bürgerschaft am 13. Oktober 1946

In den letzten Stunden vor Schließung der Wahllokale strömten die Menschen noch mal scharenweise an die Urnen. Mitunter kein einfacher Gang an diesem 13. Oktober 1946, mussten sie sich doch ihren Weg durch eine Trümmerlandschaft bahnen. Zwei Drittel der Stadt waren im Bombenkrieg zerstört worden, nur mühsam und stockend kam das öffentliche Leben wieder in Schwung. Und dann die trostlosen Aussichten. Schon seit längerem zeichnete sich ab, dass der nahende Winter die Ernährungslage noch einmal drastisch verschärfen würde. Gar nicht zu reden von der katastrophalen Wohnungssituation. Angesichts des Zustroms von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten mussten die Menschen im buchstäblichen Sinne eng zusammenrücken, noch enger als ohnehin schon.

Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung sahen sich mit einer Fülle von existenziellen Problemen konfrontiert, die noch zusätzliche Brisanz durch den ungeklärten staatsrechtlichen Status Bremens erhielten. Zum Zeitpunkt des Wahlgangs war noch immer nicht definitiv entschieden, ob Bremen auf eine Zukunft als eigenständiges Land bauen könnte oder in einem neuen Nordweststaat aufgehen würde. Noch nicht einmal die Zugehörigkeit zur britischen oder amerikanischen Besatzungszone war einwandfrei geregelt, Bremen befand sich im Herbst 1946 in einem merkwürdigen Schwebe- und Zwitterzustand.

Und doch sollte unter diesen schwierigen Bedingungen wieder ein Stück demokratischer Normalität in den politischen Alltag einziehen. Zum ersten mal seit 1930 hatten die Menschen am 13. Oktober 1946 wieder die freie Wahl, über die Zusammensetzung der Bremischen Bürgerschaft zu entscheiden. Das neu gewählte Parlament sollte die „ernannte Bürgerschaft“ ablösen, die seit April 1946 im Schwurgerichtssaal des Gerichtsgebäudes tagte. Freilich fanden an diesem Tag nicht nur in Bremen Wahlen statt. Überall in der britischen Zone waren die Menschen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Dabei handelte es sich durchweg um Kommunalwahlen, weil der Länderstatus noch zu klären war.

Vier Parteien buhlten um die Wählergunst

Unter einer Flagge: Im Wahlkampf 1946 traten BDV und FDP mit einer gemeinsamen Kandidatenliste an. Quelle: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, Bd. 1, Bremen 2008

Unter einer Flagge: Im Wahlkampf 1946 traten BDV und FDP mit einer gemeinsamen Kandidatenliste an.
Quelle: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, Bd. 1, Bremen 2008

Vier Parteien buhlten um die Wählergunst: als klassische Arbeiterparteien die SPD und die KPD, während für die bürgerliche Mitte zwei neue Parteien antraten, die CDU und die Bremer Demokratische Volkspartei (BDV). Irgendwo zwischen rechtsliberal und national-konservativ war die Niedersächsische Landespartei (NLP) angesiedelt, die Vorläuferin der Deutschen Partei (DP). Allerdings trat die NLP als eigenständige Kraft zur Wahl nicht an, ebenso wenig wie die FDP – beide verzichteten zugunsten der BDV. Nicht zugelassen war selbstverständlich die verbotene NSDAP als Einheitspartei des „Dritten Reichs“.

Vor der NS-Machtübernahme hatte es noch ein reines Verhältniswahlrecht gegeben. Die Sitzanteile der Parteien errechneten sich im Verhältnis zur errungenen Stimmenanzahl. Auf die Kandidaten hatten die Wähler keinen Einfluss, sie wurden per Liste von den einzelnen Parteien intern bestimmt.

Anders bei der Bürgerschaftswahl von 1946, die nach britischem Muster als Mehrheitswahl im Wesentlichen eine Personenwahl war. In 16 Wahlkreisen waren insgesamt 64 Kandidaten direkt zu wählen. Jeder Wahlberechtigte hatte je nach Größe des Wahlbezirks drei, vier oder fünf Stimmen, die auf ebenso viele Kandidaten verteilt werden konnten. Die Bewerber mit den meisten Stimmen zogen direkt in die Bürgerschaft ein. Die restlichen 16 Sitze entfielen auf die „Reserveliste“, das war das Element der Verhältniswahl.

Mit dieser Prozedur waren etliche Wähler überfordert. „O, ihr Kreuzelschreiber!“, stöhnte der Herausgeber des Weser-Kuriers, Hans Hackmack. „Einem Kandidaten alle Kreuze aufbürden, Kreuze kreuz und quer schreiben, Kreuze wieder durchkreuzen – das waren so die geläufigsten Fehler.“

Man könnte annehmen, die Menschen seien einfach ein wenig aus der Übung gekommen in den zwölf Jahren der NS-Diktatur. So ganz stichhaltig ist diese Logik jedoch nicht. Lag die Zahl der ungültigen Stimmen mit 2,1 Prozent doch durchaus im Bereich des Normalen, ja noch deutlich unter der Marge bei den jüngsten Bremer Urnengängen. Bei der Bürgerschaftswahl 2015 waren 3 Prozent der Stimmen ungültig, 2011 sogar 3,3 Prozent. Freilich gab es auch hartgesottene Anti-Demokraten, die ihren Wahlzettel absichtlich ungültig machten. „Und dann unsere Nazis!“, konstatierte Hackmack süffisant. Die hätten statt der normalen Kreuze „fette Hakenkreuze“ oder „Ritterkreuze“ zu Papier gebracht.

Trostlose Nachkriegsjahre: Im Bombenkrieg war Bremen schwer verwüstet worden, vom Bremer Westen blieb nur eine Trümmerlandschaft. Nur wenige Gebäude überstanden das Inferno halbwegs unbeschadet - wie das Volkshaus im Hintergrund. Quelle: Aschenbeck, Bremen. Der Wiederaufbau 1945-1960, Bremen 1997

Trostlose Nachkriegsjahre: Im Bombenkrieg war Bremen schwer verwüstet worden, vom Bremer Westen blieb nur eine Trümmerlandschaft. Nur wenige Gebäude überstanden das Inferno halbwegs unbeschadet – wie das Volkshaus im Hintergrund.
Quelle: Aschenbeck, Bremen. Der Wiederaufbau 1945-1960, Bremen 1997

Trommeln für den Urnengang

Von Anfang an trommelten sämtliche Parteien für eine rege Wahlbeteiligung. Ihre Höhe galt als Gradmesser für den Stand der Demokratisierung. „Die ganze Welt blickt auf Bremen!“ rief die BDV aus. Wer von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch mache, sei ein Schwächling, geiferte BDV-Vize Gustav Grabau am 5. Oktober 1946. Sein Motto: „Wahlrecht verpflichtet.“

Tatsächlich übertraf die Wahlbeteiligung mit 85,2 Prozent selbst die kühnsten Erwartungen. Niemals wieder war die Zuspruch bei einer Bürgerschaftswahl so groß wie vor 70 Jahren. Auch der Umstand, dass es zu keinerlei unliebsamen Zwischenfällen kam, wurde allenthalben mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Nur allzu gut waren noch die politischen Unruhen in den späten Jahren der Weimarer Republik in Erinnerung. Noch lebhaft hatte man vor Augen, wie SA-Trupps die Veranstaltungen der Gegnerparteien ein ums andere Mal gesprengt hatten.

Oft sich selbst überlassen: Kinder mussten in den frühen Nachkriegsjahren oft ohne elterliche Fürsorge auskommen - wie diese beiden 1946 auf dem Marktplatz. Quelle: LIFE-Magazine

Oft sich selbst überlassen: Kinder mussten in den frühen Nachkriegsjahren oft ohne elterliche Fürsorge auskommen – wie diese beiden 1946 auf dem Marktplatz.
Quelle: LIFE-Magazine

Im Wahlkampf verkaufte sich die SPD als das Original. Es sei erstaunlich, so eine Verlautbarung vom 14. September 1946, „welche starken Anleihen“ die übrigen Parteien in der sozialen Frage beim Gedankengut der Sozialdemokratie machten. Mit sozialen Themen punkten, ohne dabei wirklich authentisch zu sein – das war der Vorwurf an die Adresse der Konkurrenz. Dagegen verwahrte sich die FDP. „Die modernen großen Sozialreformer stammen sämtlich aus dem Bürgertum“, konterten die Liberalen am 18. September 1946. Auch die CDU wollte sich den „Willen zur sozialen Tat“ nicht absprechen lassen und zog eine Traditionslinie zu den christlichen Gewerkschaften der Weimarer Zeit.

Die SPD gab sich klassenkämpferisch

Noch ziemlich klassenkämpferische Töne schlug die SPD damals an. Eine „neue, sozialistische Wirtschaft“ erschien ihr gerade in Notzeiten als unabdingbar, ein starker Staat sollte die „kapitalistische Profitwirtschaft“ in die Schranken weisen. Zumal dieses Wirtschaftssystem auch als eigentliche Ursache der Kriegskatastrophe galt. „Der Krieg ist ein Kind des Kapitalismus“, so die aus heutiger Sicht eher schlichte Gleichung. Ebenso simpel auch die Schlussfolgerung daraus: „Wer in Zukunft Kriege verhindern will, muß mitwirken an der Überwindung dieses Systems.“ Der revolutionären Tat hatte die Sozialdemokratie schon vor dem Ersten Weltkrieg abgeschworen, an einem sozialistischen Gesellschaftssystem als Ziel aber festgehalten. Das änderte sich erst 1959 mit der Verabschiedung des Godesberger Programms.

Viel Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokraten spülte die Spaltung des bürgerlichen Lagers. Eine Wunde, in die die SPD während des Wahlkampfs genüsslich ihren Finger legte. Geradezu gönnerhaft räsonierte die SPD im August 1946, vier Parteien rechts von den Linken seien wohl „kaum gerechtfertigt“. Gemeint waren BDV, CDU, FDP und NLP. „Wie wollen diese vier bürgerlichen Parteien später in der Bürgerschaft zu den einzelnen kommunalpolitischen Fragen einen unterschiedlichen Standpunkt einnehmen?“

Das größte Gewicht im bürgerlichen Lager hatte die im Oktober 1945 entstandene Bremer Demokratische Volkspartei (BDV), die sich explizit als Einheitspartei der Mitte verstand. Ihr gehörten mit den beiden Senatoren Theodor Spitta und Hermann Apelt zwei prominente liberale Politiker aus den Vorkriegsjahren an. Die BDV versuchte, die Interessen der Kaufmannschaft ebenso zu vertreten wie die Forderungen der katholischen Arbeiterbewegung. Im Wahlkampf gab sich die BDV von Anfang an kämpferisch. „Resignation ist einzig das Vorrecht der Sterbenden“, rief Senator Hermann Wenhold im August 1946 bei einer Versammlung in Huchting aus.

Gut gereimt ist halb gewonnen: Wahlwerbung der CDU im Weser-Kurier. Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Gut gereimt ist halb gewonnen: Wahlwerbung der CDU im Weser-Kurier.
Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Kein Blatt nahm die Partei im Meinungsstreit mit den politischen Gegnern vor den Mund. Im September 1946 wandte sich die BDV nicht nur gegen „jede Rechtsreaktion wie jeden Linksfaschismus“, sondern machte auch Front gegen „den Klassenkampf, den Rassenkampf und den Konfessionskampf“. Zugleich schreckte die BDV nicht davor zurück, sogar die eigene Klientel vor den Kopf zu stoßen. Etwa durch die Forderung, zur Linderung der Wohnungsnot auch in unbeschädigten Gebäuden die Dachgeschosse auszubauen.

Die CDU als „Zonenpartei“

Erst deutlich nach der BDV hatte sich die Bremer CDU im Juni 1946 als Ableger der Mutterpartei in der britischen Zone gegründet – weshalb auch schon mal geringschätzig von „Zonenpartei“ die Rede war. Die Gründung der Bremer CDU war eine Konsequenz aus dem im Februar 1946 gescheiterten Versuch, kurzerhand die ohnedies schon bestehende BDV in CDU umzubenennen. Daraus erwuchsen mancherlei Animositäten. Heftig wehrte sich die CDU gegen Bestrebungen der BDV, sich ihrem eigenen Namen gemäß als Volkspartei in Szene zu setzen. Ebenso vehement setzte sie sich gegen den Vorwurf zur Wehr, nichts weiter zu sein als eine Neuauflage der katholisch geprägten Zentrumspartei. Fühlte sie sich doch gerade einem christlich-überkonfessionellen Standpunkt verpflichtet.

Endspurt im Bürgerschaftswahlkampf 1946: In der Sporthalle auf der Bürgerweide sprach auch KPD-Vorsitzender Max Reimann. Bildvorlage: Weser-Kurier

Endspurt im Bürgerschaftswahlkampf 1946: In der Sporthalle auf der Bürgerweide sprach auch KPD-Vorsitzender Max Reimann.
Bildvorlage: Weser-Kurier

Gleichwohl rauften sich beide Parteien in der Endphase des Wahlkampfs zusammen. Um zu vermeiden, dass beachtliche Stimmenanteile unter den Tisch fielen, schlossen CDU und BDV am 19. September 1946 ein Wahlabkommen. Der Kern der Vereinbarung war, sich in den einzelnen Wahlbezirken keine Konkurrenz zu machen. Praktisch bedeutete das: Wo die CDU antrat, zog die BDV ihre Kandidaten zurück mit der Aufforderung an ihre Anhänger, die CDU zu wählen – und vice versa genauso. Kein Wunder also, dass CDU und BDV nahezu gleich viele Direktkandidaten in den bürgerlichen Wahlbezirken durchbringen konnten.

Anfangs noch als eigenständige Kraft agierte die neu gegründete FDP, doch am 25. September 1946 schloss auch sie wie schon eine Woche zuvor die CDU ein Wahlabkommen mit der BDV. Anders als im Falle der CDU kam dieses Abkommen aber einem Rückzug aus der politischen Arena gleich: Die FDP-Kandidaten gingen als BDV-Kandidaten ins Rennen, als eigenständige Partei trat die FDP nicht an. „Wenn Sie die Kandidaten der BDV wählen, dann wählen Sie auch die Kandidaten der FDP“, ließ die liberale Parteiführung wissen.

Für die SPD war die bürgerliche Blockbildung ein Versuch, abermals die alten Klassengegensätze aufzureißen. Und das einzig und allein aus wahltaktischen Motiven, es zähle nur „der Gesichtspunkt bloßer Stimmenzählung und Mandatsberechnung“. Einer linken Blockbildung erteilte die SPD indes eine klare Absage. So wünschenswert eine sozialistische Einheitspartei prinzipiell auch sei, für ein Zusammengehen mit der KPD fehle jegliche Voraussetzung. Eigentlich ein überflüssiges Versprechen, weil entsprechende Überlegungen schon vor Jahresfrist endgültig begraben worden waren.

Die KPD wähnte sich auf der Siegerseite der Geschichte

Keinen Mangel an Selbstbewusstsein zeigte die wiedergegründete KPD. Moralisch legitimiert durch den „antifaschistischen Kampf“ gegen die Nationalsozialisten, wähnte sich die Partei ohnehin auf der Siegerseite der Geschichte – hatte Karl Marx doch wissenschaftlich „bewiesen“, dass am Kommunismus als quasi-paradiesischem Endzustand kein Weg vorbeiführen würde. Da konnte sich die Partei auch schon mal als Tugendwächter gerieren. Etwa in der heißen Phase des Wahlkampfs in der letzten September-Woche 1946, als die kommunistische Bürgerschaftsfraktion sich um die „sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend“ sorgte – eine Reaktion auf die wachsende Anzahl von Prostitutionsfällen. Im Wahlkampf hielt keine Partei so viele Kundgebungen ab wie die KPD. Allein im Oktober waren es 115 gegenüber 88 auf Seiten der SPD, deutlich dahinter rangierten die CDU mit 32 und die BDV mit 18 Veranstaltungen.

Nicht immer wurden ihnen Verständnis entgegengebracht: In den frühen Nachkriegsjahren machte das Wort von der „Jugendverwahrlosung“ die Runde, als besonders gefährdet galten unbegleitete Jugendliche. Auf dem 1946 aufgenommenen Foto sind zwei Jugendliche am Sockel des Wilhadi-Brunnens am Markt zu sehen, im Hintergrund ist schemenhaft der ausgebrannte Schütting zu erkennen. Quelle: LIFE-Magazine

Nicht immer wurden ihnen Verständnis entgegengebracht: In den frühen Nachkriegsjahren machte das Wort von der „Jugendverwahrlosung“ die Runde, als besonders gefährdet galten unbegleitete Jugendliche. Auf dem 1946 aufgenommenen Foto sind zwei Jugendliche am Sockel des Wilhadi-Brunnens am Markt zu sehen, im Hintergrund ist schemenhaft der ausgebrannte Schütting zu erkennen.
Quelle: LIFE-Magazine

Einen Sonderfall stellt die Niedersächsische Landespartei (NLP) dar, die Vorläuferorganisation der Deutschen Partei (DP). Aus heutiger Sicht könnte man mit einiger Berechtigung fragen, was eine solche Partei in Bremen verloren hat. Doch deren Aktivitäten an der Weser sind keineswegs so abwegig, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Dafür muss man sich vor Augen halten, dass es das heutige Bundesland Niedersachsen zum Zeitpunkt des Wahlkampfes noch gar nicht gab. Zu bedenken auch, dass die Begrifflichkeit als landschaftliche oder kulturelle Bezeichnung schon länger verwendet wurde und immer auch Bremen mit eingeschlossen hatte. Es ist bezeichnend, dass die Traditionszeitschrift „Niedersachsen“ in Bremen erschien oder der Verein für Niedersächsisches Volkstum in der Hansestadt ins Leben gerufen wurde. Kurzum, wer früher von Niedersachsen sprach, konnte auch Bremen meinen.

In der „Wahlpropaganda“, wie es damals noch ganz unschuldig hieß, war die NLP erstaunlich präsent: Regelmäßig erschienen ihre Verlautbarungen im Weser-Kurier. Und das, obschon die Partei schon frühzeitig auf eine Wahlteilnahme zugunsten der BDV verzichtet hatte. Zu erklären ist das eigentlich nur mit einer vorausschauenden Strategie. Der Wahlkampf war kaum beendet, als das Land Niedersachsen aus der Taufe gehoben wurde. Unmittelbar danach erfolgte die Umbenennung in „Deutsche Partei“ (DP) als national-konservative Alternative zur damals noch relativ weit links stehenden CDU. Wiewohl jetzt auch bundesweit wählbar, lagen die DP-Hochburgen weiterhin im Nordwesten – nicht zuletzt in Bremen, wo die Partei bei den Bürgerschaftswahlen der 1950er Jahre wahre Traumergebnisse einfuhr. 1951 erreichte die DP in Bremen 14,7 Prozent, 1955 sogar 16,6 Prozent, 1959 immerhin noch 14,5 Prozent.

Die ersten Wahlergebnisse: Titelseite des Weser-Kuriers vom 16. Oktober 1946. Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Die ersten Wahlergebnisse: Titelseite des Weser-Kuriers vom 16. Oktober 1946.
Quelle: Archiv des Weser-Kuriers

Die SPD als klarer Favorit

Doch wie votierten denn nun eigentlich die Bremer? Als klarer Favorit ging die SPD ins Rennen. Der bereits seit August 1945 amtierende Bürgermeister Wilhelm Kaisen genoss als „patriarchalischer Übervater“ einen immensen Vertrauensvorschuss. Der in Bremen fest verankerten Sozialdemokratie trauten viele Menschen am ehesten die Lösung der drängendsten Probleme zu, man fühlte sich bei ihr gut aufgehoben. Zusätzlich spielte der SPD der Wahlmodus in die Hände. Es war absehbar, dass die Sozialdemokraten die meisten Direktkandidaten durchbringen würden. So war denn auch der Wahlsieg der SPD keine Überraschung. Mit 47,6 Prozent der Stimmen erlangte die Partei sogar die absolute Mehrheit der Sitze. Von den insgesamt 80 Mandaten fielen ihr dank des Mehrheitswahlrechts 51 zu.

Der Mutmacher: Bürgermeister Wilhelm Kaisen bei seiner Ansprache an die Bremer Bevölkerung am 24. Dezember 1945. Quelle: Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung

Der Mutmacher: Bürgermeister Wilhelm Kaisen bei seiner Ansprache an die Bremer Bevölkerung am 24. Dezember 1945.
Quelle: Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung

Nicht zu Unrecht beklagte sich die KPD über den Wahlmodus. Tatsächlich wirkte sich die Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht stark zu ihrem Nachteil aus. Als Direktkandidaten waren Kommunisten praktisch chancenlos. Das Ergebnis: Obwohl die KPD 11,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, zog sie über die „Reserveliste“ nur mit drei Abgeordneten in die Bürgerschaft ein – ein Anteil von gerade einmal 3,8 Prozent der insgesamt 80 Sitze. Die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht bei den nächsten Bürgerschaftswahlen im Oktober 1947 rückte das Bild dann wieder zurecht: Obwohl die KPD nur noch auf 8,8 Prozent kam und damit fast drei Prozentpunkte einbüßte, stellte sie 10 von 100 Abgeordneten.

BDV und CDU mit fast identischen Stimmenanteilen

Deutlich besser erging es da dem bürgerlichen Block aus BDV und CDU. Aufgrund ihres Wahlabkommens errangen sie einen nahezu identischen Stimmenanteil, die CDU kam auf 18,9 Prozent, die BDV auf 18,3 Prozent. Das machte zusammen 37,2 Prozent – im Grunde müssen die beiden Ergebnisse ohnedies als ein Ergebnis gesehen werden, alles andere ergäbe ein schiefes Bild.

Theoretisch hätte die SPD ohne weiteres allein den Senat bilden können. Bürgermeister Kaisen wies darauf in der Eröffnungssitzung der neuen Bürgerschaft am 30. Oktober 1946 ausdrücklich hin. Doch ebenso deutlich machte er, wie wenig ihm an einer Alleinregierung der SPD gelegen war. „Es kann und darf nicht Aufgabe einer einzigen Partei sein, diese Arbeit auf sich zu nehmen“, sagte der Landesvater mit Blick auf die anstehenden Herausforderungen.

Kaisen traf damit die Zeitstimmung. Es bestand Einigkeit darüber, dass zur Bewältigung der Notlage eine parteiübergreifende Zusammenarbeit nötig sei. Auch die FDP hatte am 3. August 1946 erklärt, der Wiederaufbau könne nicht nur Aufgabe einer einzigen Partei sein. Eine Ansicht, die nicht zuletzt Hackmack im Weser-Kurier vertrat, als er sich in der Wahlnachlese expressis verbis gegen eine „Einparteienherrschaft“ wandte. Da sprach freilich ein altgedienter Sozialdemokrat: Engagierte sich Hackmack doch im Wahlkampf nicht nur als Parteiredner, er zog auch als SPD-Abgeordneter in die Bürgerschaft ein.

Weiter so, lautete das Motto unter diesen Umständen. In fast unveränderter personeller Zusammensetzung setzten SPD, BDV und KPD ihre Kooperation fort, jetzt freilich als demokratisch legitimierte Senatsregierung – eine so auch wirklich genannte „ganz große Koalition“.

von Frank Hethey

Wahlkampf 1946 in Bremen: Auf einer Litfaßsäule an der Bahnhofstraße warb die SPD um Stimmen. Quelle: Staatsarchiv Bremen

Wahlkampf 1946 in Bremen: Auf einer Litfaßsäule an der Bahnhofstraße warb die SPD um Stimmen.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

 

75 Jahre Kriegsende

Neuanfang nach der Diktatur

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, lag Bremen größtenteils in Trümmern: Die dritte Ausgabe des ­Magazins WK | Geschichte schildert das allgegenwärtige Elend und die Sorgen der Bevölkerung. Es zeigt aber auch die ersten Schritte Richtung Zukunft auf – die Stadt unter der US-Flagge, die ersten Wahlen und die Verteidigung der Selbstständigkeit des Landes Bremens.

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