Vor 100 Jahren wütete der deutsch-polnische Konflikt um Oberschlesien – Bremer Freikorps Krose beteiligt
So manch ein Leser der „Bremer Nachrichten“ dürfte nicht schlecht gestaunt haben bei der Zeitungslektüre am 6. Oktober 1921. Berichtete doch ein langer Artikel vom „Abschiedskompagniefest der Freiwilligen-Hundertschaft Krose“, den „Bremer Oberschlesienkämpfern“. Unter Einsatz von „Blut und Leben“ sei eine „stattliche Anzahl Bremer Freiwilliger“ den „oberschlesischen Brüdern“ zu Hilfe geeilt, „um deutsches Land und deutsches Volk vor Brutalität und Bestalität polnischer Räuberhorden“ zu schützen.
Einer dieser Freiwilligen war Eugen Ritter, ein 22-jähriger Kaufmannssohn aus Bremen, der bereits im Ersten Weltkrieg und danach im Freikorps Caspari gegen die Bremer Räterepublik gekämpft hatte. Mit der Rückkehr ins Zivilleben hatte er sich niemals abfinden können, verglichen mit dem „Fronterlebnis“ und der Kameradschaft früherer Tage erschien ihm der Alltag in Bremen langweilig und fade. Buchstäblich von einem Tag auf den anderen meldete sich Ritter für den Einsatz im umkämpften Oberschlesien. „Mittags fand ich den Befehl zu Hause vor“, notierte er am 17. Mai 1921 im Tagebuch, „demzufolge ich mich am Abend um 6 Uhr entschloß, mich freiwillig für Oberschlesien zur Verfügung zu stellen.“
Der Streit um Oberschlesien war seit Kriegsende ein Politikum in Deutschland wie auch Polen. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg musste Deutschland gemäß Versailler Vertrag nicht nur Gebiete wie Elsass-Lothringen ohne weitere Verhandlungen abtreten. Im Sinne der freien Selbstbestimmung der Völker sollten die Menschen in umstrittenen Grenzgebieten über ihre nationale Zugehörigkeit abstimmen. Neben Schleswig-Holstein sowie West- und Ostpreußen zählte Oberschlesien zu den Abstimmungsgebieten.
„Grenzspenden“ für ehemalige Oberschlesier
Wegen wiederkehrender Unruhen fand die Abstimmung in Oberschlesien erst am 20. März 1921 statt. Im Vorfeld der Abstimmung setzte eine Kampagne im ganzen Reich ein, die öffentliche Meinung wurde für die „deutsche Sache“ im südöstlichen Zipfel Schlesiens mobilisiert. Auch in Bremen riefen oberschlesische Heimatverbände zu „Grenzspenden“ auf, damit ehemalige Oberschlesier in der alten Heimat ihr Wahlrecht wahrnehmen konnten. „Vaterlandsliebe und Opferwillen haben Schleswig, Ost- und Westpreußen dem Reiche erhalten. Damit uns Oberschlesien bleibt, gib zur Grenz-Spende“, hieß es auf einem dieser Plakate.
Schon allein dieses Plebiszit entfachte im Unterschied zu den vorherigen Abstimmungen eine weitaus stärkere Welle des reichsweiten Patriotismus. Das hatte auch mit handfesten wirtschaftlichen Interessen zu tun, dem bedeutenden oberschlesischen Kohlen- und Industrierevier.
Wirkliche Klarheit brachte die Abstimmung nicht. Zwar entschied sich eine Mehrheit von 59 Prozent für den Verbleib bei Deutschland. Doch oft genug lagen Gemeinden mit deutscher oder polnischer Mehrheit in direkter Nachbarschaft, es entstand ein Flickenteppich abweichender nationaler Bekenntnisse. Dass die Sprache als nationales Zuordnungskriterium nicht taugte, machte die Sache nicht einfacher. Gerade im östlichen Teil des Abstimmungsgebiets bekannten sich viele polnischsprachige Menschen zu Deutschland und umgekehrt deutschsprachige zu Polen. Kurios genug, dass pro-polnische Abstimmungsplakate zweisprachig gedruckt wurden.
Seit Anfang Mai 1921 spitzte sich der Konflikt um die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland oder Polen dramatisch zu. Zwei kleinere polnische Aufstände waren bereits 1919 und 1920 ausgebrochen. Doch der dritte Aufstand von 1921 war der längste und blutigste. Als Auslöser gilt der britisch-italienische Teilungsvorschlag, demzufolge drei Viertel Oberschlesiens mitsamt dem Industriegebiet bei Deutschland verbleiben sollten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1921 rückten polnische Freischärler in die von ihnen beanspruchten Gebiete ein – ein Aufschrei der Empörung ging durch Deutschland.
Vierzehn Tage später gehorchte Eugen Ritter dem Befehl zum freiwilligen Kampfeinsatz. Ein Befehl, dem man freiwillig folgt – eine Ungereimtheit, die eigentlich nur damit zu erklären ist, dass sich alte Kommandostrukturen erhalten hatten. Mit dem Führer der Freiwilligenhundertschaft Krose (auch: Freikorps Krose), Oberleutnant Wilhelm Krose, hatte Ritter schon im Infanterie-Regiment Nr. 75 gedient, auch danach dürfte der Kontakt bestehen geblieben sein. „Es gab ein großes Netzwerk von Kameradschaften, die sich zu gemeinsamen Feiern oder am Stammtisch trafen“, sagt der Osteuropahistoriker Rüdiger Ritter, ein Enkel des Freikorpskämpfers.
Dass sich überhaupt eine Freiwilligenhundertschaft Krose gebildet hatte, blieb den meisten Menschen in Bremen verborgen – musste es auch, weil reaktivierte Freikorpseinheiten von alliierter Seite in dem Grenzkonflikt zumindest formal nicht geduldet wurden. Wohl auch deshalb die sonderbare Bezeichnung „Freiwilligenhundertschaft“ statt des eingängigen „Freikorps“. Entsprechend trugen die Bremer Freiwilligen während der Bahnfahrt nach Oberschlesien fast durchweg Zivil. Auch im Zielgebiet blieb das häufig so, zu erkennen waren sie nur an der weiß-gelben Armbinde des „Selbstschutzes Oberschlesien“ (SSOS). „Wie die Räuber sahen wir aus“, schrieb Ritter unter eine Fotoaufnahme.
In anhaltende Kämpfe wurde Ritter nicht verwickelt. Nur bei der Rückeroberung des grenznahen Städtchens Landsberg am 24. Mai 1921 waren seine militärischen Fähigkeiten gefordert. „Ich musste mit meinen Leuten in Richtung auf das Zollhäuschen vorgehen“, erinnerte sich Ritter später. „Leider ging’s nicht ohne Verluste für uns ab.“ Ansonsten beharkte man sich, sein Enkel spricht von einem „andauernden Guerillakampf mit vereinzelten Scharmützeln und Schießereien“. Mitunter spazierte Ritter sogar über die Grenze in den neu geschaffenen polnischen Nationalstaat.
Die Tagebuch-Lektüre erinnert Rüdiger Ritter eher an einen Urlaubsaufenthalt als einen Kampfeinsatz. Sein Großvater verbrachte viel Zeit mit Malen und geselligen Zusammenkünften, die Patrouillengänge wirken wie gefahrlose Routine. In aller Ruhe fotografierte er polnische Widersacher auf der anderen Seite des kleinen Grenzflüsschens Prosna im nordöstlichen Teil des Abstimmungsgebiets, dem Einsatzbereich der Bremer Freikorpsleute. Irgendein Risiko ging er damit offenbar nicht ein. „Polnische Posten“ oder „Sie wollen sich nicht knipsen lassen“ schrieb er unter die Bilder.
Sehr lobend äußerte sich Ritter über die Gastfreundschaft der deutschgesinnten Bevölkerung. Allerdings machte er auch andere Erfahrungen. In einem neuen Quartier wollte die Familie die deutschen Kämpfer nicht bewirten. Als sie es dann doch musste, war der kulinarische Genuss überschaubar – offenbar ein Fall von passivem Widerstand am Esstisch. „Ich aß Klöße (entsetzlich), Schweinefleisch und einen fürchterlichen Salat“, so Ritter am 12. Juni 1921. Fast tragikomisch dann der Besuch des SSOS-Leiters General Karl Hoefer, der mit „erhobenem Armstummel“ den Tag der Rache beschwor.
Doch dazu kam es vorerst nicht, am 30. Juni 1921 wurden die Bremer Freiwilligen nach Niederschlesien nahe Breslau verlegt. Als aktive Truppe brauchte man das Freikorps Krose nicht mehr, es sollte sich aber auf Abruf bereithalten. Die Wartezeit verbrachten die Kämpfer mit harter landwirtschaftlicher Arbeit, ein bewährtes Konzept zur Tarnung paramilitärischer Einheiten. Noch im Rückblick klagte Ritter: „Wir mussten die nun nicht gekommenen polnischen Erntearbeiter ersetzen.“
Nach dem Waffenstillstand vom 5. Juli 1921 flackerten die Kämpfe nicht wieder auf. Von den unfreiwilligen Erntehelfern ging einer nach dem anderen von der Fahne, kurz vor Auflösung der Einheit ersuchte auch Ritter am 13. September 1921 um seine Entlassung. Da wird es tröstlich gewesen sein, dass wenigstens die „Pitschner Mädels“ ein Abschiedsgedicht für die Bremer reimten. „Und wenn die frechen Polen“, hieß es da, „nochmals fallen ein/ Soll’n sie sich wieder Bremer Prügel holen“.
Mit Genugtuung dürften die Freikorpskämpfer beim Abschiedsabend vor 100 Jahren im Parkhaus, dem Vorgängerdomizil des heutigen Park Hotels, die Worte ihres einstigen Bataillonsführers vernommen haben. Mit seinem Adjutanten war der Oberleutnant eigens aus Oberschlesien angereist, „dem befreiten Lande“. Sein wohl doch etwas überschwängliches Fazit des sechswöchigen Einsatzes im Krisengebiet: „Die bremische Freiwilligenkompagnie hat sich in ganz Oberschlesien ein bleibendes Denkmal gesetzt.“ Zur Würdigung ihres Waffengangs wurde den Kämpfern ein Orden verliehen, das Oberschlesienkreuz.
Teilung als beschlossene Sache
Gut zwei Wochen nach dem Abschiedsabend wurde dann allerdings am 20. Oktober 1921 in Paris die Teilung Oberschlesiens beschlossen. Das geschah gegen den Widerstand der Reichsregierung unter Kanzler Joseph Wirth, die mit Hinweis auf das Abstimmungsergebnis ganz Oberschlesien beanspruchte ohne die durchaus vorgesehene Grenzziehung nach lokalen Mehrheiten zu akzeptieren. Zwei Drittel Oberschlesiens verblieben bei Deutschland, freilich war das der vorwiegend agrarisch geprägte westliche Teil. Der kleinere Teil mit dem Gros des wertvollen Industriereviers ging als Ostoberschlesien an Polen. Ein Schock für weite Teile der deutschen Öffentlichkeit, aus Protest trat das Kabinett Wirth zurück.
Bis heute gibt es eine Tendenz, sämtliche deutschen Freikorpsverbände in einen Topf zu werfen. Doch schon allein in Anbetracht ihrer schieren Zahl liegt es auf der Hand, dass sie sehr heterogen ausgerichtet waren. Keineswegs alle Freikorpsverbände können als rechtsradikale und antisemitische Vorläufer der SA angesehen werden. Das trifft sicherlich auf die berüchtigte Marine-Brigade Ehrhardt zu, die an mehreren Schauplätzen zum Einsatz kam, sich im März 1920 am anti-republikanischen Kapp-Putsch beteiligte und danach aufgelöst wurde. Aus ihrer Konkursmasse ging die Organisation Consul hervor. Eine Terrorgruppe, auf deren Konto eine Reihe politischer Morde gingen. Das erste Opfer war im August 1921 der vormalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (mehr dazu hier), im Juni 1922 folgte der Mord am jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau.
Anders ist das Freikorps Caspari zu bewerten, deren einziger Zweck die Niederschlagung der Bremer Räterepublik war. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten, weitaus weniger bekannten Bremer Freikorpsverband, der Freiwilligenhundertschaft Krose. Wenn es auch durchaus personelle Kontinuitäten wie im Falle Eugen Ritters gab, so hatte die Krose-Truppe doch einen klar definierten, eng umrissenen Zweck – der Kampfeinsatz beschränkte sich auf die Sicherung Oberschlesiens. Nationalistisch und wohl auch kaisertreu dürften sämtliche Krose-Kämpfer gewesen sein, aber nicht unbedingt antisemitisch und rechtsradikal. Sich darüber Klarheit zu verschaffen, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe.
Die Geschichte der Freiwilligenhundertschaft Krose ist heute „fast vollkommen in Vergessenheit geraten“, stellt Rüdiger Ritter fest – ganz im Gegensatz zu den Ereignissen rund um die Bremer Räterepublik und der Rolle des Freikorps Caspari bei deren Niederschlagung. „Die regionale Forschung hat bisher einen großen Bogen darum gemacht“, sagt er. Tatsächlich erinnerte sich schon sehr früh kaum noch jemand an die Aktivitäten der Krose-Truppe. Im Staatsarchiv hat sich das Ersuchen eines gewissen Hans Weidner erhalten: 1940 begehrte er nach Auskunft „über eine Kompagnie Bremer Freiwilliger, die in Oberschlesien kämpfte“.