Mehr als nur eine Illustration: Auch Bilder haben eine Geschichte
Manche Fotografien erreichen bildprogrammatische Bedeutung. Die „Typen von Arbeiterinnen“ der Waller Jute-Spinnerei und Weberei sind ein solches Bild. In den 1980er und 90er Jahren standen sie stellvertretend für die industrielle Frauenarbeit, die bis dahin ein arg vernachlässigtes Kapitel der Industrie- und Wirtschaftsgeschichte war. Vor allem Marlene Ellerkamp und Romina Schmitter [1] machten sich bei der Aufarbeitung dieses Themas verdient.
Zur Illustration ihrer Arbeiten kam auch obiges Bild zu Einsatz. Dieses wurde beispielsweise auch verwendet in Diethelm Knauf/Helga Schröder (Hg.), Fremde in Bremen. Auswanderer, Zuwanderer, Zwangsarbeiter aus der Jahre 1993. Im Gegensatz zu Ellerkamp und Schmitter findet man hier keine ordentliche Quellenangabe.
Nun sind fast 25 Jahre ins Land gegangen und der Umgang mit Bildern hat sich gewandelt. Abbildungen werden, und sollten es tunlichst auch, als Quellen mit einer eigenständigen Aussage ernst genommen und nicht nur zu Illustrationszwecken verwendet werden.
Dazu gehört auch und vor allem eine gründliche Kontextualisierung, die sich zum Beispiel der Frage widmet, in welchem ursprünglichen Zusammenhang das Bild produziert und verwendet wurde und welche Absicht damit verbunden war. Widmet man sich dieser Frage, dann sind die „Typen von Arbeiterinnen“ der Waller Jute weit mehr als eine Illustration von Frauenarbeit.
„Typen von Arbeiterinnen“ zuerst 1907 publiziert
Zuerst publiziert wurde das Bild in dem Band „Der Staat Bremen. Historisch-biographische Blätter“, Berlin 1907. Davon gibt es zwei Bände, die zwischen 1906 und 1911 erschienen. Vorgestellt werden Bremer Unternehmen, die so geschildert werden sollen, „dass der Leser ein detailliertes Bild von der Eigenart, der Geschichte und der imponierenden Bedeutung des bremischen Wirtschaftslebens empfängt“, wie es in der Einleitung heißt.
So gut wie alle Bremer Firmen von Rang aus Schifffahrt, Handel und Industrie kommen vor: Norddeutscher Lloyd, Melchers & Co., Bremer Wollkämmerei, Norddeutsche Maschinen- und Armaturenfabrik, Reidemeister & Ulrichs, Atlas Werke, Norddeutsche Hütte usw. usf.
Und eben auch die Jute-Spinnerei und Weberei Bremen in Walle. Illustriert durch ca. 55 Fotografien wird nach der Gründung und den ersten Jahren der Fabrik der Produktionsprozess vom Anbau der Jutepflanzen bis zu den fertigen Ballen unglaublich detailliert dargestellt.
Offensichtlich war man hier der Meinung, dass man am besten das Profil und den Charakter der Waller Jute herausarbeiten und diese in einem positiven Licht erscheinen lassen kann, wenn man mit beeindruckenden Bildern von Rohjute, Maschinen und Werkshallen die Herstellung von Jute in allen kleinen Arbeitsschritten dokumentiert und erklärt. Ein eigenes Kapitel ist den Wohlfahrtseinrichtungen (Arbeiterwohnungen, Säuglings- und Kinderheim, Spielsäle, „Badestraße“, Werkstatt im Knabenheim u.ä.) gewidmet. Das letzte Bild im gesamten Kapitel ist nun „Typen von Arbeiterinnen“.
Vier junge Arbeiterinnen um Juteballen drapiert
Es handelt sich um ein gestelltes Bild, das vier junge Arbeiterinnen um Juteballen drapiert in einer großen Werkshalle zeigt. Auch die Frauen an den Batschmaschinen, beim Sortieren der Jute, in der Spinnerei und Haspelei sehen sehr adrett aus mit ihren Kopftüchern und Schürzen.
Doch die Bilder vermitteln keinen Eindruck von den wirklichen Arbeitsbedingungen, von Dreck, Staub, Lärm, Arbeitshetze, Gesundheitsproblemen. In der Tat waren 70 Prozent der Arbeiterschaft auf der Jute Frauen, kaum eine erhielt 20 Pfennig Stundenlohn (ein Ei etwa kostete 7 Pf), männliche Handwerker und Vorarbeiter brachten es auf bis zu 50 Pfennig.
Die Frauen mussten den ganzen Tag an den Maschinen stehen, Rücken und Beine schmerzten. Die hohe Temperatur und die Luftfeuchtigkeit machten das Atmen schwer, feinfaseriger Staub legte sich auf die Augen und kroch in Nase, Hals und Lungen. Rheuma, Tuberkulose und Augenleiden waren besonders verbreitet.
Die Arbeitsschichten betrugen zwischen elf und 14 Stunden. „Mitbestimmend für die Gründung der Jute-Spinnerei war für mehrere Herren des Aufsichtsrates, für den weiblichen Teil der Arbeiterbevölkerung Arbeitsgelegenheit zu schaffen, an der es in Bremen fast vollständig fehlte; gerade eine Jute-Spinnerei benötigt aber vor allem weibliche Arbeitskräfte“, so heißt es im Kapitel Historisches. Die weitgehende Mechanisierung der Produktion machte es möglich, dass man als angelernte Arbeitskraft keine besondere Ausbildung und auch wenig Muskelkraft brauchte. So konnte man das große Potential billigerer weiblicher Arbeitskräfte nutzen.
Noch ein Aspekt fehlt vollkommen in der Darstellung der Waller Jute von 1907: Da das Spinnen und Weben in Bremen überhaupt keine Tradition hatte, betrieb die Firma systematische Anwerbungskampagnen in den traditionellen Webereizentren in Böhmen und Mähren, in Schlesien, Galizien und auch in Ruthenien.
Arbeitsmigration spielte in der Jute-Selbstdarstellung keine Rolle
Die ausländischen Arbeiterinnen waren mit der Technik des Webens vertraut und mussten kaum angelernt werden. 1899 betrug der Ausländeranteil bei verheirateten Frauen 40, bei ledigen 34 Prozent. Sind also die „Typen von Arbeiterinnen“ solche Ausländerinnen? Die Kopftücher sprächen dafür, aber einen sicheren Hinweis liefert der Text nirgends. Das Thema „Migration“, in welcher Form auch immer, spielt in der Selbstdarstellung der Waller Jute keine Rolle, der Begriff kommt ebenso wenig vor wie etwa „ausländische Arbeitskräfte“.
Das Kapitel über die Waller Jute aus der Publikation „Der Staat Bremen“ von 1907 wurde 1913 aus Anlass des 25-jährigen Firmenjubiläums vom Unternehmen noch einmal als Broschüre aufgelegt, ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich um eine der Unternehmensführung angenehme Publikation handelt.
Die Waller Jute machte für sich Werbung.
Offensichtlich hatte man professionelle Fotografen bestellt, die Fotos inszenierten. Und zu diesem Werbeinstrumentarium gehörte auch das Bild „Typen von Arbeiterinnen“, das jedoch, richtig eingeordnet, mehr Botschaften enthält, als sich das Unternehmen hatte träumen lassen.
Anmerkung:
[1] Ellerkamp, Marlene und Brigitte Jungmann, Frauen in der „Jute“. Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, Heft 6: Arbeitsplätze. Schiffahrt, Hafen, Textilindustrie 1880 – 1933, Bremen, 1983; Dies., Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht: Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung. Bremer Textilarbeiterinnen 1870 – 19124, Göttingen 1991; Schmitter, Romina; Dienstmädchen, Jutearbeiterinnen und Schneiderinnen – Frauenerwerbsarbeit in der Stadt Bremen 1871 – 1914 / Texte und Materialien zum historisch politischen Unterricht, Bremen 1996 (Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen Heft 25)
von Dr. Diethelm Knauf