Zehntausende bei den Mai-Feiern in den frühen Nachkriegsjahren / Erster Umzug nach Kriegsende 1946 nur unter strengen Auflagen genehmigt
Zehntausende waren bei den Mai-Feiern der frühen Nachkriegsjahre auf den Beinen. Bei den Umzügen vom Osterdeich bis in den Bürgerpark befand sich die Stadt im Ausnahmezustand, 1949 beteiligten sich 30.000, 1950 sogar 40.000 Menschen. Jugendliche Fahnenträger schritten voran, auf Transparenten waren die Slogans der Gewerkschaften zu lesen. Nur beim ersten Mai-Umzug nach Kriegsende sah man nichts davon: keine Fahnen, keine Transparente, noch nicht einmal Spazierstöcke waren 1946 erlaubt.
Auf der Eisenbahnbrücke am Hauptbahnhof hatte sich der Fotograf an diesem sonnigen 1. Mai 1952 postiert, um ein optimales Blickfeld auf den Mai-Umzug zu haben. Sein Schnappschuss gibt denn auch einen kleinen Eindruck von den immensen Teilnehmerzahlen in den frühen Nachkriegsjahren. In langen Reihen schreiten jugendliche Fahnenträger vorwärts, am Straßenrand säumen unzählige Schaulustige das Spektakel. Vom Osterdeich kommend bewegte sich der Umzug in Richtung Bürgerpark zur Großkundgebung im Garten des Parkhauses, dem Vorgängerbau des heutigen Park Hotels.
Die Bremer Polizei zählte bei den Mai-Umzügen kurz nach Kriegsende schon mal bis zu 45.000 Teilnehmer, zum 60. Jahrestag der Mai-Feier 1950 waren mitsamt den Zuschauern sogar 90.000 Menschen auf den Beinen. Faszinierende Zahlen im Vergleich zu den 3000 bis 4000 Menschen, die 2015 mobilisiert werden konnten.
Für den Weser-Kurier in seiner damaligen Ausgabe ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass „gewaltige Menschenmassen ihre Verbundenheit mit dem Gedanken sozialer Gerechtigkeit und mit der Idee des Völkerfriedens öffentlich zu bekunden bereit“ seien. Und zwar „ohne Anwendung von Zwang und Drohung“, wie es unter Anspielung auf die Pflichtveranstaltungen in der NS-Zeit hieß.
Zum ersten Mal nach Kriegsende fand die Mai-Feier vor 70 Jahren statt. Damals beteiligten sich rund 10.000 Menschen am Aufmarsch, ungefähr die gleiche Anzahl beobachtete das Schauspiel. Völlig selbstverständlich war die Genehmigung einer solchen Massenveranstaltung so kurz nach Kriegsende nicht. Noch nicht einmal ein Jahr war seit Einstellung der Feindseligkeiten vergangen, die Alliierten trauten dem Frieden nicht so recht, fürchteten vielleicht auch die Konfrontation zwischen politischen Gegnern. Nur unter strengen Auflagen wurde 1946 der Mai-Umzug genehmigt, auf Anordnung der US-Militärregierung durften keine Fahnen oder Transparente mitgeführt werden, auch das Tragen von Uniformen war selbstverständlich untersagt. Sogar Spazierstöcke waren als mögliche Waffen nicht erlaubt, nur Gehbehinderte durften sich ihrer bedienen.
Mai-Feier von 1946 dominiert von den über 50-Jährigen
Die Mai-Feier von 1946 stand noch ganz im Zeichen der inneren Sammlung. Etliche Teilnehmer hatten sich viele Jahre nicht gesehen, viele Weggefährten von einst hatten den Krieg nicht überlebt oder befanden sich in Kriegsgefangenschaft.
Auffällig war die große Zahl der über 50-jährigen unter den Demonstranten und das „fast völlige Fehlen“ der 20- bis 40-Jährigen. Neben Friedensbekundungen war schon damals Platz für Forderungen nach voller Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der 1. Mai sei auch der „Tag der schaffenden Frau“, lautete eine Parole im Weser-Kurier. Der Kampfruf: gleicher Lohn für gleiche Leistung!
Seine Wurzeln hat der Mai-Feiertag als Gedenktag an die Haymarket-Unruhen in Chicago. Bei einer Protestveranstaltung im Mai 1886 waren Dutzende von Menschen ums Leben gekommen, daran sollte ab 1890 mit einem weltweiten „Kampftag der Arbeiterbewegung“ erinnert werden.
In Bremen gab es die erste Mai-Feier 1891, schon damals kam es über die Auflagen zum Streit zwischen Arbeiterschaft und Senat. Das änderte sich auch in den Folgejahren nicht, immer wieder wurde das Mitführen roter Fahnen oder Kundgebungen auf öffentlichen Plätzen untersagt, der Marsch durch die Innenstadt verboten. 1892 diente das Gartenrestaurant „Hakenburg“ vor dem Hohentor als Ausweichquartier, ab 1895 traf man sich zum „morgendlichen Mai-Spaziergang“ mit abschließender Kundgebung im Bürgerpark. Noch bis 1910 waren Umzüge und Kundgebungen auf öffentlichen Straßen und Plätzen nicht gestattet, erst danach begannen die Züge durch die Innenstadt. Mit anderen Worten, der Bürgerpark als Veranstaltungsort hatte Tradition, daran knüpfte man nach Kriegsende wieder an.
Die beiden Arbeiterparteien gingen getrennte Wege
Im Zentrum des Mai-Feiertags stand lange Jahre die Forderung nach dem Achtstundentag, nach dem Ersten Weltkrieg rückten pazifistische Willensbekundungen in den Vordergrund. Einen massiven Einschnitt bedeutete die Spaltung der Arbeiterbewegung in Reformer und Radikale. In Bremen wollte die SPD nichts mit den Kommunisten zu tun haben und wehrte sich gegen deren Anregung, gemeinsame Mai-Feiern abzuhalten. Die beiden Arbeiterparteien gingen im wahrsten Sinne des Wortes getrennte Wege.
Zu einem politischen Zankapfel wurde die gesetzliche Verankerung des Mai-Feiertags nach dem Ersten Weltkrieg. Zwar erhob die Weimarer Nationalversammlung den 1. Mai 1919 zum gesetzlichen Feiertag, an sich ein verheißungsvolles Signal. Doch der Beschluss galt nur für dieses eine Jahr, das weitere Procedere war Ländersache. Es liegt auf der Hand, dass es darüber immer wieder zu Streitigkeiten kam. Vorerst allerdings nicht im Land Bremen, wo der 1. Mai in den Jahren 1920 und 1921 den Status eines gesetzlichen Feiertags behielt.
Im April 1922 kippten die bürgerlichen Parteien jedoch die bisher gültige Regelung. Zur Begründung hieß es, es könne nicht sein, „daß ganz Bremen, nur weil ein Teil seiner Bewohner wegen einer politischen Demonstration feiern will, zur Arbeitsruhe, zum Feiern und zum Geldverlust gezwungen“ werde.
Fortan stand der Kampf um den freien Mai-Feiertag auf der politischen Agenda. Im Frühjahr 1928 wurde die Frage zu einer ernsten Belastung bei den Koalitionsgesprächen zwischen SPD und bürgerlichen Parteien. Erst sprach sich die Bürgerschaft mit einer knappen Mehrheit gegen die gesetzliche Verankerung aus, dann dafür, am Ende blieb alles beim Alten. Bei der Ablehnung spielten abermals ökonomische Beweggründe eine entscheidende Rolle. Die Kleinhandelskammer zu Bremen monierte, es würden Wettbewerbsnachteile insbesondere für den Einzelhandel in Bremerhaven und Vegesack entstehen. Völlig aus der Luft gegriffen war das nicht, weil die beiden Städte als bremische Exklaven von preußischen Gemeinden umgeben waren. Und Preußen dachte nicht daran, den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag einzuführen.
Der NS-Staat erklärte den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag
Dass ausgerechnet die Nationalsozialisten den Mai-Feiertag im April 1933 zum gesetzlichen Feiertag erklärten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Mit viel Gespür für seinen Propagandawert machten die neuen Herren den Mai-Feiertag als „Tag der nationalen Arbeit“ zur eigenen Sache, ab 1934 war der eigentlich proletarische Festtag als „Nationalfeiertag des Deutschen Volkes“ ein fester Bestandteil im NS-Festtagskalender. Sicher hat das viel mit Kalkül zu tun, ein unverfrorener Schachzug, um die Arbeiterschaft für die „Nationale Revolution“ zu gewinnen. Doch das war nicht alles, die „Aussöhnung“ zwischen Unternehmern und Arbeitern gehörte zum Parteiprogramm, es ging um die Schaffung einer „Volksgemeinschaft“.
Im „Dritten Reich“ waren die Mai-Feiern eine Pflichtveranstaltung für die Belegschaften der Betriebe – oder „Gefolgschaften“, wie es im NS-Jargon hieß. Kein Wunder, dass die Teilnehmerzahlen sich in beeindruckenden Dimensionen bewegten. 1935 wurden in Bremen 90.000 Teilnehmer gezählt, 1936 sogar 100.000. Freilich ließ die Disziplin mitunter zu wünschen übrig. Manch einer setzte sich schon während des Umzugs zum Weserstadion oder in den Bürgerpark ab, andere verzichteten auf die Übertragung der „Führerrede“ und suchten stattdessen eine Kneipe auf.
Politische Unmutsbekundungen hat es bei den offiziellen Mai-Feiern nicht gegeben, allenfalls unter dem Deckmantel privater Zusammenkünfte kamen frühere sozialistische Aktivisten zusammen. Etwa im Blockland, wo sich vorwiegend junge Arbeiter trafen und die „Internationale“ anstimmten.
Einiges Aufsehen verursachten die Tumulte auf dem Domshof am 30. April 1934, als SA-Leute lauthals den Rücktritt von Polizeisenator Theodor Laue forderten. Bei der Mai-Feier am folgenden Tag kam es am Weserstadion sogar zu Rangeleien zwischen SA- und SS-Angehörigen. Freilich war das nur ein Ausdruck innerer Machtkämpfe in der Frühphase der „Nationalen Revolution“, mit den zentralen Anliegen der Arbeiterbewegung hatte das nichts zu tun.
Die Gewerkschaften übernahmen die Organisation der Mai-Umzüge
Nach Kriegsende war der Mai-Umzug nicht mehr Parteisache, die Gewerkschaften übernahmen die Organisation. Seine Überparteilichkeit wertete der DGB als Erfolgsgarant für die starke Beteiligung in den frühen Nachkriegsjahren und wehrte sich gegen Versuche von kommunistischer Seite, den Feiertag für Parteipropaganda zu nutzen. „Die Parteien mögen tun und lassen, was sie wollen“, lautete die Botschaft, „aber nicht im Maiumzug der Gewerkschaften!“ Parallel luden die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zu Abendveranstaltungen ein, als rechtskonservative Konkurrenz mischte die Deutsche Partei (DP) mit einer „Deutschen Maifeier“ mit.
In den frühen Nachkriegsjahren stand die Mai-Feier erst im Zeichen der Aufräumarbeiten, dann des Wiederaufbaus. Nach Beseitigung der schlimmsten Trümmerschäden rückte in den frühen 1950er Jahren der Wohnungsbau ins Blickfeld, zugleich ging es um Mitbestimmungsrechte und höhere Löhne. Ab 1956 nahmen die Gewerkschaften mit der Kampagne „Samstags gehört Vati mir!“ den Kampf um die 40-Stunden-Woche auf. Ein überdimensionales Banner am Gebäude der Deutschen Schiffsbank bei der Mai-Feier 1957 trug die Forderung vor, der strahlende kleine Junge mit dem ausgestreckten Zeigefinger verkörpert geradezu die Zeit des „Wirtschaftswunders“.
Traditioneller Anlaufpunkt der Mai-Umzüge war bis 1953 der Parkhausgarten im Bürgerpark, von der Terrasse des maroden Hotelgebäudes pflegte die Polit- und Gewerkschaftsprominenz das Wort an die Menge zu richten. Der Mitteltrakt mit seiner Kuppel eignete sich auch, um ein politisches Zeichen zu setzen: Eine Gruppe Jugendlicher nahm sich 1951 die legendäre Studentenaktion auf Helgoland zum Vorbild und hisste auf dem Dach des Parkhauses neben der schwarz-rot-goldenen Flagge die Europafahne. Damit war es freilich vorbei, als die Bauarbeiten für das heutige Park Hotel begannen. Ab 1954 war nicht mehr das Parkhaus, sondern der Domshof das Ziel der Mai-Umzüge.
Dumm nur, wenn der 1. Mai wie in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel. Eine schöne Idee brachte 1949 der DGB-Landesvorsitzende Oskar Schulze vor. Der Gewerkschaftsführer forderte die Unternehmen auf, die Lohnersparnisse dem sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Eine Anregung, über die man an berufener Stelle auch heute durchaus mal nachdenken könnte.
von Frank Hethey