Vor 80 Jahren: Der spätere Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel verlässt Bremen / Als Hauptkriegsverbrecher ein Erfüllungsgehilfe Hitlers

Fast unangemessen sentimental wirkt Wilhelm Keitels Bekenntnis, als Soldat sei er nie so glücklich gewesen wie in Bremen. Ziemlich genau ein Jahr lang war der spätere Generalfeldmarschall 1934/35 an der Weser stationiert. Sein Auftrag: Aufbau einer neuen Division. Gegen seine Versetzung ins Reichskriegsministerium wehrte er sich mit Händen und Füßen. Wollte er doch ohnehin viel lieber sein bäuerliches Gut am Harz verwalten, lieber Landwirt sein als Soldat. Ein Biedermann, der sich als OKW-Chef mit Leib und Seele seinem bewunderten „Führer“ Adolf Hitler verschrieb. 

Von Bremen war Wilhelm Keitel sehr angetan. Er habe sich „recht gut eingelebt und wohlgefühlt“, ließ der spätere Generalfeldmarschall in seinen Lebenserinnerungen wissen. Zwar bemängelte er, selbst für hochrangige Militärs sei es nur durch besondere Beziehungen möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Doch das änderte nichts an seinem positiven Gesamteindruck: „Der Offizier achtete den Kaufmann und seine Mentalität, und der Kaufmann hatte seit dem Ersten Weltkrieg über den Offizier anders zu denken gelernt.“

Als Hitlers getreuer Erfüllungsgehilfe ist Keitel zu zweifelhaftem Ruhm gelangt. Durch seine Tätigkeit als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) war er an leitender Stelle mitverantwortlich für schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dafür wurde er als Hauptkriegsverbrecher im Oktober 1946 in Nürnberg zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Doch wer weiß schon, dass auch Bremen zu seinen Stationen zählte? Genau ein Jahr lang, von Oktober 1934 bis Oktober 1935, weilte der damalige Generalmajor als ranghöchster Soldat in der Hansestadt. Zusammen mit seiner Frau Lisa wohnte er in der Dienstvilla der Wehrmacht an der Horner Heerstraße 23. Eben jener Villa, die erst kürzlich durch den verschwundenen Stolperstein zur Erinnerung an Hans Graf von Sponeck erneut ins Rampenlicht gerückt ist. Vor bald 80 Jahren, am 11. September 1935, neigte sich das Bremer Intermezzo durch seine Ernennung zum Chef des Wehrmachtsamts im Reichskriegsministerium dem Ende entgegen. Ein Datum, das sogar Eingang fand in die Bremen-Chronik von Fritz Peters.

Keitel wäre gern geblieben

Dabei wäre Keitel gern geblieben. „Ich war sehr unglücklich, daß meine Zeit als Divisionskommandeur, in der ich mich eingelebt hatte und so wohl fühlte, schon nach einem Jahr zu Ende gehen sollte“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Wie bereits im Jahr zuvor überlegte Keitel, die Gelegenheit zu nutzen und seinen Abschied zu nehmen. Fühlte er sich doch eigentlich nicht zum Soldaten berufen, sein Lebenstraum war vielmehr ein Dasein als Landwirt. „Meine Frau war bald dafür, bald dagegen“, so Keitel über die häuslichen Debatten. Am Ende ließ er den Dingen nach gutem Zureden seiner Gattin dann doch ihren Lauf. Nicht zuletzt, weil er sich durch die „offensichtliche Anerkennung“ geschmeichelt fühlte.

Von Oktober 1934 bis Oktober 1935 war Wilhelm Keitel hier zu Hause: die damalige Dienstvilla der Wehrmacht an der Horner Heerstraße 23.
Foto: Frank Hethey

Nur über Keitel als prominenten Einwohner Bremens zu berichten, kann indessen nicht das einzige Ziel historischer Recherche sein. Einen verurteilten Kriegsverbrecher wird man mit einem anderen Maß messen müssen. Darum soll es in diesem Beitrag auch um Keitels Rolle im Machtgefüge des NS-Staats gehen. Um seine Verantwortung ebenso wie um seine Sozialisierung und seine Haltung in entscheidenden Momenten.

Es ist fast tragisch, dass Keitel nie Soldat hatte werden wollen. Viel lieber hätte er den bäuerlichen Gutsbetrieb in Helmscherode übernommen, einem kleinen Dorf am Westrand des Harz. In seinen Erinnerungen kommt er immer wieder darauf zurück. Und sicher nicht nur, um nach Entschuldigungen zu suchen. Doch weil sein Vater sich zu jung fürs Altenteil fühlte, musste sich Keitel nach einer Alternative umsehen. Eine Karriere beim Militär war damals nicht unüblich für Gutsbesitzersöhne. Gleichwohl sprach Keitel von einem „Kompromiss“, nur vorläufig wollte er auf seinen Lebenstraum verzichten.

Die Militärlaufbahn als Kompromiss

Also eine militärische Laufbahn in der preußischen Armee solange sein Vater das Gut führte. Nach seinem Eintritt im März 1901 machte Keitel zügig Karriere, seit 1915 diente er als Generalstabsoffizier. In den Jahren der Weimarer Republik hatte er das Glück, in der 100.000 Mann-Heer der Reichswehr Verwendung zu finden – größer durfte das Kontingent nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht sein. Nahtlos dann auch der Übergang in die neuen Verhältnisse nach der NS-Machtübernahme im Januar 1933.

Wie viele führende Militärs setzte Keitel auf eine Rückkehr Deutschlands in den Kreis der Großmächte. Er sei „direkt begeistert von Hitler“, berichtete seine Frau im Juli 1933.

Mit dem Tod seines Vaters im Mai 1934 trat dann der Erbfall ein – endlich doch noch Aussicht auf den Traumberuf als Landwirt. Den letzten Anstoß, tatsächlich den Absprung zu wagen, gab seine anstehende Versetzung von Potsdam ins niederschlesische Liegnitz. Da spielte es auch keine Rolle mehr, dass er erst im April zum Generalmajor befördert worden war. „Von Liegnitz bis Helmscherode über 500 km“, registrierte er entsetzt. Zu weit, um die Oberaufsicht des Agrarbetriebs vernünftig wahrnehmen zu können. Weshalb Keitel im Juli 1934 um seine Verabschiedung zum 1. Oktober bat.

Es scheint, als hätte es Keitel wirklich ernst gemeint. Das begriffen auch seine Vorgesetzten, die ihm kurzerhand drei Einsatzorte in relativer Nähe zum Familiengut als Alternative anboten: Hannover, Bremen oder Münster. „Hannover lehnte ich sofort ab, weil meine Frau das Klima nicht verträgt“, so Keitel. Nach einer gewissen Bedenkzeit entschied er sich für Bremen, das freilich schon anderweitig vergeben war. Doch da wollte Keitel nicht mitmachen. „Ich beharrte aber auf Bremen und erklärte rundweg, ich wolle, wenn Bremen jetzt wieder ausscheide, auf jeden Fall abgehen.“

Treu ergeben: Auf seinen Führer ließ Wilhelm Keitel nichts kommen.
Bildvorlage: Wikicommons/Bundesarchiv Koblenz

In Bremen „größten Spaß“ gehabt 

Bekanntlich bekam er seinen Willen und damit die Gelegenheit, in Bremen eine neue Division aus dem Boden zu stampfen: Aufbauarbeit im Vorfeld der schon lange geplanten Wiedererlangung der Wehrhoheit im März 1935. Für Keitel war das eine Aufgabe so recht nach seinem Geschmack. Es habe ihm „größten Spaß“ gemacht, so der Wortlaut in seinen Erinnerungen, „denn ich war endlich selbständig und konnte nicht nur befehlen, sondern formen und organisieren, wie ich es haben wollte“.

Auch abseits der Militärmaschinerie fand Keitel rasch Anschluss. Den Weg in die „bessere Gesellschaft“ ebnete General Paul von Lettow-Vorbeck, der viel gepriesene „Held von Deutsch-Ostafrika“. Der alternde, aber immer noch sehr agile Kolonialkämpfer hatte stets ein offenes Ohr für seinesgleichen, sein Haus an der Colmarer Straße war ein wichtiger gesellschaftlicher Treffpunkt. Auch das Ehepaar Keitel verkehrte bei ihm.

Seitenlang äußert sich Keitel in seinen Erinnerungen über seine Tätigkeit in Bremen. Dabei erlaubt er sich auch ein paar Seitenhiebe auf unliebsame Zeitgenossen. Zum Beispiel auf den Regierenden Bürgermeister Otto Heider: einen Nationalsozialisten, „der aus dem Tapeziererhandwerk hervorgegangen war“. Eine Dünkelhaftigkeit, die ihm bei Hitler, der noch nicht einmal einen Beruf erlernt hatte, nicht einfiel. Kaum weniger gnädig sein Urteil über einen Untergebenen, den „durch Stalingrad und seinen Landesverrat bekannt gewordenen v. Seydlitz-Kurzbach“.

Keine moralischen Skrupel

Ein politischer Mensch ist Keitel trotz seiner bedingungslosen „Führer-Hörigkeit“ nie gewesen. Hitler selbst betrachtete ihn nicht als Führungsfigur, sondern als Befehlsempfänger, als seinen „willigen Vollstrecker“. Eine Aufgabe, der Keitel ohne Bedenken nachkam. Befehle befolgte er, moralische Skrupel plagten ihn nicht. Weder bei der Weisung, die polnische Elite auszumerzen noch bei der Durchsetzung des berüchtigten Kommissarbefehls als probates Mittel „gegen die Juden, die Hauptträger des Bolschewismus“.

Nach eigenem Bekunden begehrte Keitel nur ein einziges Mal gegen Hitler auf. Und zwar als es um die Frontverwendung von Prinzen aus vormals regierenden Fürstenhäusern ging. Hitler lehnte das aus Furcht vor schlechter Presse im Todesfalle ab. „Ich fand es beschämend“, so Keitel. Absonderlich anmutende Maßstäbe im Vergleich zu seinen sonstigen Weisungen.

Bei alledem ist es geradezu bestürzend, wie wenig Selbstachtung Keitel im Umgang mit Hitler an den Tag legte. Ungeahnte Verbreitung fand sein überschwängliches Lob von Hitlers vermeintlicher Feldherrnbegabung nach dem Sieg über Frankreich: Den Ausruf, für ihn sei Hitler „der größte Feldherr aller Zeiten“ verkürzte der Volksmund wenig respektvoll zu „Gröfaz“. Auch eine Verballhornung seines eigenen Namens musste Keitel ertragen. Wegen seiner eilfertigen Unterwürfigkeit kombinierten Offizierskreise das übel beleumundete „Lakai“ mit Keitel zu „Lakeitel“. Ein durchaus zutreffender Wortwitz.

Ein Eingeweihter war er schon in seinem Bremer Jahr nicht. Von der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der damit einhergehenden Umwandlung der Reichswehr in die Wehrmacht wurde Keitel nach eigenem Bekunden „völlig überrascht“. Auch später als OKW-Chef saß Keitel nie an den Schalthebeln der Macht, sondern immer nur in ihrem Vorzimmer.

Das darf man ruhig wörtlich nehmen.

Auf dem Höhepunkt der Österreich-Krise im Februar 1938 befand sich Keitel auf dem Obersalzberg, als Hitler den österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg bearbeitete. Als der dem Anschluss nicht ohne weiteres zustimmen wollte, befahl Hitler Keitel zu sich. „Als ich Hitlers Arbeitszimmer betrat, das Schuschnigg gerade verließ, sagte Hitler auf meine Frage, was er befehle: ‚Gar nichts! Setzen Sie sich’.“ Mit anderen Worten: Keitel wurde nur gebraucht als Personifizierung der Wehrmacht. Als unmissverständliche Drohung, notfalls mit Gewalt vorzugehen. Bezeichnenderweise empfand Keitel das nicht als taktlos oder erniedrigend. Sondern nur als Beweis der Genialität Hitlers.

Ein Biedermann des Bösen

In seinen Erinnerungen beteuert Keitel, der Posten als OKW-Chef sei eine schwere persönliche Belastung gewesen. Mit seinem Amtsantritt im Februar 1938 habe er aufgehört, ein freier Mann zu sein. Für die Familie habe er keine Zeit mehr gehabt, immer habe er Hitler zur Verfügung stehen müssen. Ohne Zweifel merkwürdig anmutende Klagen angesichts des allgemeinen Leids im Zweiten Weltkrieg. Und doch ungemein bezeichnend für das Gemütsempfinden Keitels. In seinen persönlichen Aufzeichnungen wirkt er wie ein Biedermann. Als jemand, der die „Banalität des Bösen“ ebenso verkörpert wie Adolf Eichmann. Zumal Keitel kein Karrierist gewesen ist. Keiner, der von Ehrgeiz zerfressen gewesen wäre.

Im Angesicht des Todes: Wilhelm Keitel ohne Rangabzeichen 1946 im Nürnberger Gefängnis.
Bildvorlage: Wikicommons/Bundesarchiv Koblenz

Da war Bremen doch eine ganz andere Welt. Eine Idylle, in der ihm niemand in die Quere kam. Und die in zumutbarer Entfernung seines Guts am Harz lag. Wenigstens alle 14 Tage konnte Keitel in Helmscherode nach dem Rechten sehen. Eine geradezu optimale Lösung, weil „ich mich drei Tage lang selbst beurlauben durfte“.

Kein Wunder, dass er sich mit Händen und Füßen wehrte, als er im August 1935 von seiner geplanten Versetzung ins Reichskriegsministerium erfuhr. Seine Erinnerung im Rückblick: „Ich war sehr betroffen und verlieh dem offen Ausdruck.“ Seinen Vorgesetzten flehte er an, „alles zu versuchen, um das zu verhindern“. Denn: Er habe sich „noch nie so glücklich als Soldat gefühlt, wie als Divisionskommandeur in Bremen, und wolle mit der Politik nichts zu tun haben“.

Doch es kam anders. Einsichtig ist Keitel nicht gewesen, zu seiner persönlichen Verantwortung hat er sich nie bekannt. Wohl aber in seinem Schlusswort im Nürnberger Prozess eingestanden, dass auch soldatische Pflichterfüllung eine Grenze habe. Sein letzter Wunsch nach einem „ehrenvollen Soldatentod“ durch die Kugel wurde nicht erfüllt. Wilhelm Keitel starb am 16. Oktober 1946 durch den Strang.

von Frank Hethey 

In Bremen fühlte sich der damalige Generalmajor Wilhelm Keitel so wohl wie nie wieder als Soldat. Die Aufnahme zeigt ihn auf der Bürgerweide beim Schmücken der alten 75er Bataillonsfahnen mit den Ehrenkreuzen. Im Hintergrund ist rechts der Parkbahnhof zu sehen, die Bäume gehören zum Bürgerpark. Bildvorlage: www.historic.de, Militärgeschichte Bremen und Umland 1933-1945

In Bremen fühlte sich der damalige Generalmajor Wilhelm Keitel so wohl wie nie wieder als Soldat. Die Aufnahme zeigt ihn auf der Bürgerweide beim Schmücken der alten 75er Bataillonsfahnen mit den Ehrenkreuzen. Im Hintergrund ist rechts der Parkbahnhof zu sehen, die Bäume gehören zum Bürgerpark. Bildvorlage: www.historic.de, Militärgeschichte Bremen und Umland 1933-1945

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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