Als 19-Jähriger nach Kanada / Flucht vor der Bundeswehr
Nichts wie weg aus Deutschland: Das wollte der 19-jährige Günter Garbrecht, als das „Wirtschaftswunder“ gerade in Schwung kam. Denn Soldat in der neuen Bundeswehr zu werden, das kam für ihn nicht in Frage. Als Einwanderer lebte er zweieinhalb Jahre in Kanada. Und kam dann doch wieder zurück nach Bremen, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte.
In ein fernes Land auswandern und nicht arbeiten dürfen? Darüber kann Günter Garbrecht nur lachen. Sich auszumalen, als Migrant in einer Unterkunft zu sitzen ohne Arbeitserlaubnis – für ihn ein unvorstellbarer Gedanke. Als was hat der 78-Jährige nicht alles malocht drüben in Kanada. Dachdecker war er, Nachtportier, Lohnbuchhalter und Staubsaugervertreter. Und noch viel mehr. Beim Nachzählen kommt er auf 19 Jobs. Kein schlechter Schnitt in zweieinhalb Jahren.
Eigentlich sollte es eine Reise ohne Rückkehr sein, er meinte es ernst mit dem Auswandern. „Ich fand das Land toll“, sagt Garbrecht. Und doch spürte er irgendwann, dass er niemals ein richtiger Kanadier werden könnte. „Wenn es mal kontrovers zuging, wenn man eine eigene Meinung hatte – dann warst du plötzlich der dahergelaufene Ausländer.“
Eine Erfahrung, die für ihn allgemeine Gültigkeit hat. Auch im Einwanderungsland Deutschland. „Die erste Generation der Zuwanderer ist immer verloren, sie lebt in zwei Welten“, sagt er. Die Chance, mentalen Ballast abzuwerfen, habe erst die nachfolgende Generation. Fragt sich nur, ob das für alle gilt, die nach Deutschland kommen. Sicher ist sich Garbrecht nicht. In Kanada hat er erlebt, wie schwer es Einwanderer aus Südeuropa oder Dunkelhäutige hatten. „Wir Deutsche hatten weniger unter Vorurteilen zu leiden.“
Doch ein 19-Jähriger denkt solche Gedanken nicht. Schon gar nicht, wenn er an der Columbuskaje in Bremerhaven steht und in der Tasche ein Ticket für die große Überfahrt hat.
Nie wieder deutsche Soldaten
Warum wollte er Deutschland verlassen? Als blutjunger Mann mit abgeschlossener kaufmännischer Ausbildung und guter Berufsperspektive? Und das 1956, als der Wiederaufbau schon längst in vollem Gange war, das Wirtschaftswunder gerade erst richtig Fahrt aufnahm. „Ich wollte nicht Soldat werden“, sagt Garbrecht. „Und eine Portion Abenteuerlust war auch dabei.“
Das war die Kehrseite der „Wunderjahre“: der Kalte Krieg zwischen Amerika und Russland. Die Wiederbewaffnung war der bundesdeutsche Beitrag dazu, die Bundeswehr brauchte Soldaten. Doch schon damals gab es aufmüpfige junge Männer, die sich dagegen wehrten, die bei Ostermärschen mitmachten, die sich lieber einsperren lassen wollten als eine Waffe in die Hand zu nehmen. „Unsere Überzeugung war: Nie wieder Krieg“, sagt Garbrecht. „Nie wieder deutsche Soldaten.“
Mit dem Leidensdruck heutiger Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge hat derlei nicht viel gemein. Den Krieg hatte Deutschland hinter sich, man musste nicht fliehen vor Mord und Totschlag. Und doch trauten viele Menschen dem Frieden nicht. Noch allzu frisch waren die Erinnerungen an die Gewaltexzesse des Zweiten Weltkriegs, die Bombennächte, die ständige Existenzangst, die späte Rückkehr der Väter aus der Gefangenschaft. Gerade deshalb der verbreitete Pazifismus unter jungen Leuten.
Ins englischsprachige Ausland wollte Garbrecht. Als Zielländer seien aber nur Australien oder Kanada in Frage gekommen, sagt er. Nicht die Vereinigten Staaten, weil dort damals noch die Wehrpflicht bestand. „Und wozu nach Amerika gehen, wenn ich als US-Resident auch mit meiner Einberufung hätte rechnen müssen?“ Das wollte der 19-Jährige nicht riskieren.
Als Zielland blieb nur Kanada übrig
Die Entscheidung ergab sich dann von selbst. Zwar lieh ihm sein Vater Geld für die Schiffspassage. Doch weil es für Australien nicht reichte, blieb nur Kanada übrig. Den Moment der Abfahrt hat Garbrecht noch deutlich vor Augen. Eine Kapelle habe „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ gespielt. „Als die fertig war, rief plötzlich einer lauthals in die Stille: ‚Und schönen Gruß an Theodor Blank!’“ So hieß damals der erste deutsche Verteidigungsminister.
An die 50 Wehrdienstverweigerer hätten sich damals an Bord befunden, schätzt Garbrecht. Alle waren erleichtert. Alle meinten, dem verhassten Soldatendasein in letzter Minute entkommen zu sein. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Abkehr von Deutschland voreilig gewesen war. „Mein Jahrgang 1936 wurde nicht gezogen, erst die Siebenunddreißiger mussten einrücken.“
Doch was für eine Perspektive hatte der junge Garbrecht?
Praktisch mittellos kam er nach mehrtägiger Atlantikpassage in der Millionenstadt Toronto an. Zukunftssorgen kannte er trotzdem nicht. Unbekümmert machte er sich ans Werk, schuftete erst drei Monate lang auf einer Tabakplantage am Lake Erie, danach als Gärtner, als Zimmermannsgehilfe, als Farmarbeiter und Kellner. Zuletzt als Lohnbuchhalter an einer Pipeline hoch oben im Norden der Provinz Ontario. „Es war die prägendste Zeit meines Lebens“, erinnert er sich. „Nicht arbeiten hieß nicht essen. Es gab keine Mutter, bei der ich den Kühlschrank leer futtern konnte und auch keine staatliche Unterstützung.“
Die Verlobte wollte nachkommen
Schon damals war Garbrecht mit seiner heutigen Frau Ingrid liiert. Die wollte eigentlich nachkommen. Der Kontakt brach nie ab, jede Woche wechselte das Paar Briefe. Eine gemeinsame Zukunft in Übersee, das war der Plan. Doch die Zeit verging ohne dass die Verlobte sich anschickte, Bremen den Rücken zu kehren. „Also sagte ich mir: Fährst du mal rüber und guckst nach“, so Garbrecht. Das war Ende 1958.
An eine dauerhafte Rückkehr hat er damals nicht gedacht. Es sollte nur eine Stippvisite sein, um nach dem Rechten zu sehen. Um ein wenig nachzuhelfen, ein wenig Überzeugungsarbeit zu leisten. Wirklich geglückt ist das nicht. „Da habe ich festgestellt, dass sie eigentlich gar nicht nachkommen wollte.“
Doch ein Leben ohne sie kam für ihn nicht in Frage. Also blieb er, wo sie war. Die beiden haben 1959 geheiratet, zwei Kinder großgezogen, erfolgreich eine mittelständische Firma aufgebaut. „Wir haben uns auf die Herstellung von Glückwunschkarten spezialisiert“, berichtet Garbrecht. Anfangs war das ein hartes Geschäft, jeder verdiente Pfennig wurde wieder ins Unternehmen gesteckt. Dabei hat Garbrecht von seinen Kanada-Erfahrungen profitieren können. „Es geht immer weiter“, sagt er, „auch wenn es nicht immer danach aussieht.“
Als das junge Unternehmen nach ein paar Jahren „Wind unter die Flügel bekam“, konnten die Garbrechts ans Expandieren denken. Eine Firmenkooperation brachte 1974 abermals Schwung ins Geschäft: Das Sortiment wurde erweitert, die Zahl der Angestellten stieg an. Mit rund 90 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von zwölf bis 13 Millionen Euro hat sich „AvanCarte“ inzwischen als einer der führenden Anbieter im Grußkartensegment etabliert.
Als Seniorstudent an der Uni Bremen
In den späten neunziger Jahren zog sich Garbrecht aus der Geschäftsleitung zurück, führte aber noch neun Jahre lang bis 2006 den Bundesverband der Glückwunschkartenindustrie. Parallel begann er als Seniorstudent ein Geschichtsstudium an der Uni Bremen – wieder neue Eindrücke, neue Aktivitäten. „Meine Frau sagt immer: Ich kann niemals stillsitzen“, sagt Garbrecht.
Ihr langjähriges Eigenheim in Kattenesch haben die Garbrechts vor acht Jahren verkauft, seither wohnen sie in einer schmucken Appartementwohnung an der Contrescarpe. Noch im Ruhestand geht das Ehepaar gern auf Reisen. Oder besser: auf Erkundungstour. Zusammen, aber auch schon mal getrennt. Wie erst im vorigen Sommer, als Günter Garbrecht mit seinem 16-jährigen Enkel wochenlang im wilden Westen Amerikas unterwegs war.
Und wer weiß, vielleicht führt einmal ein anderer Enkel die Familientradition fort. „Der absolviert gerade ein duales Studium in unserer Firma, drei Monate studiert er, drei Monate ist er Auszubildender in unserer Firma.“ Doch einen Freibrief will er dem Nachwuchs nicht ausstellen, für den einstigen Kanada-Auswanderer zählt der Leistungsgedanke. „Nur weil er ein Garbrecht ist, wird er nicht in meine Fußstapfen treten.“
von Frank Hethey