Zum 9. November 1938: Das Bekleidungsgeschäft Adler und die Eigentümerfamilie Bialystock
Zu den Geschäften, die von der SA in der „Reichspogromnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 verwüstet wurden, gehörte auch das Bekleidungsgeschäft Adler am Brill 14. Dessen jüdischer Inhaber Heinrich Bialystock, 1891 im damals russischen Teil Polens geboren, war mit seinen Eltern noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland ausgewandert.
Die Aufnahme zeigt SA-Leute und Polizei am Morgen des 10. November vor seinem demolierten Geschäft. Nicht sehr deutlich zu sehen, aber doch erkennbar: die eingeworfene Schaufensterscheibe zur Linken. Bei näherer Betrachtung fällt noch etwas anderes auf – nämlich dass Familie Bialystock schon vor dem November-Pogrom nicht mehr an eine Weiterführung des Geschäfts dachte, auch kaum noch denken konnte angesichts der systematischen Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Davon kündet die großformatige Mitteilung im Schaufenster: „Total-Ausverkauf. Wegen Aufgabe des Geschäfts…“ Die drei Punkte am Ende sprechen Bände, dazu konnte sich jeder seinen eigenen Teil denken. Ein weiteres Schild zeigt an, dass der Verkauf nur noch fünf Tage hätte laufen sollen.
Selbst verschuldet war der Niedergang des Unternehmens keineswegs, vielmehr konnte Heinrich Bialystock als erfolgreicher Kaufmann gelten. Schon sein Vater Mortka Mendel Bialystock war als Textilkaufmann erfolgreich gewesen, der Sohn tat es ihm gleich. Dabei spezialisierte sich Bialystock auf „Partiewaren“, so die zeitgenössische Bezeichnung für unansehnliche oder unmoderne Ware, die zu günstigen Preisen angeboten werden konnte.
Steter Aufstieg in Bremen
Seit seiner Ankunft in Bremen hatte sich Heinrich Bialystock kontinuierlich verbessert. In seinen frühen Jahren betrieb er laut Adressbuch noch als Trödler ein Geschäft für Partiewaren an der Nordstraße 148 in Walle, 1920 eröffnete er dann schon ein Herrenkonfektionsgeschäft an der Doventorstraße 13. Im Februar 1926 schließlich der Höhepunkt seiner Tätigkeit mit der Geschäftseröffnung am Brill. Damit war die Familie Bialystock gleich doppelt in Bremen vertreten, unterhielt doch der Vater erst ein Garderoben- und Schuhwarengeschäft an der Rüdesheimer Straße in der Neustadt, später ganz in der Nähe seines Sohns ebenfalls ein Herrenkonfektionsgeschäft namens „Anzug-Engel“ an der Faulenstraße.
Wieso Bialystock sein Geschäft „Adler“ nannte, ist nicht ganz klar. Darauf gibt auch Michael Cochu in seinem sonst sehr kenntnisreichen und detaillierten Stolpersteine-Beitrag über Heinrich Bialystock keine Antwort. Ein gleichnamiges Traditionsgeschäft hat Bialystock offenbar nicht übernommen, vielleicht gefiel ihm der Klang. Das Ehepaar Bialystock bewohnte mit den beiden Kindern Martin und Miriam das erste Stockwerk, das zweite war an eine Witwe vermietet.
Bereits in der alten Heimat hatte die Familie Bialystok eine Vorliebe fürs Deutsche gehabt, die Einbürgerung im Januar 1932 muss ihr erschienen sein wie die Krönung des bisherigen Lebenswegs. Die Beurteilung in einem Polizeibericht von 1930 klingt wie die Aufzählung urdeutscher Tugenden: „Ordentlicher Lebenswandel, fleißig, strebsam, solide.“
Deutsche Staatsbürgerschaft wieder entzogen
Umso ernüchternder die zunehmenden Repressionen nach der NS-Machtübernahme nur ein Jahr nach der Einbürgerung. Im Februar 1934 wurde der Familie die deutsche Staatsbürgerschaft schon wieder entzogen. Endgültig vorbei war es mit aller Hoffnung, als Heinrich Bialystock 1936 unter fadenscheinigen Gründen zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Der Vorwurf: Er habe unerlaubt parteiamtliche Uniformen verkauft. Dabei ging es um zwei kurze schwarze Hosen, die als HJ-Zubehör gewertet wurden – allerdings auch von Organisationen der jüdischen Jugendbewegung getragen wurden.
Nach seinem Gefängnisaufenthalt wurde Bialystock unverzüglich in Schutzhaft genommen und erst im Juni 1938 wieder entlassen – mit der Auflage, sich als Staatenloser binnen 48 Stunden außer Landes zu begeben. Seine Frau Franja blieb mit den Kindern vorerst zurück, wollte aber nach Belgien nachkommen.
Notgedrungen ging sie nun daran, das Geschäft abzuwickeln. Der Ausverkauf begann, verlief aber äußerst schleppend, weil gelbe Aufschriften den Betrieb als „Jüdisches Geschäft“ brandmarkten. Diese Situation machte sich das benachbarte C & A-Kaufhaus zunutze und riss sich das Bialystock-Haus im September 1938 für einen Spottpreis unter den Nagel – eine Ironie der Geschichte, dass sich die SA-Leute streng genommen an deutschem Eigentum vergingen.
Skrupelloses C & A-Geschäftsgebaren
Als „besonders drastisches Beispiel“ des C & A-Geschäftsgebarens während der NS-Zeit wertet eine Firmengeschichte von 2011 den Kauf des Nachbarhauses. Positiv immerhin, dass C & A seine wenig schmeichelhafte Vergangenheit nicht unter den Teppich kehrt. Anders als derzeit die Logistikfirma Kühne + Nagel, die sich beharrlich weigert, sich zu ihrer Verstrickung in NS-Unrecht zu bekennen.
Ein traumatisches Erlebnis brachte die mörderische Pogromnacht für den damals 15-jährigen Martin Bialystock. Weil die jüdischen Männer verschleppt waren, musste er mit einem weiteren Jugendlichen auf dem Jüdischen Friedhof in Hastedt zwei der fünf jüdischen Mordopfer begraben: Heinrich Rosenblum und Selma Zwienicki.
Gegen Jahresende 1938 flüchteten er und seine Schwester in die Niederlande, die Mutter verließ Bremen im Februar 1939. Im gleichen Monat wurde die Firma Adler aus dem Firmenregister gestrichen. Den Holocaust überlebte nur Martin Bialystock, heute lebt er 93-jährig in der Nähe von Tel Aviv in Israel. In den vergangenen Jahren besuchte er sogar Bremen, um die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten. Seine engsten Familienangehörigen – Vater, Mutter und Schwester – wurden 1942 in Auschwitz ermordet, das gleiche Schicksal erlitt 1943 der nach Frankreich geflohene Großvater.
von Frank Hethey